XXI

[303] Pierre stieg aus seinem Wagen und ging, an den arbeitenden Landwehrleuten vorüber, auf den Hügel hinauf, von dem aus nach der Angabe des Arztes das Schlachtfeld sichtbar sein sollte.

Es war elf Uhr morgens. Die Sonne stand etwas links hinter Pierre und beleuchtete in der reinen, durchsichtigen Luft hell das gewaltige, einem ansteigenden Amphitheater gleichende Panorama, das vor ihm lag.[303]

In diesem Amphitheater schlängelte sich, es durchschneidend, die große Smolensker Heerstraße nach links hinauf. Sie ging durch ein Dorf mit einer weißen Kirche, das ungefähr fünfhundert Schritt vor dem Hügel und niedriger als dieser lag (dies war Borodino), zog sich unterhalb des Dorfes über eine Brücke und dann bergauf, bergab in Windungen immer höher und höher nach dem Dorf Walujewo, das in einer Entfernung von etwa sechs Werst sichtbar war. Dort hatte Napoleon sein Quartier. Hinter Walujewo verschwand die Straße in dem gelb werdenden Wald am Horizont. In diesem aus Birken und Fichten bestehenden Wald glänzte, rechts von der Richtung der Straße, fern in der Sonne das Kreuz und der Glockenturm des Klosters Kolozkoi. In dieser ganzen bläulichen Ferne, rechts und links vom Wald und von der Straße, waren an verschiedenen Stellen rauchende Wachfeuer und, in unbestimmten Umrissen, Massen unserer und feindlicher Truppen zu sehen. Zur Rechten, am Lauf der Kolotscha und der Moskwa entlang, war das Terrain schluchtenreich und bergig. Zwischen diesen Schluchten wurden in der Ferne das Dorf Bessubowo und näher das Dorf Sacharjino sichtbar. Nach links hin war das Terrain ebener; dort waren Kornfelder, und man sah ein abgebranntes, rauchendes Dorf, Semjonowskoje.

Alles, was Pierre rechts und links sah, hatte so wenig Eigenartiges, daß weder die linke noch die rechte Seite des Terrains völlig der Vorstellung entsprach, die er sich davon gemacht hatte. Überall waren statt des Schlachtfeldes, das er zu sehen erwartet hatte, nur Felder, Wälder, Lichtungen, Truppen, rauchende Wachfeuer, Dörfer, Hügel und Bäche; und soviel er auch suchte und forschte, so vermochte er doch in dieser natürlichen Örtlichkeit keine Position zu finden, ja, er vermochte nicht einmal unsere Truppen von den feindlichen zu unterscheiden.[304]

»Ich muß einen Sachkundigen fragen«, dachte er und wandte sich an einen Offizier, der neugierig seine unmilitärische, große Gestalt betrachtete.

»Gestatten Sie eine Frage«, sagte Pierre zu dem Offizier. »Was ist das hier vorn für ein Dorf?«

»Burdino; oder wie heißt es?« antwortete der Offizier und wandte sich zugleich mit dieser Frage an einen Kameraden.

»Borodino«, erwiderte der andere korrigierend.

Der Offizier, der sich offenbar über die Gelegenheit zu einem Gespräch freute, trat näher an Pierre heran.

»Sind das dort welche von den Unsrigen?« fragte Pierre.

»Ja, und da weiterhin sind auch Franzosen«, antwortete der Offizier. »Da sind sie, da kann man sie sehen.«

»Wo? Wo?« fragte Pierre.

»Man kann sie mit bloßem Auge sehen. Dort!«

Der Offizier wies mit der Hand auf die rauchenden Wachfeuer, die links jenseits des Flusses sichtbar waren, und auf seinem Gesicht zeigte sich jener strenge, ernste Ausdruck, den Pierre auf den Gesichtern vieler gesehen hatte, denen er begegnet war.

»Ah, das sind die Franzosen! Und dort?« Pierre zeigte nach links auf einen Hügel hin, bei dem Truppen sichtbar waren.

»Das sind welche von den Unsrigen.«

»So, so, von den Unsrigen! Und dort?« Pierre wies nach einem andern fernen Hügel mit einem großen Baum hin, neben einem Dorf, das in einer Schlucht sichtbar war. Auch dort rauchten Wachfeuer, und es war etwas Schwarzes zu sehen.

»Das ist wieder er, Bonaparte«, sagte der Offizier. Es war die Schanze von Schewardino. »Gestern war der Hügel noch von uns besetzt, aber jetzt ist er in seinen Händen.«

»Welches ist denn nun eigentlich unsere Position?«

»Unsere Position?« antwortete der Offizier mit einem Lächeln[305] der Befriedigung. »Darüber kann ich Ihnen genaue Auskunft geben, weil ich fast alle unsere Befestigungen angelegt habe. Dort, sehen Sie wohl, ist unser Zentrum bei Borodino, da!« Er zeigte auf das im Vordergrund liegende Dorf mit der weißen Kirche. »Dort ist der Übergang über die Kolotscha. Da, sehen Sie, wo noch in der Niederung die Schwaden von gemähtem Heu liegen, da ist die Brücke. Das ist unser Zentrum. Unsere rechte Flanke ist dort« (er zeigte scharf nach rechts, fern nach einer Schlucht); »dort ist die Moskwa, und da haben wir drei Schanzen gebaut, sehr starke Schanzen. Unsere linke Flanke ...«, hier hielt der Offizier inne. »Sehen Sie, es wird schwer sein, Ihnen das klarzumachen ... Gestern war unsere linke Flanke dort, in Schewardino; sehen Sie, da, wo die Eiche steht; aber jetzt haben wir unsern linken Flügel zurückgenommen; jetzt ist er dort; sehen Sie dort das Dorf und den Rauch; das ist Semjonowskoje. Und dann hier«, er zeigte auf die Rajewski-Schanze. »Aber die Schlacht wird schwerlich dort stattfinden. Daß er seine Truppen hierher über die Kolotscha geführt hat, ist nur ein Täuschungsversuch; er wird wahrscheinlich rechts von der Moskwa herumgehen. Na, mag die Schlacht nun stattfinden, wo es sei: es werden viele von uns morgen beim Sammeln fehlen!«

Ein alter Unteroffizier war während dieser Auseinandersetzung an den Offizier herangetreten und wartete schweigend, bis sein Vorgesetzter aufhören würde zu reden; aber an dieser Stelle unterbrach er ihn, sichtlich unzufrieden mit der letzten Äußerung des Offiziers.

»Es müssen Schanzkörbe geholt werden«, sagte er in sehr ernstem Ton.

Der Offizier schien verlegen zu werden, wie wenn er sich bewußt würde, daß man zwar daran denken dürfe, wieviele morgen fallen würden, daß es aber unangemessen sei, davon zu reden.[306]

»Nun ja, schicke wieder die dritte Kompanie«, erwiderte er hastig.

»Und Sie, was haben Sie denn für eine Stellung? Sie sind doch nicht Arzt?«

»Nein, ich bin ohne äußeren Anlaß hergekommen«, antwortete Pierre.

Damit ging er wieder bergab, an den Landwehrleuten vorbei.

»Ach, diese verdammten Kerle!« sagte der Offizier, der ihm folgte, vor sich hin, hielt sich die Nase zu und lief an den Arbeitenden vorbei.

»Da sind sie ...! Sie bringen sie, sie kommen ... Da sind sie ... sie werden gleich heran sein!« riefen auf einmal viele Stimmen, und Offiziere, Soldaten und Landwehrleute liefen auf der Heerstraße vorwärts.

Von Borodino her stieg eine kirchliche Prozession den Berg hinan. Allen voran marschierte auf der staubigen Straße in Reih und Glied eine Abteilung Infanterie, mit abgenommenen Tschakos, die Gewehre nach unten gekehrt. Hinter der Infanterie ertönte kirchlicher Gesang.

Soldaten und Landwehrleute liefen, Pierre überholend, ohne Kopfbedeckung den Kommenden entgegen.

»Sie bringen das Mütterchen! Unsere Beschützerin ...! Die Iberische Mutter Gottes ...!«

»Das Smolensker Mütterchen!« korrigierte ein anderer.

Die Landwehrleute, sowohl diejenigen, die im Dorf gewesen waren, als auch diejenigen, die an der Batterie gearbeitet und nun schleunigst ihre Spaten hingeworfen hatten, liefen der Prozession entgegen.

Hinter dem Bataillon, das auf der staubigen Straße marschierte, gingen Geistliche in Meßgewändern, ein hochbejahrter Priester in Mönchstracht, die niederen Kirchenbeamten und die Sänger. Hinter ihnen trugen Soldaten und[307] Offiziere ein großes, eingerahmtes Muttergottesbild mit schwarzem Antlitz. Dies war das Muttergottesbild, das aus Smolensk mitgenommen war und seitdem bei der Armee mitgeführt wurde. Hinter und vor dem Bild, ringsherum, auf allen Seiten gingen und liefen Scharen von Soldaten mit entblößten Köpfen und verbeugten sich bis zur Erde.

Als die Prozession oben auf dem Berg angelangt war, machte sie mit dem Bild halt; die Leute, die es auf Handtüchern getragen hatten, wurden abgelöst; die Kirchendiener zündeten die Weihrauchfässer von neuem an, und der Gottesdienst begann. Die heißen Strahlen der Sonne fielen senkrecht von oben herab; ein schwacher, frischer Lufthauch spielte mit den Haaren der entblößten Köpfe und mit den Bändern, mit denen das heilige Bild geschmückt war; der Gesang klang nur leise unter freiem Himmel. Eine gewaltige Menge von Offizieren, Soldaten und Landwehrleuten umringte mit entblößten Häuptern das Bild. Hinter dem zelebrierenden Geistlichen und dem Küster standen auf einem gesäuberten Platz die Personen höheren Ranges. Ein kahlköpfiger General mit dem Georgskreuz am Hals stand gerade hinter dem Rücken des Geistlichen und wartete, ohne sich zu bekreuzen (er war offenbar ein Deutscher), geduldig auf die Beendigung des Bittgottesdienstes, welchen mitanzuhören er für notwendig erachtete, wahrscheinlich um den Patriotismus des russischen Volkes zu steigern. Ein anderer General stand in kriegerischer Haltung da, machte mit der Hand vor der Brust eine schüttelnde Bewegung und blickte sich rings um. Unter diesem Häufchen der Vornehmen erkannte Pierre, der in dem Haufen der Bauern stand, mehrere Bekannte; aber er blickte nicht nach ihnen hin; seine ganze Aufmerksamkeit wurde durch den ernsten Ausdruck der Gesichter bei dieser Schar von Soldaten und Landwehrmännern in Anspruch genommen, die einer wie der andere[308] mit heißer Andacht nach dem Muttergottesbild hinblickten. Sowie die bereits recht müde gewordenen Küster (sie sangen schon das zwanzigste Gebet) matt und gewohnheitsmäßig anstimmten: »Errette deine Knechte aus ihrer Not, Mutter Gottes«, und der Geistliche und der Diakonus einfielen: »Denn wir alle nehmen unsere Zuflucht zu dir, unserem festen Schutz und unserer Fürsprecherin«, da leuchtete auf allen Gesichtern wiederum jenes selbe Bewußtsein der Feierlichkeit des herannahenden Augenblicks, das er unterhalb des Moschaisker Berges und oft nachher auf vielen, vielen Gesichtern, die ihm an diesem Vormittag begegnet waren, gesehen hatte; und immer häufiger wurden die Köpfe gesenkt, die Haare zurückgeschüttelt; immer häufiger erschollen Seufzer und beim Bekreuzen Schläge gegen die Brust.

Die Menge, die das heilige Bild umringte, bildete plötzlich eine Gasse und preßte Pierre zusammen. Es ging jemand auf das Bild zu, wahrscheinlich eine sehr hohe Persönlichkeit, nach der Eile zu urteilen, mit der alle vor ihm zur Seite traten.

Es war Kutusow, der die Position abgeritten hatte; nun kam er, auf dem Rückweg nach Tatarinowa begriffen, zu dem Gottesdienst. Pierre erkannte ihn sogleich an seiner eigenartigen, sich von allen andern unterscheidenden Gestalt.

Einen langen Rock an dem enorm dicken Körper, mit gekrümmtem Rücken, den grauhaarigen Kopf entblößt, mit dem ausgelaufenen, weißen Auge in dem aufgedunsenen Gesicht: so trat Kutusow mit seinem gleitenden, schaukelnden Gang in den Kreis hinein und blieb hinter dem Geistlichen stehen. Er bekreuzte sich mit Bewegungen, die ihm augenscheinlich sehr geläufig waren, berührte mit der Hand die Erde und senkte, schwer seufzend, seinen grauen Kopf. Hinter Kutusow standen Bennigsen und die Suite. Trotz der Anwesenheit des Oberkommandierenden,[309] der die Aufmerksamkeit aller vornehmen Persönlichkeiten auf sich lenkte, beteten die Landwehrleute und Soldaten weiter, ohne auf ihn zu achten.

Als der Gottesdienst zu Ende war, trat Kutusow an das Muttergottesbild heran, ließ sich schwerfällig auf die Knie nieder, beugte sich zur Erde und bemühte sich dann bei seiner Korpulenz und Schwäche lange vergebens wieder aufzustehen. Die Muskeln seines grauen Kopfes zuckten vor Anstrengung. Endlich kam er in die Höhe, küßte in kindlich naiver Weise die Lippen vorstreckend das Bild und verbeugte sich wieder, indem er mit der Hand die Erde berührte. Die Generalität folgte seinem Beispiel, darauf traten die Offiziere und nach ihnen, einander drängend, tretend und stoßend, mit erregten Gesichtern und keuchendem Atem die Soldaten und Landwehrleute heran.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 303-310.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Spitteler, Carl

Conrad der Leutnant

Conrad der Leutnant

Seine naturalistische Darstellung eines Vater-Sohn Konfliktes leitet Spitteler 1898 mit einem Programm zum »Inneren Monolog« ein. Zwei Jahre später erscheint Schnitzlers »Leutnant Gustl" der als Schlüsseltext und Einführung des inneren Monologes in die deutsche Literatur gilt.

110 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon