XXVIII

[346] Viele Geschichtsschreiber sagen, die Franzosen hätten die Schlacht bei Borodino deshalb nicht gewonnen, weil Napoleon den Schnupfen gehabt habe; hätte er keinen Schnupfen gehabt, so wären seine Anordnungen während der Schlacht noch genialer gewesen, und Rußland wäre zugrunde gegangen, und die Welt hätte ein ganz anderes Gesicht bekommen. Für Geschichtsschreiber, welche behaupten, der Wille eines einzelnen Menschen, Peters des Großen, habe bewirkt, daß sich das russische Reich bildete, und der Wille eines einzelnen Menschen, Napoleons, sei die Ursache davon gewesen, daß Frankreich sich aus einer Republik in ein Kaiserreich verwandelte und die französischen Truppen in Rußland eindrangen, für solche Geschichtsschreiber ist der Schluß von[346] zwingender Beweiskraft, daß Rußland deswegen ein mächtiger Staat geblieben sei, weil Napoleon am 26. August am Schnupfen gelitten habe.

Wenn es von Napoleons Willen abhing, die Schlacht bei Borodino zu liefern oder nicht zu liefern, und wenn es von seinem Willen abhing, die und die oder eine andere Anordnung zu treffen, so ist klar, daß ein Schnupfen, der auf die Äußerung seines Willens von Einfluß war, die Ursache der Rettung Rußlands werden konnte und daß daher jener Kammerdiener, der am 24. vergessen hatte, dem Kaiser die wasserdichten Stiefel zu reichen, der Retter Rußlands war. Bei einer solchen Art zu denken, ist dieser Schluß zweifellos richtig; ebenso richtig wie jener Schluß Voltaires, der scherzend (wiewohl er selbst nicht recht wußte, worüber er sich dabei eigentlich lustig machte) behauptete, die Bartholomäusnacht habe sich infolge einer Magenverstimmung Karls IX. ereignet. Denjenigen Leuten jedoch, die nicht zugeben, daß die Bildung des russischen Reiches auf den Willen eines einzelnen Menschen, Peters des Großen, und die Entstehung des französischen Kaiserreichs und der Beginn des Krieges mit Rußland auf den Willen eines einzelnen Menschen, Napoleons, zurückzuführen sei, solchen Leuten erscheint jener Schluß nicht nur als ein unrichtiger und unverständiger, sondern auch als ein dem ganzen Wesen der Menschheit zuwiderlaufender. Auf die Frage, welches die Ursache der geschichtlichen Ereignisse sei, bietet sich eine andere Antwort dar, nämlich folgende: der Gang der Weltereignisse ist von oben vorherbestimmt und hängt von dem Zusammentreffen aller Willensäußerungen der an diesen Ereignissen beteiligten Menschen ab, und der Einfluß von Männern wie Napoleon auf den Gang dieser Ereignisse ist nur ein äußerlicher und eingebildeter.

Wie seltsam auch auf den ersten Blick die Annahme erscheinen[347] mag, daß die Bartholomäusnacht, zu der Karl IX. den Befehl gab, nicht das Resultat seines Willens gewesen sei, sondern es ihm nur so geschienen habe, als habe er ihre Veranstaltung befohlen, und daß die Niedermetzelung von achtzigtausend Menschen bei Borodino nicht das Resultat des Willens Napoleons gewesen sei, obwohl er doch die Befehle über den Beginn und weiteren Gang des Kampfes erteilte, sondern es ihm nur so vorgekommen sei, als befehle er dies – wie seltsam auch diese Annahme erscheinen mag, so befiehlt uns doch die menschliche Würde, die uns sagt, daß jeder von uns, wenn nicht in höherem, so doch jedenfalls in nicht geringerem Grade ein Mensch ist als jeder Napoleon, diese Lösung der Frage als die richtige anzuerkennen, und die geschichtlichen Forschungen bringen für diese Annahme die reichste Bestätigung.

In der Schlacht bei Borodino hat Napoleon auf niemand geschossen und niemand getötet. Alles dies haben die Soldaten getan. Folglich ist nicht er es gewesen, der die vielen Menschen getötet hat.

Die Soldaten der französischen Armee gingen bei Borodino in diesen mörderischen Kampf nicht infolge des Befehles Napoleons, sondern von ihrem eigenen Verlangen getrieben. Die ganze Armee, Franzosen, Italiener, Deutsche, Polen, hungrig, abgerissen und durch die langen Märsche erschöpft, sagte sich angesichts eines Heeres, das ihnen den Weg nach Moskau versperrte, der Wein sei nun einmal abgezogen und müsse getrunken werden. Hätte Napoleon ihnen jetzt verboten, sich mit den Russen zu schlagen, so würden sie ihn getötet haben und darauf in den Kampf mit den Russen gegangen sein, weil das eben für sie ein Ding der Notwendigkeit war.

Als sie Napoleons Armeebefehl anhörten, der ihnen als Trost für Verstümmelung und Tod in Aussicht stellte, die Nachwelt[348] werde davon reden, daß auch sie bei der Schlacht unter den Mauern von Moskau dabeigewesen seien, da riefen sie:

»Es lebe der Kaiser!«, geradeso wie sie beim Anblick des Porträts des Knaben, der den Erdball mit einem Bilboquetstäbchen durchbohrte, »Es lebe der Kaiser!« gerufen hatten, und geradeso wie sie es bei jedem Unsinn getan haben würden, den er zu ihnen gesagt hätte. Es blieb ihnen nichts weiter übrig als »Es lebe der Kaiser!« zu rufen und in den Kampf zu gehen, um als Sieger in Moskau Nahrung und Erholung zu finden. Somit haben sie nicht infolge von Napoleons Befehl ihresgleichen getötet.

Auch leitete Napoleon in Wirklichkeit nicht den Gang der Schlacht, da ja von seiner Disposition nichts zur Ausführung kam und er während der Schlacht nicht wußte, was weiter vorn vorging. Also war auch die Art und Weise, wie die Menschen einander töteten, nicht ein Resultat von Napoleons Willen, sondern gestaltete sich, unabhängig von ihm, nach dem Willen der Hunderttausende von Menschen, die an dem allgemeinen Kampf teilnahmen. Napoleon glaubte nur, es vollziehe sich alles nach seinem Willen. Und darum hat die Frage, ob Napoleon den Schnupfen gehabt habe oder nicht, für die Geschichte kein größeres Interesse als die Frage nach dem Schnupfen des letzten Trainsoldaten.

Napoleons Schnupfen am 26. August hatte um so geringere Bedeutung, da die Behauptung mancher Geschichtsschreiber, Napoleons Schnupfen habe es verschuldet, daß seine Disposition und seine Anordnungen während der Schlacht nicht so gut ausgefallen seien wie seine früheren Dispositionen und Anordnungen, vollständig unzutreffend ist.

Die hier oben angeführte Disposition war in keiner Weise schlechter, sondern sogar besser als alle früheren Dispositionen, nach denen er Schlachten gewonnen hatte; und die vermeintlichen[349] Anordnungen während der Schlacht waren gleichfalls nicht schlechter als die früheren, sondern genau von derselben Art wie immer. Diese Disposition und diese Anordnungen scheinen nur deswegen schlechter als die früheren zu sein, weil die Schlacht bei Borodino die erste war, die Napoleon nicht gewann. Die schönsten, tiefsinnigsten Dispositionen und Anordnungen scheinen alle recht schlecht, und jeder Taktiker kritisiert sie mit bedeutsamer Miene, wenn die Schlacht dabei nicht gewonnen ist; und die schlechtesten Dispositionen und Anordnungen scheinen sehr gut, und ernste Männer beweisen in ganzen Bänden die Vortrefflichkeit dieser schlechten Dispositionen und Anordnungen, wenn dabei die Schlacht gewonnen ist.

Die Disposition, die Weyrother vor der Schlacht bei Austerlitz aufgestellt hatte, war ein Muster von Vollkommenheit in derartigen Entwürfen; aber dennoch ist sie getadelt worden, getadelt eben wegen ihrer Vollkommenheit, wegen des allzu tiefen Eingehens auf Einzelheiten.

Napoleon erfüllte in der Schlacht bei Borodino seine Aufgabe als Repräsentant der höchsten Gewalt ebensogut und noch besser als in den andern Schlachten. Er tat nichts, was für den Gang der Schlacht nachteilig gewesen wäre; er stimmte unter den ihm vorgetragenen Meinungen den verständigeren zu; er richtete keine Verwirrung an, geriet nicht in Widerspruch mit sich selbst, erschrak nicht und lief nicht vom Schlachtfeld davon, sondern führte mit dem ihm eigenen hervorragenden Taktgefühl und mit seiner großen Kriegserfahrung ruhig und würdig seine Rolle als scheinbarer Oberleiter durch.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 346-350.
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