XXXII

[371] Pierre, der vor Angst nicht wußte, was er tat, sprang auf und lief auf die Batterie zurück, als nach dem einzigen Zufluchtsort vor all den Schrecken, die ihn umgaben.

In dem Augenblick, als Pierre in die Verschanzung hineintrat, bemerkte er, daß in der Batterie kein Schießen mehr zu hören war, daß aber irgendwelche Leute da irgend etwas taten. Pierre begriff nicht sogleich, was das für Leute waren. Er erblickte den alten Obersten, der, ihm die Rückseite zuwendend, auf dem Wall lag, als ob er da unten etwas betrachtete, und sah, wie ein Soldat, dessen er sich von vorhin erinnerte, sich von Leuten, die ihn am Arm hielten, loszureißen suchte und dabei schrie: »Brüder ...!« Und so sah er noch manches Seltsame.

Aber er hatte es sich in seinen Gedanken noch nicht zurechtgelegt, daß der Oberst tot war und daß der Soldat, der da »Brüder!« rief, gefangengenommen wurde, und daß vor seinen Augen ein anderer Soldat mit dem Bajonett von hinten erstochen wurde, als, unmittelbar nachdem er in die Verschanzung hereingelaufen war, ein hagerer, gelblicher Mann mit schweißbedecktem Gesicht, in blauer Uniform, mit dem Degen in der Hand, auf ihn zugelaufen kam und ihm etwas zuschrie. Pierre, der sich instinktiv gegen den Stoß wehrte, da sie unversehens gegeneinanderrannten, streckte die Hände vor und packte diesen Menschen (es war ein französischer Offizier) mit der einen Hand an der Schulter, mit der andern an der Kehle. Der Offizier ließ seinen Degen fallen und ergriff Pierre am Kragen.

Ein paar Sekunden lang starrten sie beide mit erschrockenen Augen ein jeder das ihm fremde Gesicht des andern an, und beide waren in Zweifel darüber, was sie taten und was sie nun tun sollten. »Hat er mich gefangengenommen oder ich ihn?«[372] dachte jeder von ihnen. Aber offenbar neigte der französische Offizier mehr zu der Auffassung, daß er gefangengenommen sei, da Pierres starke Hand unter der Einwirkung der unwillkürlichen Furcht ihm immer fester und fester die Kehle zusammendrückte. Der Franzose wollte etwas sagen, als plötzlich ganz niedrig, unmittelbar über ihren Köpfen, mit furchtbarem Pfeifen eine Kanonenkugel hinflog; es schien Pierre, als sei dem französischen Offizier der Kopf abgerissen: so schnell hatte dieser den Kopf niedergebeugt.

Pierre hatte ebenfalls den Kopf geduckt und die Arme sinken lassen. Ohne weiter daran zu denken, wer den andern gefangengenommen habe, liefen sie beide weg, der Franzose in die Batterie zurück, Pierre bergab. Er stolperte dabei über Tote und Verwundete, die ihm, wie es ihm vorkam, nach den Beinen griffen. Aber er war noch nicht an den Fuß der Anhöhe gelangt, als ihm dichte Scharen russischer Soldaten im Laufschritt entgegenkamen, die stolpernd, fallend und schreiend, fröhlich und stürmisch zur Batterie hinaufliefen. (Es war dies jener Angriff, den sich Jermolow zum Ruhm anrechnete, indem er behauptete, nur seiner Tapferkeit und seinem Glück sei es möglich gewesen, diese Großtat auszuführen, jener Angriff, bei dem er, wie es heißt, die Georgskreuze, die er in der Tasche hatte, auf die Hügelkuppe warf.)

Die Franzosen, welche die Batterie eingenommen hatten, flüchteten. Unsere Truppen jagten mit Hurrageschrei den Feind so weit von der Batterie weg, daß es schwer wurde, sie von der Verfolgung wieder abzubringen.

Von der Batterie wurden die Gefangenen weggeführt, darunter ein verwundeter französischer General, den viele russische Offiziere umringten. Scharen von Verwundeten, die Pierre teils kannte, teils nicht kannte, Russen und Franzosen, mit schmerzverzerrten[373] Gesichtern, gingen und krochen von der Batterie weg oder wurden auf Bahren fortgetragen. Pierre betrat wieder die Verschanzung auf der Kuppe, wo er länger als eine Stunde geweilt hatte; aber aus jenem Familienkreis, in den er Aufnahme gefunden hatte, fand er niemand mehr vor. Es lagen dort viele Tote, die er nicht kannte. Aber einige erkannte er. Der junge Offizier saß, immer noch in gleicher Weise zusammengekrümmt, am Rand des Walles in einer Blutlache da. Der Soldat mit dem roten Gesicht zuckte noch; aber niemand schaffte ihn fort.

Pierre lief hinunter.

»Nein, jetzt werden sie damit aufhören; jetzt werden sie erschrecken über das, was sie getan haben!« dachte er, während er ziellos hinter den vielen Tragbahren herging, die vom Schlachtfeld fortgetragen wurden.

Aber die vom Rauch verhüllte Sonne stand noch hoch, und vorn und namentlich auf dem linken Flügel, bei Semjonowskoje, wütete im Pulverrauch noch immer der Kampf, und das Getöse der Kanonenschüsse und des Kleingewehrfeuers wurde nicht nur nicht schwächer, sondern verstärkte sich immer mehr, wie wenn ein Mensch in vollster Verzweiflung mit Aufbietung seiner letzten Kraft schreit.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 371-374.
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