XXXIII

[374] Der Hauptkampf in der Schlacht bei Borodino spielte sich auf einem Raum von dreitausend Schritten zwischen dem Dorf Borodino und den Pfeilschanzen Bagrations ab. (Außerhalb dieses Raumes wurde auf der einen Seite um Mittag von Uwarows Kavallerie eine Demonstration unternommen, und auf der andern Seite, hinter dem Dorf Utiza, fand ein Zusammenstoß Poniatowskis mit Tutschkow statt; aber dies waren abgesonderte und unbedeutende Aktionen im Vergleich mit dem,[374] was in der Mitte des Schlachtfeldes vorging.) Auf dem Feld zwischen Borodino und den Pfeilschanzen, bei dem Wald, auf einem offenen und von beiden Seiten sichtbaren Terrain, wurde der Hauptkampf in der einfachsten Weise ohne alle List geliefert.

Die Schlacht begann von beiden Seiten mit einer Kanonade aus mehreren hundert Geschützen.

Dann, als der Pulverrauch das ganze Feld bedeckte, setzten sich in diesem Rauch von rechts her (vom französischen Standpunkt aus) die beiden Divisionen Dessaix und Compans gegen die Pfeilschanzen und von links her die Regimenter des Vizekönigs gegen Borodino in Bewegung.

Von der Schanze bei Schewardino, auf der Napoleon stand, waren die Pfeilschanzen in gerader Linie eine Werst, Borodino mehr als zwei Werst entfernt; daher konnte Napoleon nicht sehen, was dort vorging, um so weniger, da der Rauch, der zu dem Nebel hinzugekommen war, die ganze Örtlichkeit verhüllte. Die Soldaten der Division Dessaix, die die Richtung nach den Pfeilschanzen einschlugen, waren nur so lange sichtbar, bis sie in die Schlucht hinabstiegen, die sie von den Pfeilschanzen trennte. Sobald sie in die Schlucht hinabgestiegen waren, wurde der Pulverrauch von den Kanonen- und Flintenschüssen auf den Pfeilschanzen so dicht, daß er den ganzen Aufstieg auf der andern Seite der Schlucht bedeckte. Durch den Rauch hindurch bemerkte man dort zwar flüchtig etwas Schwarzes, wahrscheinlich Menschen, und mitunter das Blitzen von Bajonetten. Aber ob sie sich bewegten oder stillstanden, ob es Franzosen oder Russen waren, das ließ sich von der Schanze von Schewardino aus nicht erkennen.

Die Sonne ging hell und klar auf und schien mit ihren schrägen Strahlen dem Kaiser Napoleon, der unter der vorgehaltenen[375] Hand hervor nach den Pfeilschanzen blickte, gerade ins Gesicht. Der Rauch hatte sich vor den Schanzen ausgebreitet, und bald schien es, daß der Rauch, bald daß die Truppen sich bewegten. Mitunter wurde zwischen den Schüssen das Geschrei von Menschen vernehmbar; aber was sie dort taten, konnte man nicht wissen.

Auf dem Hügel stehend blickte Napoleon durch das Fernrohr und sah in dem kleinen Kreis, den ihm das Fernrohr zeigte, Rauch und Menschen, manchmal seine eigenen Leute, manchmal Russen; aber sobald er wieder mit bloßem Auge hinschaute, wußte er nicht, wo sich das, was er gesehen hatte, befand.

Er stieg von dem Hügel hinunter und begann vor ihm auf und ab zu gehen.

Mitunter blieb er stehen, horchte nach dem Schießen hin und betrachtete das Schlachtfeld.

Weder von der Stelle unten, wo er stand, noch auch von dem Hügel, wo jetzt mehrere seiner Generale Stellung genommen hatten, ja nicht einmal von den Pfeilschanzen selbst, auf denen sich jetzt zugleich oder abwechselnd bald Russen, bald Franzosen befanden, Tote, Verwundete und Lebende, erschrockene oder rasende Soldaten: von keiner dieser Stellen aus war es möglich, das, was an diesem Platz geschah, zu verstehen. Im Laufe mehrerer Stunden erschienen an dieser Stelle unter nie verstummendem Kanonen- und Gewehrfeuer bald Russen, bald Franzosen, bald Infanterie, bald Kavallerie; sie erschienen, fielen, schossen, stießen aufeinander, ohne zu wissen, was sie miteinander anfangen sollten, schrien und liefen wieder zurück.

Vom Schlachtfeld kamen unaufhörlich zu Napoleon Adjutanten und Ordonnanzen, die von seinen Marschällen abgeschickt waren, mit Meldungen über den Gang des Kampfes herangesprengt; aber alle diese Meldungen waren falsch: erstens weil[376] es in der Hitze des Gefechts unmöglich ist, zu sagen, was in einem bestimmten Augenblick vorgeht; zweitens weil viele Adjutanten gar nicht bis zu dem wirklichen Kampfplatz hingeritten waren, sondern nur berichteten, was sie von andern gehört hatten; drittens weil, während der Adjutant die zwei, drei Werst zurücklegte, die ihn von Napoleon trennten, sich oft die Umstände geändert hatten und die Nachricht, die er überbrachte, bereits falsch geworden war. So z.B. kam von dem Vizekönig ein Adjutant mit der Nachricht herbeigesprengt, Borodino sei genommen, und die Brücke über die Kolotscha befinde sich in den Händen der Franzosen. Der Adjutant fragte den Kaiser, ob er befehle, daß die Truppen hinübergingen. Napoleon befahl, sie sollten sich auf dem jenseitigen Ufer ordnen und dann warten. Aber nicht nur in dem Augenblick, als Napoleon diesen Befehl gab, sondern bereits, nachdem der Adjutant eben erst von Borodino weggeritten war, hatten die Russen die Brücke schon in eben jenem Zusammenstoß wiedergenommen und verbrannt, bei welchem Pierre gleich zu Anfang der Schlacht gegenwärtig gewesen war.

Ein Adjutant, der von den Pfeilschanzen mit blassem, erschrockenem Gesicht herbeigaloppierte, meldete dem Kaiser, der Angriff sei zurückgeschlagen, Compans verwundet, Davout gefallen; aber dabei waren die Pfeilschanzen von einem andern Truppenteil in dem Augenblick genommen worden, wo dem Adjutanten gesagt worden war, die Franzosen seien zurückgeschlagen, und Davout war am Leben und hatte nur eine leichte Quetschung. Aufgrund solcher notwendigerweise falschen Meldungen traf nun Napoleon seine Anordnungen, die entweder bereits ausgeführt waren, ehe er sie erteilt hatte, oder nicht ausgeführt werden konnten und somit auch nicht ausgeführt wurden.

Die Marschälle und Generale, die sich in geringerer Entfernung vom Schlachtfeld befanden, aber ebenso wie Napoleon nicht am[377] Kampf teilnahmen und nur ab und zu an die Feuerzone heranritten, trafen, ohne Napoleon zu fragen, ihre Anordnungen und erteilten ihre Befehle darüber, wohin und von wo aus geschossen werden und wohin die Kavallerie reiten und die Infanterie marschieren solle. Aber auch ihre Anordnungen wurden, ebenso wie die Napoleons, nur in sehr geringem Maße und nur selten zur Ausführung gebracht. Größtenteils geschah das Gegenteil von dem, was sie befohlen hatten. Soldaten, denen befohlen war vorzurücken, liefen, wenn sie in Kartätschenfeuer gerieten, zurück; Soldaten, denen befohlen war, an ihrem Platz stehenzubleiben, liefen, wenn sie gegenüber unerwartet Russen erscheinen sahen, manchmal zurück, manchmal aber stürzten sie auch vorwärts auf sie los, und die Kavallerie sprengte ohne Befehl den fliehenden Russen nach. So jagten zwei Kavallerieregimenter durch die Schlucht bei Semjonowskoje; kaum aber waren sie auf die Höhe gelangt, als sie umkehrten und in voller Karriere zurücksprengten. Ebenso war es mit den Bewegungen der Infanterie, die manchmal ganz und gar nicht dahin marschierte, wohin ihr zu marschieren befohlen war. Alle Anordnungen darüber, wohin und wann die Kanonen vorgerückt werden, wann die Soldaten zum Schießen vorgeschickt werden sollten, wann die Kavallerie das russische Fußvolk niederreiten solle, alle diese Anordnungen trafen die nächstbeteiligten Abteilungskommandeure, die sich bei den Truppen befanden, ohne Ney, Davout und Murat, geschweige denn Napoleon, zu befragen. Sie fürchteten nicht, für die Nichtbefolgung eines Befehls oder für eine eigenmächtige Anordnung zur Verantwortung gezogen zu werden, da es sich in der Schlacht um das handelt, was dem Menschen das Teuerste ist, das eigene Leben. Und da die Rettung manchmal im Zurückweichen, manchmal im Vorwärtslaufen zu liegen scheint, so handelten diese Menschen, die sich mitten in der Hitze des Kampfes befanden,[378] eben nach der Eingebung des Augenblicks. In Wirklichkeit aber hatten alle diese Vor- und Rückwärtsbewegungen keine Erleichterung und Änderung in der Lage der Truppen zur Folge. Alle ihre gegenseitigen Angriffe zu Fuß und zu Pferd taten ihnen fast gar keinen Schaden; Schaden, d.h. Tod und Verstümmelung, brachten ihnen die Kanonen- und Flintenkugeln, die überall in diesem Raum umherflogen, auf dem sich diese Menschen hin und her bewegten. Sobald diese Menschen aus dem Raum zurückwichen, in dem die Kanonen- und Flintenkugeln umherflogen, ordneten die Kommandeure, die hinten stehengeblieben waren, sie sofort von neuem, stellten die Disziplin wieder her und führten sie vermöge dieser Disziplin wieder in den Bereich des Feuers zurück, in welchem sie unter der Einwirkung der Todesfurcht die Disziplin wieder verloren und sich nach ihren zufälligen Eingebungen umherbewegten.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 374-379.
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