[215] Denisow ließ dem Tambour Schnaps und Hammelfleisch geben und ihm einen russischen Kaftan anziehen, da er beabsichtigte, ihn nicht mit den anderen Gefangenen wegzuschicken, sondern bei der Freischar zu behalten. Aber Petjas Aufmerksamkeit wurde von dem Knaben durch die Ankunft Dolochows abgelenkt. Petja hatte bei der Armee viel von Dolochows Tapferkeit und Grausamkeit den Franzosen gegenüber erzählen hören, und daher blickte er, seit Dolochow in die Stube getreten war, unverwandt zu ihm hin und nahm eine immer forschere Haltung an, indem er mit dem hochgereckten Kopf zuckte, um auch einer solchen Gesellschaft, wie es die Dolochows war, nicht unwürdig zu erscheinen.
Dolochows Äußeres überraschte ihn in eigentümlicher Weise durch seine Einfachheit.
Denisow trug einen Kosakenrock, einen Vollbart, und auf der Brust ein Bild des heiligen Nikolaus des Wundertäters, und seine Art zu reden und sein gesamtes Benehmen entsprachen durchaus[215] der Besonderheit seiner Lage. Dolochow dagegen, der früher einmal in Moskau persische Tracht getragen hatte, sah jetzt ganz wie der eleganteste Gardeoffizier aus. Sein Gesicht war sauber rasiert; er trug einen wattierten Gardeuniformrock mit dem Georgskreuz im Knopfloch und eine einfache, gerade aufgesetzte Uniformmütze. Er legte in einer Ecke der Stube seinen nassen Filzmantel ab, trat dann, ohne jemand zu begrüßen, zu Denisow und begann sogleich, sich nach dem geplanten Unternehmen zu erkundigen. Denisow erzählte ihm von den Absichten, die die großen Korps auf diesen Transport hätten, und von Petjas Sendung, und was er den beiden Generalen geantwortet habe. Dann erzählte Denisow alles, was er über die Lage der französischen Abteilung wußte.
»Nun ja. Aber wir müssen wissen, wieviel Truppen und was für Truppen es sind«, sagte Dolochow. »Es ist notwendig, daß jemand hinreitet. Ohne genau zu wissen, wie viele es sind, dürfen wir uns nicht in einen Kampf einlassen. Ich verfahre gern sorgsam. Also, will nicht jemand von den Herren mit mir in ihr Lager reiten? Die nötigen Uniformen habe ich bei mir.«
»Ich, ich ... ich reite mit Ihnen!« rief Petja.
»Es ist ganz und gar nicht nötig, daß du hinreitest«, sagte Denisow, zu Dolochow gewendet. »Und nun gar den hier lasse ich unter keinen Umständen hin.«
»Aber das wäre ja ganz arg!« rief Petja. »Warum soll ich denn nicht hinreiten?«
»Weil gar kein Grund dazu vorhanden ist.«
»Ich glaube, Sie wollen mich nicht reiten lassen, weil ich ... weil ich ... Aber ich reite hin, Punktum. Wollen Sie mich mitnehmen?« fragte er Dolochow.
»Warum nicht?« antwortete Dolochow zerstreut; er blickte gerade in diesem Augenblick dem französischen Tambour ins[216] Gesicht. »Hast du dieses Bürschchen schon lange?« fragte er Denisow.
»Er wurde heute gefangengenommen; aber er weiß nichts zu sagen. Ich habe ihn bei mir behalten.«
»Na, und die übrigen? Was fängst du mit denen an?« fragte Dolochow.
»Was ich mit denen anfange? Ich schicke sie mit einem zu quittierenden Begleitschein weg«, rief Denisow und wurde auf einmal ganz rot im Gesicht. »Ich kann dreist sagen, daß ich kein Menschenleben auf meinem Gewissen habe. Macht es dir denn soviel Mühe, dreißig oder dreihundert Menschen mit Eskorte nach der Stadt zu schicken, daß du lieber, ich sage es geradeheraus, die Soldatenehre befleckst?«
»Dem jungen Gräflein hier mit seinen sechzehn Jahren würde es wohl anstehen, solche humane Phrasen zu machen«, erwiderte Dolochow mit kaltem Spott. »Aber du solltest doch über dergleichen schon hinaus sein.«
»Aber ich sage ja gar nichts; ich sage nur, daß ich unter allen Umständen mit Ihnen mitreite«, bemerkte Petja schüchtern.
»Für mich und dich aber, Bruder, ist es wirklich Zeit, uns von diesem Humanitätsdusel freizumachen«, fuhr Dolochow fort, der ein besonderes Vergnügen darin zu finden schien, über diesen Gegenstand zu sprechen, über den Denisow in Aufregung geriet. »Na, und diesen hier, warum hast du den zu dir genommen?« sagte er, den Kopf hin und her wiegend. »Wohl weil er dir leid tut? Wir kennen ja deine zu quittierenden Begleitscheine. Hundert Mann schickst du ab, und dreißig kommen an. Sie sterben vor Hunger oder werden totgeschlagen. Ist es da nicht ganz dasselbe, wenn man sie gar nicht erst mitnimmt?«
Der Jesaul kniff seine hellen Augen zusammen und nickte beifällig mit dem Kopf.[217]
»Freilich ist es dasselbe; darüber ist nicht zu streiten«, erwiderte Denisow. »Aber ich mag es nicht auf mein Gewissen nehmen. Du sagst, sie sterben. Na gut. Aber sie sollen nicht durch meine Schuld sterben.«
Dolochow lachte auf.
»Sie hätten ja auch ihrerseits mich schon zwanzigmal gefangennehmen können. Und wenn sie uns gefangennehmen, mich und dich mit deiner Ritterlichkeit, so hängen sie uns einen wie den andern ohne Unterschied auf.« Er schwieg ein Weilchen. »Aber nun müssen wir uns ans Werk machen. Schickt mir meinen Kosaken mit dem Bündel her. Ich habe zwei französische Uniformen mit. Nun, reitest du mit mir?« fragte er Petja.
»Ich? Ja, ja, unbedingt!« rief Petja tief errötend und warf dabei einen Blick nach Denisow.
Auch jetzt wieder hatte Petja, während Dolochow mit Denisow darüber stritt, was man mit den Gefangenen tun müsse, ein Gefühl der Unbehaglichkeit gehabt; aber es war ihm wieder nicht gelungen, recht zu verstehen, wovon sie sprachen. »Wenn große, angesehene Männer so denken, so wird es so wohl notwendig und gut sein«, dachte er. »Aber vor allen Dingen darf Denisow nicht zu glauben wagen, er könne mir befehlen und ich sei sein gehorsamer Untergebener. Unter allen Umständen reite ich mit Dolochow in das französische Lager. Was er kann, kann ich auch!«
Auf alle Ermahnungen Denisows, den Ritt zu unterlassen, antwortete Petja, auch er sei gewöhnt, in allem sorgsam zu verfahren und nicht so aufs Geratewohl, und denke nie an Gefahr für seine eigene Person.
»Denn das werden Sie ja selbst zugeben müssen: wenn man nicht genau weiß, wieviel da sind ... Davon hängt vielleicht das Leben von Hunderten ab, und wir sind unser nur zwei. Und[218] dann habe ich die größte Lust dazu. Und ich reite unbedingt mit, unbedingt. Suchen Sie mich nicht mehr zurückzuhalten«, sagte er, »das bestärkt mich nur in meinem Entschluß ...«