XXX

[355] Nachdem Pierre vom Fürsten Andrei nach Gorki zurückgekehrt war, befahl er dem Reitknecht, die Pferde bereitzuhalten und ihn am andern Morgen früh zu wecken, und schlief dann hinter der Halbwand in dem Winkelchen, das ihm Boris überlassen hatte, sofort ein.

Als er am andern Morgen erwachte, war niemand mehr in dem Häuschen anwesend. Die Scheiben in den kleinen Fenstern zitterten. Der Reitknecht stand vor ihm und rüttelte ihn.

»Euer Erlaucht, Euer Erlaucht, Euer Erlaucht ...«, rief der Reitknecht, indem er ihn beharrlich an der Schulter schüttelte; er sah ihn dabei gar nicht an und hatte offenbar schon die Hoffnung verloren, ihn noch wach zu bekommen.

»Was ist? Hat es angefangen? Ist es Zeit?« fragte Pierre, als er zu sich gekommen war.[355]

»Hören Sie nur das Schießen«, sagte der Reitknecht, ein ehemaliger Soldat. »Die Herren sind schon alle weg; der Durchlauchtige selbst ist schon längst vorbeigeritten.«

Pierre kleidete sich schnell an und lief vor die Haustür. Draußen war es hell, frisch, tauig und vergnüglich. Die Sonne, die soeben hinter einer Wolke hervorbrach, von der sie bis dahin verdeckt gewesen war, ergoß ihre zur Hälfte noch von der Wolke gebrochenen Strahlen über die Dächer der gegenüberliegenden Straßenseite hin auf den betauten Staub des Weges, auf die Wände und Fenster der Häuser, auf die Zäune und auf Pierres Pferde, die bei dem Haus standen. Der Kanonendonner war hier draußen deutlicher zu hören. Auf der Straße trabte ein Adjutant mit einem Kosaken vorüber.

»Es ist Zeit, Graf, es ist Zeit!« rief der Adjutant.

Pierre befahl dem Reitknecht, ihm die Pferde nachzubringen, und ging zu Fuß auf der Straße nach dem Hügel, von dem er tags zuvor das Schlachtfeld betrachtet hatte. Auf diesem Hügel befand sich eine Anzahl von Militärs; man konnte das französische Gespräch der Stabsoffiziere hören und sah Kutusows grauen Kopf mit der weißen, rotbesetzten Mütze und dem in den Schultern versinkenden Nacken. Kutusow schaute durch ein Fernrohr nach vorn, die große Landstraße entlang.

Als Pierre die Stufen hinangestiegen war, die zu dem Hügel hinaufführten, blickte er gleichfalls nach vorn und stand starr vor Entzücken über die Schönheit dieses Schauspiels. Es war dasselbe Panorama, das er am vorhergehenden Tag von diesem Hügel aus mit lebhaftem Interesse betrachtet hatte; aber jetzt war dieses ganze Terrain von Truppen und den Rauchwolken der Schüsse bedeckt, und die schrägen Strahlen der hellen Sonne, die links hinter Pierre emporstieg, breiteten in der reinen Morgenluft ein scharfes Licht mit einem goldig-rötlichen Schimmer[356] darüber aus und ließen lange, dunkle Schatten entstehen. Die fernen Wälder, die das Panorama abschlossen, sahen aus, als wären sie aus einem kostbaren gelblichgrünen Stein geschnitten, und zeichneten sich mit der geschweiften Umrißlinie ihrer Wipfel am Horizont ab; und zwischen ihnen zog sich hinter Walujewo die große Smolensker Landstraße dahin, die ganz mit Truppen bedeckt war. Mehr in der Nähe lagen goldig schimmernde Felder und kleine grüne Gehölze. Überall, geradeaus und rechts und links, waren Truppen zu sehen. Alles war voller Leben, großartig, überraschend; aber was den allergrößten Eindruck auf Pierre machte, das war der Anblick des Schlachtfeldes selbst, des Dorfes Borodino und des schluchtenreichen Terrains zu beiden Seiten der Kolotscha.

Über der Kolotscha, über Borodino und zu beiden Seiten dieses Dorfes, besonders links, da wo zwischen sumpfigen Ufern die Woina sich in die Kolotscha ergießt, lag jener Nebel, der beim Hervortreten der hellen Sonne zergeht, auseinanderfließt, das Licht hindurchläßt und allem, was durch ihn hindurch sichtbar wird, zauberhafte Farben und Umrisse verleiht. Zu diesem Nebel gesellte sich der Rauch der Schüsse, und in diesem Nebel und Rauch blitzten überall die Reflexe des Morgenlichtes: hier auf dem Wasser, da im Tau, dort an den Bajonetten der Truppen, die sich an den Ufern und in Borodino drängten. Durch diesen Nebel hindurch wurde die weiße Kirche von Borodino sichtbar, stellenweise auch Hausdächer, dichte Massen von Soldaten, grüne Munitionskasten, Geschütze. Und alles dies bewegte sich oder schien sich zu bewegen, weil Nebel und Rauch über diesen ganzen Raum sachte hinzogen. Wie in diesen von Nebel bedeckten Niederungen bei Borodino, so entstanden auch außerhalb dieses Terrains, höher hinauf und namentlich nach links hin, auf der ganzen Linie, bei den Wäldern und auf den Feldern, in den[357] Niederungen und auf den Anhöhen, fortwährend, gleichsam von selbst aus dem Nichts, bald einzeln bald gruppenweise, bald selten bald häufig, Rauchballen von Kanonenschüssen; anschwellend, sich ausdehnend, aufwirbelnd, zusammenfließend erfüllten sie den ganzen weiten Raum.

Diese Rauchwolken von den Schüssen und, so sonderbar es klingen mag, der Schall der Schüsse bildeten den Hauptreiz dieses Schauspiels.

Puff! Plötzlich erschien eine rundliche, dichte, aus den Farben Lila, Grau und Milchweiß bestehende Rauchwolke, und bum! ertönte einen Augenblick darauf der zu dieser Rauchwolke gehörige Schall.

Puff, puff! Es erhoben sich zwei Rauchwolken, stießen zusammen und flossen ineinander; und bum, bum! bestätigte der Schall das, was das Auge gesehen hatte.

Pierre sah sich wieder nach der ersten Rauchwolke um, die, als er die Augen von ihr abgewandt hatte, ein rundliches, dichtes Bällchen gewesen war; aber jetzt befanden sich an ihrer Stelle bereits mehrere Klumpen von seitwärts ziehendem Rauch; und puff ... (mit einer Pause), puff, puff! erschienen noch drei, noch vier andere Rauchwolken, und auf jede von ihnen antworteten in denselben Abständen bum ... bum, bum! schöne, volle, kräftige Töne. Bald schien es, als ob diese Rauchwolken davonzögen, bald, als ob sie stillständen und die Wälder, Felder und glänzenden Bajonette an ihnen vorbeiliefen. Zur Linken auf den Feldern und in den Gebüschen bildeten sich unaufhörlich diese großen Rauchwolken mit ihrem feierlichen Hall, und in größerer Nähe in den Niederungen und bei den Wäldern stiegen von Flintenschüssen kleine Rauchwölkchen empor, die nicht dazu gelangten, eine Kugelgestalt anzunehmen, jedoch gleichfalls von einem wenn auch nur mäßigen Schall gefolgt waren. Trach-ta-ta-tach, knatterte[358] das Flintenfeuer, zwar häufig, aber unregelmäßig und ärmlich im Vergleich zu den Kanonenschüssen.

Pierre wäre gern dort gewesen, wo diese Rauchwolken, diese blitzenden Bajonette, diese Bewegung und diese Töne waren. Er sah sich nach Kutusow und seinem Gefolge um, um seine eigene Empfindung mit der der andern zu vergleichen. Alle blickten sie ganz so wie er und, wie es ihm schien, mit demselben Gefühl vorwärts nach dem Schlachtfeld hin. Auf allen Gesichtern leuchtete jetzt jene »latente Wärme« der Empfindung, die Pierre gestern bemerkt hatte und über die er nach seinem Gespräch mit dem Fürsten Andrei vollständig ins klare gekommen war.

»Reite hin, mein Lieber, reite hin; Christus sei mit dir!« sagte Kutusow, ohne die Augen von dem Schlachtfeld wegzuwenden, zu einem neben ihm stehenden General.

Nachdem er den Befehl gehört hatte, ging dieser General an Pierre vorbei nach der Stelle hin, wo sich der Abstieg von dem Hügel befand.

»Zur Übergangsstelle!« antwortete der General kühl und ernst auf die Frage eines Stabsoffiziers, wohin er sich begebe.

»Da will ich auch hin, da will ich auch hin!« dachte Pierre und ging hinter dem General her.

Der General bestieg das Pferd, das ihm ein Kosak vorführte. Pierre begab sich zu seinem Reitknecht, der seine Pferde hielt. Er befragte diesen, welches das frommste sei, stieg hinauf, hielt sich an der Mähne, drückte die Hacken der auswärts gedrehten Füße gegen den Leib des Pferdes und sprengte so, obgleich er fühlte, daß ihm die Brille herunterrutschte und daß er nicht imstande war, die Hände von der Mähne und den Zügeln wegzunehmen, hinter dem General her, wodurch er bei den Stabsoffizieren, die ihm von dem Hügel aus nachsahen, ein Lächeln hervorrief.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 355-359.
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