XXVII

[341] Diesen ganzen Tag, den 25. August, brachte Napoleon, wie seine Geschichtsschreiber berichten, zu Pferde zu, indem er das Terrain besichtigte, die ihm von seinen Marschällen unterbreiteten Pläne kritisierte und seinen Generalen persönlich Befehle erteilte.

Die ursprüngliche Aufstellungslinie der russischen Truppen an der Kolotscha entlang war zerstört, und ein Teil dieser Linie, namentlich die linke Flanke der Russen, war infolge der am 24. erfolgten Wegnahme der Schanze von Schewardino zurückgezogen worden. Dieser Teil der Linie war unbefestigt und nicht mehr durch den Fluß geschützt; auch war es der einzige Teil der russischen Linie, vor dem sich ein einigermaßen offenes, ebenes Terrain ausbreitete. Für jeden Militär und Nichtmilitär war es klar, daß die Franzosen diesen Teil der Linie angreifen mußten. Anscheinend bedurfte es dazu nicht erst umständlicher Überlegungen, nicht einer solchen sorglichen, geschäftigen Tätigkeit von seiten des Kaisers und seiner Marschälle und ganz und gar nicht jener besonderen höheren Eigenschaft, der sogenannten Genialität, die man dem Kaiser Napoleon so gern zuschreibt; aber[341] die Geschichtsschreiber, die dieses Ereignis später geschildert haben, und die Männer, die damals die Umgebung Napoleons bildeten, und er selbst dachten darüber anders.

Napoleon ritt über das Feld hin, betrachtete tiefsinnig die Örtlichkeit und nickte für sich selbst bald befriedigt mit dem Kopf, bald wiegte er ihn zweifelnd hin und her. Den ihn umgebenden Generalen teilte er den tiefsinnigen Gedankengang, der ihn zu seinen Entschlüssen führte, nicht mit; diese bekamen nur die schließlichen Resultate in Form von Befehlen zu hören. Nachdem Napoleon den Vorschlag Davouts, des sogenannten Herzogs von Eggmühl, angehört hatte, die linke russische Flanke zu umgehen, erwiderte er, daß sei nicht erforderlich, ohne seine Gründe für diese Ablehnung anzugeben. Zu dem Vorschlag des Generals Compans dagegen (der die Pfeilschanzen angreifen sollte), seine Division durch den Wald zu führen, erklärte Napoleon seine Zustimmung, obgleich der sogenannte Herzog von Elchingen, d.h. Ney, sich die Bemerkung erlaubte, der Marsch durch den Wald sei gefährlich und könne die Division in Unordnung bringen.

Nachdem Napoleon die Örtlichkeit gegenüber der Schanze von Schewardino gemustert hatte, dachte er eine Zeitlang schweigend nach und bezeichnete dann die Punkte, an denen bis zum folgenden Tag zwei Batterien zur Beschießung der russischen Befestigungen angelegt werden sollten, und die Stellen, wo neben ihnen die Feldartillerie aufgestellt werden sollte.

Nachdem er diese und andere Befehle erteilt hatte, kehrte er in sein Quartier zurück, und unter seinem Diktat wurde die Disposition der Schlacht niedergeschrieben.

Diese Disposition, von der die französischen Geschichtsschreiber mit enthusiastischer Bewunderung und die andern mit großem Respekt reden, lautete folgendermaßen:

»Bei Tagesanbruch eröffnen die beiden neuen Batterien, die[342] während der Nacht in der von dem Herzog von Eggmühl besetzten Ebene angelegt werden, das Feuer auf die beiden gegenüberliegenden feindlichen Batterien.

Gleichzeitig rückt der Chef der Artillerie des ersten Korps, General Pernetti, mit den dreißig Geschützen der Division Compans und allen Haubitzen der Divisionen Dessaix und Friant vor, eröffnet das Feuer und überschüttet die feindliche Batterie mit Granaten. Gegen diese Batterie werden somit operieren:


24Geschütze der Gardeartillerie,

30Geschütze der Division Compans,

8Geschütze der Divisionen Friant und Dessaix.

In Summa 62 Geschütze.


Der Chef der Artillerie des dritten Korps, General Foucher, stellt alle Haubitzen des dritten und achten Korps, zusammen 16, auf den Flanken der Batterie auf, welche Auftrag hat, die links gelegene Befestigung zu beschießen, was gegen diese im ganzen 40 Geschütze ergibt.

General Sorbier hat sich bereitzuhalten, um auf den ersten Befehl mit allen Haubitzen der Gardeartillerie gegen die eine oder die andere Befestigung vorzurücken.

Während der Kanonade schlägt Fürst Poniatowski die Richtung nach dem Dorf Utiza, durch den Wald, ein und umgeht die feindliche Position.

General Compans marschiert durch den Wald, um sich der ersten Befestigung zu bemächtigen.

Nachdem die Schlacht in dieser Weise eingeleitet ist, werden weitere Befehle dem Verhalten des Feindes entsprechend gegeben werden.

Die Kanonade auf dem linken Flügel beginnt, sobald die Kanonade[343] des rechten Flügels gehört wird. Die Schützen der Division Morand und der Divisionen des Vizekönigs eröffnen ein starkes Feuer, sobald sie wahrnehmen, daß der Angriff des rechten Flügels begonnen hat.

Der Vizekönig bemächtigt sich des Dorfes Borodino und geht auf den dortigen drei Brücken hinüber, indem er in gleicher Höhe mit den Divisionen Morand und Gérard marschiert, die unter seinem Oberbefehl die Richtung auf die Redoute nehmen und in die Linie der übrigen Truppen einrücken.

Alles dies muß in guter Ordnung ausgeführt werden (le tout se fera avec ordre et méthode), wobei die in Reserve stehenden Truppen nach Möglichkeit zu schonen sind.

Im kaiserlichen Lager bei Moschaisk, den 6. September 1812.«

Diese recht unklar und verworren abgefaßte Disposition (wenn man es sich erlauben darf, ohne die übliche heilige Scheu vor Napoleons Genialität seinen Anordnungen gegenüberzutreten) enthielt vier Punkte, vier Anordnungen. Keine dieser Anordnungen konnte ausgeführt werden, keine ist ausgeführt worden.

In der Disposition war erstens gesagt, die Batterien, die an der von Napoleon ausgewählten Stelle errichtet werden würden, nebst Pernettis und Fouchers Geschützen, die sich mit ihnen in eine Linie zu stellen hätten, im ganzen 102 Geschütze, sollten das Feuer eröffnen und die russischen Pfeilschanzen und die Redoute mit Geschossen überschütten. Dies konnte nicht ausgeführt werden, da von den Punkten aus, die Napoleon bezeichnet hatte, die Geschosse nicht bis zu den russischen Schanzen hinreichten und diese 102 Geschütze so lange vergeblich feuerten, bis der zunächst befindliche Kommandeur sie gegen Napoleons Befehl vorrücken ließ.[344]

Die zweite Anordnung bestand darin, Poniatowski solle die Richtung nach dem Dorf durch den Wald einschlagen und die linke Flanke der Russen umgehen. Der Grund, weshalb dies nicht ausgeführt werden konnte und nicht ausgeführt wurde, war, daß Poniatowski, als er die Richtung nach dem Dorf durch den Wald einschlug, dort auf Tutschkow stieß, der ihm den Weg versperrte, so daß er die russische Position nicht umgehen konnte und nicht umging.

Die dritte Anordnung war: General Compans marschiert in den Wald, um sich der ersten Befestigung zu bemächtigen. Die Division Compans bemächtigte sich der ersten Befestigung nicht, sondern wurde zurückgeschlagen, weil sie beim Austritt aus dem Wald sich erst unter dem Kartätschenfeuer ordnen mußte, was Napoleon nicht bedacht hatte.

Die vierte Anordnung lautete: Der Vizekönig bemächtigt sich des Dorfes (Borodino) und geht auf den dortigen drei Brücken hinüber, indem er in gleicher Höhe mit den Divisionen Morand und Gérard marschiert (von denen nicht gesagt war, wohin und wann sie sich in Bewegung setzen sollten), die unter seinem Oberbefehl die Richtung auf die Redoute nehmen und in die Linie der übrigen Truppen einrücken. Soviel sich, wenn nicht aus diesem sinnlosen Satz selbst, so doch aus den Versuchen entnehmen läßt, die der Vizekönig unternahm, um die ihm erteilten Weisungen auszuführen, sollte er durch Borodino von links her gegen die Redoute vorrücken und die Divisionen Morand und Gérard gleichzeitig von der Front her. Alles dies kam ebensowenig zur Ausführung wie die übrigen Punkte der Disposition, und konnte auch nicht zur Ausführung kommen. Als der Vizekönig durch Borodino hindurchmarschiert war, wurde er an der Kolotscha zurückgeschlagen und konnte nicht weiter vordringen; und auch die Divisionen Morand und Gérard nahmen die Redoute nicht,[345] sondern wurden zurückgeschlagen, und die Redoute wurde erst gegen Ende der Schlacht von der Kavallerie genommen (ein unerhörtes Ereignis, das Napoleon wohl nicht vorhergesehen hatte).

Somit wurde von den Anordnungen der Disposition keine einzige ausgeführt, und es konnte auch keine ausgeführt werden. In der Disposition war aber noch gesagt, nachdem die Schlacht in dieser Weise eingeleitet sein werde, würden weitere Befehle dem Verhalten des Feindes entsprechend gegeben werden, und daher könnte man glauben, es seien während der Schlacht alle erforderlichen Anordnungen von Napoleon getroffen worden; dies geschah jedoch nicht und konnte nicht geschehen, weil sich Napoleon während der ganzen Dauer der Schlacht so weit von ihr entfernt befand, daß (wie es sich herausstellte) er über den Gang des Kampfes nicht orientiert sein und keine während des Kampfes von ihm getroffene Anordnung ausgeführt werden konnte.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 341-346.
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