XIV

[253] »Nun, wie steht's? Ist deine Prinzessin nett? Nein, Bruder, meine im rosa Kleid ist ein entzückendes Wesen; sie heißt Dunjascha ...«

Aber hier warf Iljin einen Blick auf Rostows Gesicht und verstummte. Er sah, daß sein Held und Vorgesetzter sich in einer ganz anderen Gemütsverfassung befand.[253]

Rostow sah sich grimmig nach Iljin um und ging, ohne ihm zu antworten, mit schnellen Schritten in der Richtung nach dem Dorf weiter.

»Ich werde es ihnen zeigen, ich werde es ihnen gehörig geben, diesen Räubern!« sagte er vor sich hin.

Alpatytsch konnte mit einer Art von schleifendem Schritt, um nicht geradezu Trab zu laufen, Rostow nur mit Mühe einholen.

»Was haben Sie für einen Entschluß gefaßt?« fragte er, als er ihn erreicht hatte.

Rostow blieb stehen und trat auf einmal mit geballten Fäusten drohend auf Alpatytsch zu.

»Entschluß? Was für einen Entschluß? Alter Dummkopf!« schrie er ihn an. »Warum hast du denn ruhig zugesehen? He? Die Bauern revoltieren, und du verstehst nicht mit ihnen fertigzuwerden? Du bist selbst so ein Verräter! Ich kenne euch; das Fell werde ich euch allen abziehen ...« Und wie wenn er seinen Vorrat an Heftigkeit vorzeitig zu verschwenden fürchtete, ließ er Alpatytsch stehen und ging schnell vorwärts.

Alpatytsch unterdrückte seine Empfindlichkeit über die ihm zugefügte Beleidigung, eilte mit seinem schleifenden Gang hinter Rostow her und begann ihm seine Auffassung der Sachlage auseinanderzusetzen. Er sagte, die Bauern seien so hartnäckig und verstockt, daß es im jetzigen Augenblick unvernünftig sein würde, ihnen schroff entgegenzutreten, wenn man nicht ein Kommando Soldaten zur Verfügung habe; es würde vielleicht das beste sein, vorher ein solches Kommando holen zu lassen.

»Ich werde ihnen ein Kommando Soldaten zeigen! Bin selbst ein Kommando Soldaten! Ich werde ihnen schon schroff entgegentreten!« rief Nikolai wie ein Unsinniger; er konnte kaum atmen vor sinnloser, tierischer Wut und vor dem Verlangen, diese Wut an jemand auszulassen.[254]

Ohne darüber nachzudenken, was er eigentlich tun wollte, ging er ohne weiteres mit schnellem, entschlossenem Schritt auf den Menschenhaufen los. Und je näher er demselben kam, um so stärker wurde bei Alpatytsch das Gefühl, daß dieses unvernünftige Verfahren doch am Ende zu einem guten Resultat führen könne. Dieselbe Empfindung hatten auch die Bauern, als sie Rostows schnellen, festen Gang und entschlossenen, finsteren Gesichtsausdruck wahrnahmen.

Nachdem die Husaren in das Dorf gekommen waren und Rostow sich zu der Prinzessin begeben hatte, war in der Menge Verlegenheit und Zwiespalt entstanden. Einige Bauern hatten gesagt, die Angekommenen seien Russen, und es sei zu befürchten, daß sie sich der Prinzessin annehmen würden, wenn man ihr hinderlich wäre abzureisen. Derselben Ansicht war auch Dron gewesen; aber sowie er sie ausgesprochen hatte, waren Karp und andere Bauern heftig über den bisherigen Dorfschulzen hergefallen.

»So viele Jahre lang hast du die Bauernschaft geschunden und ausgesogen!« hatte ihn Karp angeschrien. »Dir ist ja natürlich alles gleich. Du gräbst deinen Geldkasten aus und nimmst ihn mit weg; was kümmert es dich, ob unsere Häuser zerstört werden oder nicht!«

»Es ist doch Befehl gekommen, es soll alles in Ordnung bleiben, und niemand soll seinen Wohnsitz verlassen; nicht das geringste darf weggeschafft werden. Danach muß es gehen!« hatte ein anderer gerufen.

»Dein Sohn war an der Reihe, Soldat zu werden«, hatte auf einmal ein kleiner Alter, hastig redend, den früheren Dorfschulzen angegriffen. »Aber dein dicker Junge hat dir wohl leid getan, und du hast statt seiner meinem Iwan den Kopf scheren lassen. Na, warte nur, wir werden dich noch einmal vor Gott verklagen!«[255]

»Ja, ja, wir werden dich vor Gott verklagen!«

»Ich habe nie etwas zum Schaden der Bauernschaft getan«, hatte Dron gesagt.

»Nie etwas zum Schaden der Bauernschaft getan! Einen Bauch hast du dir angemästet!«

Auch die beiden betrunkenen langen Bauern hatten in ihrer Weise mit hineingeredet.

Sobald sich Rostow, von Iljin, Lawrenti und Alpatytsch begleitet, der Menge näherte, trat Karp heraus und ihm entgegen; er hatte die Finger in seinen Gurt gesteckt und lächelte leise. Dron dagegen zog sich in die hinteren Reihen zurück, und der Haufe schloß sich dichter zusammen.

»He! Wer ist hier bei euch der Dorfschulze?« rief Rostow, schnellen Schrittes auf die Menge zugehend.

»Der Dorfschulze? Was wollen Sie von dem ...?« fragte Karp.

Aber er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als ihm die Mütze auf die Erde flog und ihm der Kopf infolge des starken Schlages zur Seite hing.

»Die Mützen herunter, ihr Verräter!« schrie Rostow mit kräftiger Stimme. »Wo ist der Dorfschulze?« schrie er wütend noch einmal.

»Den Dorfschulzen ruft er; er ruft nach dem Dorfschulzen ... Dron Sacharytsch, Sie ruft er!« hörte man hier und dort eilig und kleinlaut sagen, und die Mützen verschwanden von den Köpfen.

»Wir dürfen uns doch nicht gegen den hohen Befehl, der gekommen ist, auflehnen; wir müssen auf Ordnung halten«, sagte Karp, und im gleichen Augenblick ließen sich einige Stimmen aus dem Hintergrund vernehmen:

»Was die Alten beschlossen haben, das tun wir. Was haben wir mit euch Offizieren zu schaffen?«[256]

»Räsonieren wollt ihr? Rebellion! Ihr Räuber, ihr Verräter!« brüllte Rostow wütend mit entstellter Stimme und packte Karp am Kragen. »Bindet ihn, bindet ihn!« schrie er, obgleich niemand da war, der ihn hätte binden können, als Lawrenti und Alpatytsch.

Lawrenti indessen lief zu Karp hin und faßte ihn von hinten bei den Armen.

»Befehlen Sie, unsere Leute vom Berg herzurufen?« rief er.

Alpatytsch wandte sich an die Bauern und rief zwei von ihnen mit Namen auf, mit dem Auftrag, Karp zu binden. Die Bauern traten gehorsam aus dem Haufen heraus und banden ihre Gürtel ab.

»Wo ist der Dorfschulze?« rief Rostow.

Dron trat mit finsterem, blassem Gesicht aus dem Haufen heraus.

»Du bist der Dorfschulze? Binde ihn, Lawrenti!« rief Rostow, als ob auch dieser Befehl auf kein Hindernis stoßen könnte.

Und wirklich machten sich noch zwei Bauern daran, Dron zu binden, der, als ob er ihnen behilflich sein wollte, seinen Gürtel abband und ihnen hinreichte.

»Hört mal alle zu, was ich sage!« wandte sich Rostow an die Bauern. »Sofort marsch nach Hause mit euch, und daß ich keinen Ton mehr von euch höre!«

»Na aber, wir haben doch niemandem etwas zuleide getan! Wir haben ja doch nur aus Dummheit ... Wir haben bloß eine Torheit begangen ... Ich habe gleich gesagt, daß sich das nicht gehörte«, redeten die Bauern, die nun einander wechselseitig Vorwürfe machten.

»Seht ihr wohl, ich habe euch gewarnt!« sagte Alpatytsch, der wieder in die Rechte seines Amtes eintrat. »Das war nicht hübsch von euch, Kinder!«[257]

»Wir haben's ja nur aus Dummheit getan, Jakow Alpatytsch!« antworteten mehrere, und die Menge begann sogleich auseinanderzugehen und sich im Dorf zu verteilen.

Die beiden gebundenen Bauern wurden in das Gutsgebäude gebracht. Die beiden Betrunkenen gingen hinter ihnen her.

»Na ja, da sieht man, wie es dir bekommen ist!« sagte einer von ihnen, zu Karp gewendet.

»Darf man denn aber auch so zu der Herrschaft sprechen? Was war denn das für ein Einfall von dir? Du Dummkopf!« stimmte ihm der andere bei. »Ein rechter Dummkopf bist du, wahrhaftig!«

Zwei Stunden darauf standen die Wagen auf dem Hof des Gutshauses von Bogutscharowo; die Bauern trugen eifrig die Sachen der Herrschaft heraus und verluden sie auf die Wagen, und Dron, der auf den Wunsch der Prinzessin Marja aus dem Verschlag, in den man ihn eingesperrt hatte, herausgelassen war, stand auf dem Hof und gab den Bauern dabei Anweisungen.

»Lege sie nicht so schlecht hin«, sagte einer der Bauern, ein großer Mensch mit rundem, lächelndem Gesicht, der aus den Händen eines Stubenmädchens eine Schatulle in Empfang genommen hatte und sie nun mit einem andern Bauern zusammen verpackte. »Sie hat ja doch auch ein schönes Stück Geld gekostet. Wenn du sie so schmeißt, das verträgt sie nicht, und so unter dem Strick, da scheuert sie sich. So etwas kann ich nicht leiden. Es muß alles ehrlich und nach der Ordnung zugehen. Siehst du, so, unter die Matte, und nun decke noch Heu darüber; so ist es gut!«

»Seht mal, Bücher und Bücher!« sagte ein anderer Bauer, der die Bibliotheksschränke des Fürsten Andrei mit heraustrug. »Stoß nicht an! Aber die haben ein Gewicht, Kinder; das sind mal tüchtige Bücher!«

»Ja, wer die geschrieben hat, der muß fleißig zu Hause gesessen[258] haben!« bemerkte mit bedeutsamem Blinzeln der große Bauer mit dem runden Gesicht, indem er auf die obenauf liegenden Lexika wies.


Rostow, der der Prinzessin seine Bekanntschaft nicht aufdrängen wollte, ging nicht weiter zu ihr, sondern blieb im Dorf und wartete dort auf ihre Abfahrt. Sobald die Wagen der Prinzessin Marja aus dem Tor des Gutshauses herausfuhren, setzte sich Rostow zu Pferd und begleitete sie so bis zu dem von unseren Truppen besetzten Weg, fünfzehn Werst von Bogutscharowo. In Jankowo, im Herbergshaus, nahm er von ihr respektvoll Abschied und erlaubte sich zum erstenmal ihr die Hand zu küssen.

»Aber ich bitte Sie«, antwortete er errötend auf die Danksagungen der Prinzessin Marja für ihre Rettung (wie sie seine Tat nannte). »Jeder Landreiter hätte dasselbe getan. Wenn wir nur mit Bauern zu kämpfen hätten, so hätten wir die Feinde nicht so weit ins Land hineinkommen lassen«, sagte er, sich beschämt fühlend und bemüht, das Gespräch auf einen andern Gegenstand zu bringen. »Ich bin glücklich darüber, daß ich Gelegenheit gehabt habe, Sie kennenzulernen. Leben Sie wohl, Prinzessin; ich wünsche Ihnen Glück und Trost und würde mich freuen, wenn ich Ihnen später einmal unter glücklicheren Verhältnissen wiederbegegnen sollte. Wenn Sie mich nicht zum Erröten zwingen wollen, so bitte danken Sie mir nicht.«

Aber wenn ihm die Prinzessin auch nicht mehr mit Worten dankte, so dankte sie ihm durch den ganzen Ausdruck ihres von Erkenntlichkeit und innigem Gefühl strahlenden Gesichtes. Sie konnte ihm nicht glauben, daß sie keinen Anlaß hätte, ihm zu danken. Im Gegenteil war es ihr unzweifelhaft, daß, wenn er nicht gewesen wäre, ihr durch die aufrührerischen Bauern und[259] durch die Franzosen das Verderben sicher gewesen sei, und daß er, um sie zu retten, sich den augenscheinlichsten, furchtbarsten Gefahren ausgesetzt habe; und noch weniger zweifelhaft war ihr, daß er ein Mann von hochherziger, edler Gesinnung war, der ihre Lage und ihren Kummer zu würdigen verstand. Seine guten, ehrlichen Augen, die sich mit Tränen gefüllt hatten, als sie, selbst weinend, mit ihm von ihrem Verlust sprach, kamen ihr nicht aus dem Sinn.

Als sie von ihm Abschied genommen hatte und allein geblieben war, fühlte sie auf einmal Tränen in ihren Augen, und es drängte sich ihr, nicht mehr zum erstenmal, die Frage auf, ob sie nicht etwa diesen Mann liebe.

Dunjascha, die mit der Prinzessin in demselben Wagen saß, bemerkte bei der Weiterfahrt nach Moskau mehrmals, daß die Prinzessin, obwohl ihre Lage keineswegs eine erfreuliche war, den Kopf aus dem Wagenfenster heraussteckte und wehmütig und zugleich freudig lächelte.

»Nun, was tut es, wenn ich ihn auch wirklich liebe?« dachte Prinzessin Marja.

Wie sehr sie sich auch schämte, es sich einzugestehen, daß sie ihrerseits zuerst einen Mann liebgewonnen habe, der ihre Liebe vielleicht nie erwidern werde, so tröstete sie sich doch mit dem Gedanken, daß ja niemand etwas davon erfahren werde, und daß sie ja nichts Böses tue, wenn sie bis zum Ende ihres Lebens, ohne jemandem etwas davon zu sagen, den Mann liebe, dem als dem ersten und einzigen sich ihre Neigung zugewendet habe.

Sie mußte an seine teilnahmsvollen Blicke und Worte denken, und dann schien es ihr mitunter nicht unmöglich, daß sie noch einmal glücklich werden könne. Das waren die Augenblicke, in denen Dunjascha bemerkte, daß sie lächelnd aus dem Wagenfenster blickte.[260]

»Und daß er nach Bogutscharowo kommen mußte, und gerade in einem solchen Augenblick!« dachte Prinzessin Marja. »Und daß seine Schwester sich von dem Fürsten Andrei lossagen mußte!« Und in alledem sah Prinzessin Marja den Willen der Vorsehung.

Der Eindruck, den Prinzessin Marja auf Rostow gemacht hatte, war ein sehr angenehmer. Sooft er sich an sie erinnerte, wurde ihm fröhlich zumute, und wenn die Kameraden, die von seinem Abenteuer in Bogutscharowo gehört hatten, ihn neckten, er sei nach Heu ausgeritten und habe sich eines der reichsten heiratsfähigen Mädchen Rußlands gefischt, so wurde er ärgerlich. Er wurde namentlich deswegen ärgerlich, weil der Gedanke an eine Heirat mit der sanften Prinzessin Marja, die ihm so gut gefiel und ein so gewaltiges Vermögen besaß, ihm wider seinen Willen schon mehrmals durch den Kopf gegangen war. Für sich persönlich konnte Nikolai gar keine bessere Frau wünschen als Prinzessin Marja; auch würde die Gräfin, seine Mutter, über diese Heirat glücklich sein, da auf diese Weise die Verhältnisse seines Vaters in Ordnung kommen würden; und endlich würde sogar (das fühlte Nikolai) auch Prinzessin Marja dadurch glücklich werden.

Aber Sonja? Und sein Wort, das er ihr gegeben hatte? Und eben dies war der Grund, weswegen sich Rostow ärgerte, wenn er mit der Prinzessin Bolkonskaja geneckt wurde.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 253-261.
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