XVI

[271] »Nun, jetzt ist alles erledigt«, sagte Kutusow, nachdem er das letzte Schriftstück unterschrieben hatte. Er erhob sich schwerfällig, reckte die Falten seines dicken, weißen Halses zurecht und schritt mit heiter gewordenem Gesicht auf die Tür zu.

Die Popenfrau, der alles Blut ins Gesicht gestiegen war, griff nach ihrer Schüssel, die sie, trotzdem alles schon so lange vorbereitet war, bisher immer noch nicht hatte überreichen können. Mit einer tiefen Verneigung bot sie sie Kutusow dar.

Dieser kniff die Augen zusammen, lächelte, faßte die Popenfrau unter das Kinn und sagte:

»Was für eine schöne Frau! Danke, mein Täubchen!«

Er holte aus der Hosentasche einige Goldstücke und legte sie auf die Schüssel. »Nun, wie geht es dir?« fragte er sie und begab sich nach der für ihn eingerichteten guten Stube. Die Popenfrau lächelte, so daß die Grübchen auf ihren roten Bäckchen sichtbar wurden, und ging hinter ihm her in die Stube. Der Adjutant kam zum Fürsten heraus auf die Freitreppe und lud ihn zum Frühstück ein; nach einer halben Stunde wurde Fürst Andrei wieder zu Kutusow gerufen. Kutusow hatte noch denselben aufgeknöpften Rock an und lag auf einem Lehnstuhl. In der Hand hielt er ein französisches Buch, das er beim Eintritt des Fürsten[271] Andrei, nachdem er das Papiermesser als Zeichen hineingelegt hatte, zumachte. Es waren »Die Schwanenritter« von Madame de Genlis, wie Fürst Andrei auf dem Umschlag las.

»Nun, setz dich, setz dich hierher; wir wollen noch miteinander reden«, sagte Kutusow. »Es ist traurig, sehr traurig. Aber vergiß nicht, mein Lieber, daß ich dir ein Vater bin, ein zweiter Vater ...«

Fürst Andrei erzählte Kutusow alles, was er von dem Tod seines Vaters wußte und was er in Lysyje-Gory gesehen hatte, als er durchkam.

»So weit ... so weit haben sie es gebracht!« stieß Kutusow plötzlich aufgeregt hervor; augenscheinlich machte er sich nach der Erzählung des Fürsten Andrei ein klares Bild von dem Zustand, in dem sich Rußland befand.

»Wartet nur, laßt mir nur Zeit!« fügte er mit ingrimmigem Gesichtsausdruck hinzu; und offenbar in dem Wunsch, dieses Gespräch, das ihn aufregte, nicht fortzusetzen, sagte er: »Ich habe dich gerufen, um dich bei mir zu behalten.«

»Ich danke Euer Durchlaucht«, antwortete Fürst Andrei. »Aber ich fürchte, daß ich nicht mehr für den Stab tauge.« Er sagte das mit einem Lächeln, welches Kutusow nicht entging.

»Die Hauptsache ist«, fügte Fürst Andrei hinzu, »ich habe mich an das Regiment gewöhnt, ich habe meine Offiziere liebgewonnen, und es scheint auch, daß die Leute mich gern haben. Es würde mir leid tun, wenn ich das Regiment verlassen müßte. Wenn ich auf die Ehre verzichte, in Ihrer näheren Umgebung zu bleiben, so wollen Sie überzeugt sein ...«

Ein kluger, gutherziger und zugleich fein spöttischer Ausdruck leuchtete auf Kutusows dickem Gesicht auf. Er unterbrach Bolkonski.[272]

»Es tut mir leid; ich hätte dich gern bei mir gehabt; aber du hast recht, ganz recht. Hier können wir Männer der Tat nicht brauchen. Ratgeber gibt es immer in Mengen, aber Männer der Tat nicht. Die Regimenter würden anders beschaffen sein, wenn all die vielen Ratgeber so bei den Regimentern dienten wie du. Ich erinnere mich deiner von Austerlitz her. Ich erinnere mich, ich erinnere mich an dich, wie du die Fahne nahmst«, sagte Kutusow, und ein freudiges Erröten überzog das Gesicht des Fürsten Andrei bei dieser Erinnerung.

Kutusow zog ihn am Arm zu sich heran und hielt ihm die Wange zum Kuß hin, und wieder sah Fürst Andrei in den Augen des alten Mannes Tränen. Obgleich Fürst Andrei wußte, daß Kutusow überhaupt leicht weinte, und daß seine besondere Freundlichkeit und Zärtlichkeit gegen ihn aus dem Wunsch hervor ging, Teilnahme für seinen Verlust zu zeigen, so war ihm diese Erinnerung an Austerlitz doch angenehm und schmeichelhaft.

»Geh mit Gott deinen Weg. Ich weiß, dein Weg wird der Weg der Ehre sein.« Er schwieg einen Augenblick. »Es tat mir leid, daß ich dich in Bukarest nicht bei mir behalten konnte; ich mußte dich fortschicken.« Und den Gesprächsgegenstand wechselnd begann Kutusow vom türkischen Krieg und vom Friedensschluß mit der Türkei zu reden. »Ja, es sind mir nicht wenig Vorwürfe gemacht worden«, sagte er, »sowohl wegen des Krieges als auch wegen des Friedensschlusses ... aber es ist alles zur rechten Zeit geschehen. Alles kommt rechtzeitig für den, der zu warten versteht.« (Er zitierte dieses Sprichwort französisch.) »Ratgeber aber gab es auch dort nicht weniger als hier«, fuhr er fort, indem er auf die Ratgeber zurückkam, ein Gegenstand, der ihn offenbar lebhaft beschäftigte. »O die Ratgeber, die Ratgeber!« sagte er. »Wenn ich auf die alle hätte hören wollen, so hätten wir dort in der Türkei weder Frieden geschlossen noch den Krieg gut beendet.[273] Immer soll es recht schnell gehen; aber das Schnelle stellt sich gerade als das Langsame heraus. Wenn Kamenski nicht gestorben wäre, so wäre er zugrunde gegangen. Er stürmte mit dreißigtausend Mann Festungen. Eine Festung zu nehmen ist nicht schwer; schwer ist's dagegen, einen Feldzug zu gewinnen. Dazu aber ist es nicht nötig, zu stürmen und zu attackieren; sondern dazu sind nur Geduld und Zeit erforderlich. Kamenski schickte gegen Rustschuk Soldaten; ich brachte nur diese beiden Mittel, Geduld und Zeit, zur Anwendung und habe doch mehr Festungen genommen als Kamenski und habe die Türken dahin gebracht, daß sie Pferdefleisch aßen.« Er wiegte den Kopf hin und her. »Und das werden die Franzosen auch tun; verlaß dich auf mein Wort!« rief Kutusow in starker Erregung und schlug sich gegen die Brust. »Ich werde sie dahin bringen, daß sie Pferdefleisch essen.« Seine Augen hatten sich wieder mit Tränen überzogen.

»Aber eine Schlacht anzunehmen wird doch notwendig sein?« fragte Fürst Andrei.

»Wenn es alle wollen, dann wird es wohl notwendig werden; da ist dann eben nichts zu machen ... Aber glaube mir, mein Lieber: es gibt nichts Stärkeres als diese beiden Streiter: Geduld und Zeit; die bringen alles zustande. Aber die sind nicht nach dem Geschmack der Ratgeber; das ist das Malheur. Und was die einen wollen, das wollen die andern wieder nicht. Was soll man da machen?« fragte er, offenbar eine Antwort erwartend. »Ja, was würdest du anordnen?« fragte er noch einmal, und aus seinem Auge leuchtete tiefer, klarer Verstand. »Ich will dir sagen, was man tun muß«, redete er weiter, da Fürst Andrei trotzdem nicht antwortete. »Ich werde dir sagen, was man tun muß und was ich tun werde. Wenn du Bedenken hast, mein Lieber« (hier schwieg er einen Augenblick), »so halte dich zurück«, sagte er wieder mit einem französischen Sprichwort. »Nun lebe wohl,[274] lieber Freund; vergiß nicht, daß ich von ganzem Herzen an deinem Verlust teilnehme und daß ich für dich nicht der Durchlauchtige, nicht der Fürst und nicht der Oberkommandierende bin, sondern ein Vater. Wenn du etwas wünschst, so wende dich direkt an mich. Lebe wohl, mein Lieber!«

Er umarmte und küßte ihn noch einmal. Fürst Andrei war noch nicht aus der Tür hinaus, als Kutusow einen Seufzer der Erleichterung ausstieß und wieder nach dem angefangenen Roman der Madame Genlis, »Die Schwanenritter«, griff.

Wie es zuging und woher es kam, das konnte sich Fürst Andrei nicht erklären; aber nach diesem Gespräch mit Kutusow kehrte er zu seinem Regiment zurück mit einem Gefühl der Beruhigung hinsichtlich des allgemeinen Ganges der Dinge und hinsichtlich des Mannes, dem die Oberleitung anvertraut war. Je mehr er sich von dem Fehlen jedes persönlichen Momentes bei diesem alten Mann überzeugte, bei dem gewissermaßen statt der Leidenschaften nur die gewohnheitsmäßigen Formen der Leidenschaften und statt des Verstandes, der die Ereignisse gruppiert und daraus Schlüsse zieht, nur die Fähigkeit einer ruhigen Beobachtung des Ganges der Ereignisse geblieben war, um so beruhigter war er darüber, daß alles so geschehen werde, wie es geschehen müsse. »Er wird nichts Eigenes leisten: keine neuen Ideen, keine großartigen Unternehmungen«, dachte Fürst Andrei; »aber er wird alles anhören, sich alles einprägen, alles an den richtigen Platz stellen, nichts Nützliches verhindern und nichts Schädliches zulassen. Er versteht, daß es etwas Stärkeres, Größeres gibt als seinen Willen, nämlich den unhemmbaren Gang der Ereignisse; und er versteht, sie zu sehen, ihre Bedeutsamkeit zu erkennen und angesichts dieser Bedeutsamkeit auf ein Mitwirken bei diesen Ereignissen und auf einen persönlichen, andere Ziele verfolgenden Willen zu verzichten. Die Hauptsache[275] aber«, dachte Fürst Andrei, »weswegen man ihm Vertrauen schenken kann, ist, daß er ein Russe ist, trotz des Romans der Genlis und trotz der französischen Sprichwörter, und daß seine Stimme zitterte, als er sagte: ›So weit haben sie es gebracht!‹ und daß er zu schluchzen anfing, als er davon sprach, daß er sie dahin bringen werde, Pferdefleisch zu essen.«

Ebenso wie Fürst Andrei urteilten über Kutusow alle, wenn auch großenteils nur in sehr unklarer Weise, und auf dieser Beurteilung beruhte auch die einmütige und allgemeine Billigung, welche die dem Wunsch des Volkes entsprechende, den höfischen Anschauungen zuwiderlaufende Wahl Kutusows zum Oberkommandierenden fand.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 271-276.
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