[297] Am 25. August morgens fuhr Pierre aus Moschaisk fort. Auf dem Weg, der aus der Stadt einen steilen Berg hinab an einer rechtsstehenden Kirche vorbeiführte, in welcher zum Gottesdienst geläutet und Messe gehalten wurde, stieg Pierre aus dem Wagen und ging zu Fuß. Hinter ihm kam ein Kavallerieregiment, die Sänger voran, den Berg herunter; ihm entgegen zog eine Reihe von Bauernwagen mit Verwundeten von dem gestrigen Kampf bergan. Die bäuerlichen Fuhrleute liefen, die Pferde anschreiend und mit den Peitschen schlagend, von einer Seite nach der andern. Die Wagen, auf deren jedem drei bis vier verwundete Soldaten lagen und saßen, fuhren stuckernd über die Steine, die, auf den steilen Weg hingeworfen, eine Art Pflaster bildeten. Die mit Lappen verbundenen Verwundeten, blasse Gestalten mit zusammengepreßten Lippen und finster zusammengezogenen Augenbrauen, wurden in den Wagen heftig in die Höhe geschleudert und umhergeworfen und suchten sich an den Wagenleitern zu halten. Fast alle betrachteten mit naiver, kindlicher Neugier Pierres weißen Hut und grünen Frack.
Pierres Kutscher schrie ärgerlich die Fuhrleute des Zuges mit den Verwundeten an, sie sollten sich an einer Seite des Weges halten. Das Kavallerieregiment mit den Sängern, das den Berg herunterkam, näherte sich dem Wagen Pierres und verengte den Weg. Pierre blieb stehen und drückte sich ganz an den Rand des Weges, der hier in den Berg hineingegraben war. Die Sonne, die den Abhang des Berges erleuchtete, reichte mit ihren Strahlen nicht in die Tiefe des Hohlweges hinein; hier war es kalt und feucht; aber über Pierres Haupt breitete sich der helle Augustmorgen aus, und heiter erklang das Glockengeläute. Ein Wagen[298] mit Verwundeten machte am Rand des Weges dicht neben Pierre halt. Der Fuhrmann lief in seinen Bastschuhen keuchend von vorn zu seinem Wagen zurück und schob Steine unter die ungeschienten Hinterräder; dann machte er sich daran, das Geschirr seines stillstehenden Pferdchens in Ordnung zu bringen.
Ein alter verwundeter Soldat mit verbundener Hand, der hinter dem Wagen herging, faßte den Wagen mit seiner heilen Hand an und betrachtete Pierre.
»Nun, wie ist's, Landsmann? Werden wir hier einquartiert werden? Wie? Oder müssen wir noch bis Moskau?« fragte er.
Pierre war so in seine Gedanken versunken, daß er die Frage nicht verstand. Er blickte bald nach dem Kavallerieregiment hin, das jetzt dem Wagenzug der Verwundeten begegnete, bald nach jenem Wagen, neben dem er stand und auf dem zwei Verwundete saßen und ein dritter lag, und es schien ihm, daß hier, bei diesen Leuten, die Lösung der Frage, die ihn beschäftigte, vorliege.
Einer der beiden Soldaten, die auf dem Wagen saßen, war augenscheinlich an der Backe verwundet. Sein ganzer Kopf war mit Lappen umwickelt und die eine Backe zur Größe eines Kinderkopfes angeschwollen. Mund und Nase waren ihm ganz zur Seite geschoben. Dieser Soldat blickte nach der Kirche hin und bekreuzte sich. Der zweite, ein junger Bursche, Rekrut, blondhaarig und so weiß, als ob er überhaupt kein Blut in seinem schmalen Gesicht hätte, blickte Pierre mit einem starren, gutmütigen Lächeln an. Der dritte lag mit dem Rücken nach oben da; sein Gesicht war nicht zu sehen. Die Kavalleriesänger zogen dicht neben dem Wagen vorüber:
»Liebes Mädchen, ach, wie gerne
Küßt' ich deinen roten Mund;
Doch du weilst in weiter Ferne ...«,
sangen sie ein Soldatentanzlied.[299]
Und wie eine Begleitstimme, aber in einer andern Art von Fröhlichkeit, mischte sich in den Gesang der metallische Klang des Geläutes von oben her. Und wieder in einer anderen Art von Fröhlichkeit übergossen die warmen Sonnenstrahlen den oberen Teil des gegenüberliegenden Abhangs. Aber am Fuß der Böschung, bei dem Wagen mit den Verwundeten, neben dem keuchenden Pferdchen, bei welchem Pierre stand, war es feucht, dunkel und traurig.
Der Soldat mit der geschwollenen Backe warf den Kavalleriesängern einen ärgerlichen Blick zu.
»Ach, diese Gecken!« sagte er vorwurfsvoll.
»Heute habe ich nicht nur Soldaten, sondern auch Bauern bei den Truppen gesehen! Auch die Bauern müssen jetzt mit«, sagte der Soldat, der hinter dem Bauernwagen stand, indem er sich mit einem trüben Lächeln an Pierre wandte. »Jetzt wird kein Unterschied gemacht ... Mit dem ganzen Volk will man über sie herfallen; mit einem Wort: Moskau. Man will ein Ende machen.«
So unklar dies auch klang, so verstand Pierre doch alles, was der Soldat sagen wollte, und nickte zustimmend mit dem Kopf.
Der Weg war nun wieder frei geworden; Pierre ging weiter bis an den Fuß des Berges, stieg dann wieder auf und setzte seine Fahrt fort.
Während der Fahrt hielt er nach beiden Seiten des Weges Ausschau und suchte nach bekannten Gesichtern, erblickte aber überall nur unbekannte Angehörige verschiedener Waffengattungen, die mit gleichmäßiger Verwunderung seinen weißen Hut und grünen Frack musterten.
Nachdem er ungefähr vier Werst gefahren war, traf er den ersten Bekannten und begrüßte ihn erfreut. Es war dies ein höherer Militärarzt. Er kam in einer Britschke, auf der neben ihm[300] noch ein junger Kollege saß, Pierre entgegengefahren und ließ, sobald er Pierre erkannte, den Kosaken, der als Kutscher auf dem Bock saß, anhalten.
»Graf! Euer Erlaucht! Wie kommen Sie hierher?« fragte der Arzt.
»Nun, ich wollte mir die Sache einmal ansehen ...«
»Ja, ja, zu sehen wird es schon etwas geben ...«
Pierre stieg aus, trat zu dem gleichfalls ausgestiegenen Arzt und knüpfte ein Gespräch mit ihm an, indem er ihm seine Absicht, an der Schlacht teilzunehmen, auseinandersetzte.
Der Arzt riet ihm, sich direkt an den Durchlauchtigen zu wenden.
»Warum wollen Sie sich während der Schlacht an irgendeiner obskuren Stelle herumdrücken?« sagte er, nachdem er mit seinem jungen Kollegen einen Blick gewechselt hatte. »Der Durchlauchtige kennt Sie ja doch und wird Sie freundlich aufnehmen. Also machen Sie es nur so, bester Freund«, sagte der Arzt.
Der Arzt schien sehr müde zu sein und es sehr eilig zu haben.
»Wenn Sie meinen ... Noch eins wollte ich Sie fragen: wo ist denn eigentlich unsere Position?« fragte Pierre.
»Unsere Position?« erwiderte der Arzt. »Das schlägt nicht in mein Fach. Fahren Sie durch Tatarinowa hindurch; da wird an irgend etwas Großem gegraben. Steigen Sie da auf den Hügel: von da werden Sie schon alles sehen.«
»Von da sieht man es? Wenn Sie die Güte hätten ...«
Aber der Arzt unterbrach ihn und trat wieder zu seiner Britschke.
»Ich würde Sie gern hinbringen; aber bei Gott, ich stecke so weit in der Arbeit« (er zeigte auf seine Kehle); »ich muß schleunigst zum Korpskommandeur. Es ist bei uns eine tolle Wirtschaft ... Sie wissen, Graf, morgen wird eine Schlacht geliefert; auf unsere hunderttausend Mann sind mindestens zwanzigtausend Verwundete zu rechnen. Und unsere Tragbahren, Betten, Heilgehilfen[301] und Ärzte reichen nicht für sechstausend. Bauernwagen haben wir ja zehntausend; aber es ist doch auch sonst manches nötig. Da muß ich mich tüchtig tummeln.«
Pierre fühlte sich von dem seltsamen Gedanken erschüttert, daß von jenen Tausenden lebensfrischer, gesunder, junger und alter Menschen wahrscheinlich zwanzigtausend dazu bestimmt waren, verwundet oder getötet zu werden, vielleicht viele gerade von denen, die er gesehen hatte und die mit heiterer Verwunderung seinen Hut betrachtet hatten.
»Sie werden vielleicht morgen sterben; warum denken sie an etwas anderes als an den Tod?« sagte er zu sich selbst. Und durch irgendwelche geheime Gedankenverknüpfung traten ihm der Abstieg von dem Berg bei Moschaisk und die Bauernwagen mit den Verwundeten und das Glockenläuten und die schrägen Strahlen der Sonne und der Gesang der Kavalleristen lebhaft vor die Seele.
»Die Kavalleristen ziehen in die Schlacht und begegnen einer Menge von Verwundeten und denken auch nicht einen Augenblick an das, was ihrer wartet, sondern reiten vorbei und blinzeln den Verwundeten mit den Augen zu. Zwanzigtausend Mann unserer Truppen sind dazu bestimmt, verwundet oder getötet zu werden; und doch wundern sie sich noch über meinen Hut! Seltsam!« So dachte Pierre, während er nach Tatarinowa weiterfuhr.
Vor dem Gutshaus, links von der Heerstraße, standen Equipagen, Packwagen, Schildwachen und eine Menge Offiziersburschen. Hier war das Quartier des Durchlauchtigen. Aber als Pierre ankam, war der Durchlauchtige nicht anwesend, auch fast niemand von den Stabsoffizieren. Sie waren alle bei einem Bittgottesdienst. Pierre fuhr weiter nach Gorki.
Als er auf die Anhöhe kam, auf der das Dorf lag, und in die kleine Dorfgasse hineinfuhr, erblickte er zum erstenmal bäuerliche[302] Landwehrleute, mit Kreuzen an den Mützen, in weißen Hemden; unter lautem Reden und Lachen verrichteten sie schweißbedeckt, aber mit großer Munterkeit, rechts von der Heerstraße an einem großen, mit Gras bewachsenen Hügel eine Arbeit.
Einige von ihnen stachen mit Spaten Erde von dem Hügel ab; andere fuhren diese Erde in Schubkarren auf Bohlen weg; wieder andere standen dabei, ohne etwas zu tun.
Zwei Offiziere standen auf dem Hügel und gaben ihnen die erforderlichen Anweisungen. Als Pierre diese Bauern erblickte, die offenbar noch an ihrem neuen Soldatenstand ihre Freude hatten, mußte er wieder an die verwundeten Soldaten in Moschaisk denken, und es wurde ihm verständlich, was der Soldat damit gemeint hatte, als er sagte, mit dem ganzen Volk wolle man über sie herfallen. Der Anblick dieser auf dem Schlachtfeld arbeitenden bärtigen Bauern, mit den wunderlich plumpen Stiefeln, den schweißigen Hälsen und den, wenigstens bei manchen, aufgeknöpften schrägen Hemdkragen, aus denen die sonnengebräunte Haut über den Schlüsselbeinen zum Vorschein kam, dieser Anblick wirkte auf Pierre stärker als alles das, was er bisher über den Ernst und die Bedeutsamkeit des gegenwärtigen Augenblicks gesehen und gehört hatte.
Buchempfehlung
Schon der Titel, der auch damals kein geläufiges Synonym für »Autobiografie« war, zeigt den skurril humorvollen Stil des Autors Jean Paul, der in den letzten Jahren vor seiner Erblindung seine Jugenderinnerungen aufgeschrieben und in drei »Vorlesungen« angeordnet hat. »Ich bin ein Ich« stellt er dabei selbstbewußt fest.
56 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro