XXIX

[350] Als Napoleon die Linie zum zweitenmal abgeritten und sorgsam revidiert hatte und zu seinem Zelt zurückgekehrt war, sagte er:

»Die Schachfiguren sind aufgestellt; morgen beginnt das Spiel.«

Er ließ sich Punsch bringen und Bausset herbeirufen und begann mit ihm ein Gespräch über Paris, über einige Veränderungen, die er in dem Hofstaat der Kaiserin vorzunehmen beabsichtigte, und setzte den Palastpräfekten durch sein gutes Gedächtnis für alle möglichen kleinen Einzelheiten der Hofverhältnisse in Erstaunen.

Er interessierte sich für allerlei Kleinigkeiten, scherzte über Baussets Reiselust und plauderte in lässigem Ton, so wie es wohl ein berühmter, mit seinem Metier vertrauter, von Selbstbewußtsein erfüllter Operateur tut, während er sich die Ärmel aufstreift und die Schürze vorbindet und den Kranken auf dem Lager festbinden läßt. »Alles, was getan werden muß«, denkt er, »habe ich klar und bestimmt im Kopf und in den Händen. Sobald es nötig sein wird, ans Werk zu gehen, werde ich es so gut machen, wie es kein anderer kann; aber jetzt kann ich scherzen, und je mehr ich scherze und je ruhiger ich bin, um so vertrauensvoller und ruhiger mögt ihr sein, und um so mehr mögt ihr mein Genie bewundern.«

Nachdem Napoleon sein zweites Glas Punsch getrunken hatte, ging er in seinen Schlafraum, um sich vor der ernsten Arbeit, die ihm, wie er meinte, für den nächsten Tag bevorstand, auszuruhen.

Aber seine Gedanken waren dermaßen mit dieser ihm bevorstehenden Arbeit beschäftigt, daß er nicht schlafen konnte, und[351] trotzdem der Schnupfen infolge der feuchten Abendluft schlimmer geworden war, kam er um drei Uhr nachts, sich laut schneuzend, wieder in die größere Abteilung des Zeltes. Er erkundigte sich, ob die Russen abgezogen seien. Es wurde ihm geantwortet, die feindlichen Wachfeuer befänden sich immer noch an denselben Stellen. Er nickte befriedigt mit dem Kopf.

Der diensttuende Adjutant trat in das Zelt.

»Nun, Rapp, glauben Sie, daß wir heute gute Geschäfte machen werden?« fragte ihn der Kaiser.

»Ohne allen Zweifel, Sire«, erwiderte Rapp.

Napoleon blickte ihn prüfend an.

»Erinnern Sie sich, Sire«, fuhr Rapp fort, »was Sie bei Smolensk zu mir zu sagen geruhten: ›Der Wein ist abgezogen; nun muß man ihn trinken‹.«

Napoleon zog die Augenbrauen zusammen und saß lange schweigend da, den Kopf in die Hände gestützt.

»Mein armes Heer!« sagte er plötzlich. »Es ist seit Smolensk sehr zusammengeschmolzen. Das Glück ist eine richtige Dirne, Rapp; das habe ich immer gesagt, und nun fange ich an, es zu erfahren. Aber die Garde, Rapp, die Garde ist doch unversehrt geblieben?« sagte er in fragendem Ton.

»Ja, Sire«, antwortete Rapp.

Napoleon nahm eine Pastille, steckte sie in den Mund und sah nach der Uhr. Schläfrig fühlte er sich nicht; bis zum Morgen war es noch lange hin; wie sollte er die Zeit verbringen? Noch weitere Anordnungen zu treffen war nicht möglich, da bereits alles angeordnet und jetzt in der Ausführung begriffen war.

»Ist an die Garderegimenter Zwieback und Reis ausgeteilt worden?« fragte er in strengem Ton.

»Ja, Sire.«

»Auch Reis?«[352]

Rapp antwortete, er habe den Befehl des Kaisers, den Reis betreffend, weitergegeben; aber Napoleon schüttelte unzufrieden den Kopf, wie wenn er nicht glaubte, daß sein Befehl ausgeführt sei. Ein Diener trat ein mit Punsch. Napoleon ließ für Rapp ein zweites Glas bringen und trank schweigend einzelne Schlucke aus dem seinigen.

»Ich habe weder Geschmack noch Geruch«, sagte er, indem er an dem Glas roch. »Dieser Schnupfen ennuyiert mich recht. Da reden die Leute nun von der medizinischen Wissenschaft. Eine nette Wissenschaft, die nicht einmal einen Schnupfen heilen kann! Corvisart hat mir diese Pastillen gegeben; aber sie helfen gar nichts. Was können die Ärzte denn kurieren? Kurieren läßt sich überhaupt keine Krankheit. Unser Körper ist eine Maschine zum Leben. Für diesen Zweck ist er eingerichtet; das ist seine Natur. Man lasse im Körper das Leben einfach in Ruhe, damit es sich darin selbst schützt; dann wird es mehr ausrichten, als wenn man es durch Überfüllung mit Medikamenten lähmt. Unser Körper ist gleichsam eine vorzügliche Uhr, die eine bestimmte Zeitlang gehen kann; aber der Uhrmacher besitzt nicht die Fähigkeit, sie zu öffnen; er kann sie nur tastend und mit verbundenen Augen behandeln ... Unser Körper ist eine Maschine zum Leben. Das ist die Sache!«

Und da er nun anscheinend in das Definieren, eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, hineingeraten war, stellte er auf einmal unerwarteterweise noch eine andere Definition auf.

»Wissen Sie, Rapp«, fragte er, »was die Kriegskunst ist? Die Kunst, in einem bestimmten Augenblick stärker zu sein als der Feind, weiter nichts.«

Rapp gab keine Antwort.

»Morgen werden wir mit Kutusow zu tun haben«, sagte Napoleon. »Nun, wir wollen sehen. Erinnern Sie sich noch: er kommandierte[353] in Braunau eine Armee, setzte sich aber in drei Wochen nicht ein einziges Mal aufs Pferd, um die Befestigungen zu besichtigen. Nun, wir wollen sehen!«

Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war erst vier. Schlafen mochte er nicht; der Punsch war ausgetrunken, und zu tun war nichts mehr. Er stand auf, ging auf und ab, zog einen warmen Oberrock an, setzte den Hut auf und trat aus dem Zelt hinaus. Die Nacht war dunkel und feucht; eine kaum spürbare Feuchtigkeit senkte sich von oben herab. Wachfeuer brannten trübe in der Nähe, bei der französischen Garde, und schimmerten in der Ferne durch den Rauch bei der russischen Linie. Durch die überall herrschende Stille hörte man deutlich das dumpfe Geräusch und Getrappel der französischen Truppen, die sich bereits in Bewegung setzten, um ihre Position einzunehmen.

Napoleon ging vor dem Zelt hin und her, betrachtete die Feuer, horchte auf das Getrappel, und als er bei einem großen Gardisten mit zottiger Mütze vorbeikam, der bei dem kaiserlichen Zelt Posten stand und beim Erscheinen des Kaisers wie ein schwarzer Pfahl sich geradereckte, blieb Napoleon vor ihm stehen.

»Seit welchem Jahr bist du im Dienst?« fragte er in jenem derb-freundlichen Soldatenton, in dem er immer mit den Soldaten verkehrte und den er daher gut zu treffen wußte.

Der Soldat antwortete ihm.

»Ah, einer von den alten! Habt ihr in eurem Regiment Reis bekommen?«

»Jawohl, Euer Majestät.«

Napoleon nickte mit dem Kopf und entfernte sich von ihm.


Um halb sechs Uhr ritt Napoleon nach dem Dorf Schewardino. Es fing an hell zu werden; der Himmel hatte sich aufgeklärt;[354] nur im Osten lagerte eine einzelne dunkle Wolke. Die verlassenen Wachfeuer glimmten im schwachen Morgenlicht.

Von rechts her ertönte ein einzelner dumpfer Kanonenschuß; der Schall verbreitete sich und erstarb dann in der allgemeinen Stille. Es vergingen einige Minuten. Dann ertönte ein zweiter, ein dritter Schuß; die Luft geriet in eine schwankende Bewegung; ein vierter und ein fünfter erschollen mit einem gewissermaßen feierlichen Klang irgendwo in der Nähe rechts.

Noch waren die ersten Schüsse nicht verhallt, als noch andere und immer wieder andere ertönten, deren Klänge zusammenflossen und einander unterbrachen.

Napoleon ritt mit seiner Suite nach der Schanze von Schewardino und stieg vom Pferd. Das Spiel begann.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 350-355.
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