IX

[219] Mit französischen Mänteln und Tschakos ausstaffiert, ritten Dolochow und Petja nach jenem Durchhau, von welchem aus Denisow das Lager in Augenschein genommen hatte, und dann, als sie aus dem Wald herausgekommen waren, in den Grund hinunter. Unten angelangt, befahl Dolochow den Kosaken, die ihn begleiteten, dort zu warten, und ritt in starkem Trab den Weg entlang zur Brücke hin. Petja, vor Aufregung seiner selbst kaum mächtig, ritt neben ihm.

»Wenn wir gefaßt werden, so ergebe ich mich nicht lebendig; ich habe eine Pistole«, flüsterte Petja.

»Sprich nicht russisch«, flüsterte Dolochow schnell zurück, und in demselben Augenblick erscholl in der Dunkelheit der Anruf: »qui vive?«, und der Hahn eines Gewehres knackte.

Das Blut stieg Petja ins Gesicht, und er griff nach seiner Pistole.

»Lanciers vom sechsten Regiment«, antwortete Dolochow, ohne den Gang seines Pferdes zu beschleunigen oder zu verlangsamen.

Auf der Brücke stand die schwarze Gestalt einer Schildwache.

»Die Parole!«

Dolochow hielt das Pferd zurück und ritt im Schritt.

»Sagen Sie doch, ist Oberst Gérard hier?« fragte er.

»Die Parole!« sagte die Schildwache noch einmal, ohne auf die Frage zu antworten, und vertrat ihnen den Weg.

»Wenn ein Offizier seine Runde macht, fragen die Schildwachen[219] nicht nach der Parole ...«, rief Dolochow, plötzlich auffahrend, und ritt auf die Schildwache los. »Ich frage Sie, ob der Oberst hier ist.«

Und ohne die Antwort des beiseite tretenden Postens abzuwarten, ritt Dolochow im Schritt bergan.

Als er den schwarzen Schatten eines quer über den Weg gehenden Menschen bemerkte, hielt Dolochow diesen Menschen an und fragte ihn, wo der Kommandeur und die Offiziere seien. Der Mann, ein Soldat mit einem Sack auf der Schulter, blieb stehen, trat nahe an Dolochows Pferd heran, berührte es mit der Hand und erzählte schlicht und freundlich, der Kommandeur und die Offiziere seien weiter oben auf der Anhöhe, rechts, auf dem Hof der Ferme, wie er das Gutshaus nannte.

Sie verfolgten den Weg weiter, wobei sie auf beiden Seiten von den Wachfeuern her französische Gespräche hörten. Dann bog Dolochow in den Hof des Gutshauses ein. Nachdem er das Tor passiert hatte, stieg er vom Pferd und näherte sich einem großen, hell lodernden Wachfeuer, um welches herum eine Anzahl von Menschen saßen, die in lauter Unterhaltung begriffen waren. In einem Kessel kochte etwas, und ein Soldat, in einem blauen Mantel und mit einer Zipfelmütze, kniete, vom Feuer hell beleuchtet, davor und rührte darin mit einem Ladestock.

»Ach, das ist ein zähes Tier; das wird gar nicht weich zu kriegen sein«, sagte einer der Offiziere, die auf der gegenüberliegenden Seite des Wachfeuers im Schatten saßen.

»Er wird die Kaninchen schon Mores lehren« (eine französische Redensart), sagte ein anderer lachend.

Beide verstummten und spähten in die Dunkelheit hinein, als sie das Geräusch der Schritte Dolochows und Petjas vernahmen, die mit ihren Pferden auf das Wachfeuer zukamen.[220]

»Guten Abend, meine Herren!« sagte Dolochow laut und deutlich.

Die Offiziere im Schatten hinter dem Wachfeuer kamen in Bewegung, und einer von ihnen, ein Mann von hohem Wuchs, mit langem Hals, ging um das Feuer herum und trat auf Dolochow zu.

»Sind Sie es, Clément?« fragte er. »Wo kommen Sie denn her, hol Sie ...« Aber er sprach nicht zu Ende, da er seinen Irrtum gewahr wurde, begrüßte nun, leise die Stirn runzelnd, Dolochow wie einen Unbekannten und fragte ihn, womit er ihm dienen könne.

Dolochow erzählte, er und sein Kamerad suchten ihr Regiment wieder einzuholen, und fragte, indem er sich an alle zusammen wandte, ob die Offiziere nicht etwas vom sechsten Regiment wüßten. Niemand wußte etwas, und es kam Petja so vor, als ob die Offiziere anfingen ihn und Dolochow mit feindseligen, argwöhnischen Blicken zu betrachten. Einige Sekunden lang schwiegen alle.

»Wenn Sie auf die Abendsuppe gerechnet haben, so sind Sie zu spät gekommen«, sagte eine Stimme hinter dem Wachfeuer hervor mit verhaltenem Lachen.

Dolochow antwortete, sie seien satt und müßten noch in der Nacht weiterreiten. Er gab die Pferde an den Soldaten ab, der im Kessel rührte, und kauerte sich bei dem Wachfeuer neben dem Offizier mit dem langen Hals hin. Dieser Offizier blickte Dolochow unverwandt an und fragte ihn noch einmal, von welchem Regiment er wäre. Dolochow antwortete nicht, als ob er die Frage nicht gehört hätte, rauchte ein kurzes französisches Pfeifchen an, das er aus der Tasche geholt hatte, und fragte die Offiziere darüber aus, in welchem Maße die vor ihnen liegende Straße vor Kosaken sicher sei.[221]

»Diese Räuber sind überall«, antwortete ein Offizier hinter dem Wachfeuer hervor.

Dolochow bemerkte, die Kosaken seien nur für solche Nachzügler, wie er und sein Kamerad, zu fürchten; größere Abteilungen zu überfallen würden die Kosaken ja wohl nicht wagen, fügte er in fragendem Ton hinzu. Niemand antwortete etwas darauf.

»Nun, jetzt wird er doch endlich aufbrechen«, dachte Petja, der bei dem Wachfeuer stand und das Gespräch mit anhörte, jeden Augenblick. Aber Dolochow nahm das abgebrochene Gespräch wieder auf und erkundigte sich geradezu, wieviel Mann bei ihnen in jedem Bataillon seien, wieviel Bataillone sie hätten und wieviel Gefangene. Als er nach den russischen Gefangenen fragte, die bei der Abteilung waren, sagte er:

»Ein widerwärtiges Geschäft, diese Leichname hinter sich her zu schleppen. Das beste wäre, die ganze Bande totzuschießen.« Und er schlug ein lautes, so sonderbares Gelächter auf, daß Petja meinte, die Franzosen würden nun sofort den Betrug erkennen, und unwillkürlich einen Schritt vom Wachfeuer zurücktrat.

Niemand antwortete auf Dolochows Worte und auf sein Lachen, und ein französischer Offizier, dessen Gesicht bisher nicht zu sehen gewesen war (er lag in seinen Mantel eingemummt da), richtete sich halb auf und flüsterte einem Kameraden etwas zu. Dolochow stand auf und rief den Soldaten mit den Pferden.

»Ob wohl die Pferde gebracht werden oder nicht?« dachte Petja und trat unwillkürlich näher an Dolochow heran.

Die Pferde wurden gebracht.

»Adieu, meine Herren«, sagte Dolochow.

Petja wollte gleichfalls Adieu sagen, vermochte aber keine Silbe herauszubringen. Die Offiziere sprachen flüsternd miteinander.[222] Dolochow hatte lange damit zu tun, auf sein Pferd hinaufzukommen, das nicht stand; dann ritt er im Schritt aus dem Tor hinaus. Petja ritt hinter ihm her; gern hätte er sich umgedreht, um zu sehen, ob die Franzosen ihnen nachliefen oder nicht; aber er wagte es nicht.

Als die auf die Landstraße gekommen waren, ritt Dolochow nicht zurück aufs Feld, sondern die Straße entlang durch das Dorf. An einer Stelle hielt er an und horchte. »Hörst du?« sagte er. Petja erkannte die Klänge russischer Stimmen und erblickte neben einigen Wachfeuern die dunklen Gestalten der russischen Gefangenen. Dann ritten Dolochow und Petja zu der Brücke hinab und an der Schildwache vorüber, die, ohne ein Wort zu sagen, mürrisch auf der Brücke umherging, und gelangten in den Grund, wo die Kosaken sie erwarteten.

»Nun, jetzt lebe wohl. Bestelle an Denisow: beim Morgengrauen, beim ersten Schuß«, sagte Dolochow und wollte davonreiten; aber Petja griff mit der Hand nach ihm und hielt ihn fest.

»Nein!« rief er. »Was sind Sie für ein Held! Ach, wie prächtig, wie herrlich das alles ist! Wie liebe ich Sie!«

»Gut, gut«, sagte Dolochow.

Aber Petja ließ ihn nicht los, und Dolochow bemerkte in der Dunkelheit, daß Petja sich zu ihm hinbog. Er wollte ihn küssen. Dolochow küßte ihn, lachte auf, wandte sein Pferd und verschwand in der Dunkelheit.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 219-223.
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