[405] Der furchtbare Anblick des mit Leichen und Verwundeten bedeckten Schlachtfeldes (im Verein mit der drückenden Benommenheit seines Kopfes und mit der Nachricht, daß zwanzig seiner besten Generale gefallen oder verwundet seien, und mit dem Bewußtsein der Kraftlosigkeit seines früher so starken Armes) hatte eine unerwartete Wirkung auf Napoleon hervorgebracht, der es gewöhnlich liebte, die Getöteten und Verwundeten[405] zu betrachten, weil er dabei seiner Meinung nach seine Geistesstärke erprobte. An diesem Tag jedoch war jene Geistesstärke, die er an sich als einen besonderen Vorzug und als einen Beweis seiner Größe betrachtete, von dem entsetzlichen Anblick des Schlachtfeldes überwältigt worden. Er war eilig vom Schlachtfeld wieder weggeritten und nach dem Hügel von Schewardino zurückgekehrt. Mit gelbem, verschwollenem Gesicht, trüben Augen, geröteter Nase und heiserer Stimme saß er schwerfällig auf seinem Feldstuhl und horchte unwillkürlich, ohne die Augen zu erheben, auf die Töne des Geschützfeuers. In peinlicher Unruhe wartete er auf das Ende jenes Werkes, bei dem er sich für einen Mitwirkenden hielt, das er aber nicht imstande war aufzuhalten. Ein persönliches menschliches Gefühl gewann bei ihm für einen kurzen Augenblick die Oberhand über jenes künstliche Phantom des Lebens, dem er so lange gedient hatte. Er übertrug die Leiden und den Tod, die er auf dem Schlachtfeld gesehen hatte, in Gedanken auf sich selbst. Der schwere Druck, den er im Kopf und in der Brust empfand, erinnerte ihn an die Möglichkeit, daß Leiden und Tod auch ihn treffen könnten. Was er in diesem Augenblick für sich begehrte, das war nicht Moskau, nicht Sieg, nicht Ruhm (was brauchte er noch Ruhm!). Das einzige, was er jetzt begehrte, war Erholung, Ruhe und Freiheit.
Als er vorhin auf der Höhe von Semjonowskoje war, hatte ihm der Kommandeur der Artillerie vorgeschlagen, einige Batterien auf diesen Höhen aufzustellen, um das Feuer auf die bei Knjaskowo dichtgedrängt stehenden russischen Truppen zu verstärken. Napoleon hatte seine Zustimmung gegeben und befohlen, es solle ihm berichtet werden, welche Wirkung diese Batterien ausübten. Nun kam ein Adjutant herbeigeritten, um zu melden, daß dem Befehl des Kaisers gemäß zweihundert Geschütze auf die[406] Russen gerichtet seien, die Russen aber trotzdem unverändert standhielten.
»Unser Feuer reißt sie reihenweis nieder; aber sie halten dennoch stand«, meldete der Adjutant.
»Sie wollen noch mehr davon!« erwiderte Napoleon heiser.
»Sire?« fragte der Adjutant, der nicht deutlich verstanden hatte.
»Sie wollen noch mehr davon«, wiederholte Napoleon stirnrunzelnd mit rauher, zischender Stimme. »Lassen Sie es ihnen verabfolgen.«
Auch ohne seinen Befehl hätte sich das vollzogen, was in Wirklichkeit gar nicht ein Produkt seines Willens war und was er nur anordnete, weil er meinte, daß man von ihm Befehle erwarte. Und nun versetzte er sich wieder in seine künstliche Welt mit dem Phantom von Größe und begann wieder (wie das Pferd, das auf den schrägen Schaufeln der Tretmaschine geht, sich einbildet, etwas in seinem eigenen Interesse zu tun), gehorsam die grausame, traurige, schwere, unmenschliche Rolle zu spielen, zu der er prädestiniert war.
Und nicht allein in dieser Stunde und an diesem Tag waren der Geist und das Gewissen dieses Mannes verdunkelt, der schwerer als alle anderen bei diesem Werk Mitwirkenden an der Last dessen, was sich vollzog, zu tragen hatte; nein, niemals, bis an sein Lebensende nicht, hat er für das Gute, Schöne und Wahre und für die Bedeutung seiner eigenen Taten ein Verständnis besessen. Diese Taten standen eben in zu schroffem Widerspruch zum Guten und Wahren und waren zu weit von aller Menschlichkeit entfernt, als daß er ihre Bedeutung hätte verstehen können. Er konnte seine Taten nicht verleugnen, die von der halben Welt gepriesen wurden, und so mußte er denn das Wahre und Gute und alles Menschliche verleugnen.
Nicht nur an diesem Tag zählte er bei seinem Ritt über das[407] mit Toten und Verstümmelten besäte Schlachtfeld, das er für sein Werk hielt, wieviel Russen auf einen Franzosen kamen, und fand in seltsamer Selbsttäuschung Anlaß sich zu freuen, weil auf einen Franzosen fünf Russen kamen; nicht nur an diesem Tag schrieb er in einem Brief nach Paris: »Das Schlachtfeld war herrlich«, weil auf ihm fünfzigtausend Leichen lagen. Sondern auch auf der Insel St. Helena, in der Stille der Einsamkeit, wo er, wie er sagte, seine Muße der Darstellung seiner großen Taten zu widmen beabsichtigte, schrieb er folgendes:
»Der Krieg gegen Rußland hätte verdient, der populärste aller Kriege der Neuzeit zu sein: es war ein Krieg, der für die gesunde Vernunft und die wahren Lebensinteressen, für die Ruhe und Sicherheit aller geführt wurde; sein Zweck war ein rein friedlicher, konservativer.
Es handelte sich um ein großes Ziel: das Ende aller Wagestücke und den Beginn der Sicherheit. Ein neuer Horizont, neue Aufgaben waren im Begriff sich zu erschließen, die lediglich auf das Glück und Wohlergehen aller gerichtet waren. Das europäische System war gegründet; es kam nur noch darauf an, es zu organisieren.
Sobald ich in betreff dieser wichtigen Punkte befriedigt und nach allen Seiten hin gesichert gewesen wäre, hätte auch ich meinen Kongreß und meine heilige Allianz gehabt. Es sind dies Ideen, die man mir gestohlen hat. In dieser Vereinigung großer Herrscher hätten wir unsere Interessen wie Mitglieder einer einzigen Familie besprochen und den Völkern über unsere gesamte Verwaltung Rechnung gelegt.
Auf diese Weise wäre Europa in kurzer Zeit tatsächlich nur ein einziges Volk gewesen, und jedermann hätte sich, mochte er reisen, wohin er wollte, immer in dem gemeinsamen Vaterland befunden. Ich hätte verlangt, daß das Recht der Schiffahrt auf[408] den Flüssen einem jeden zustehe, die Meere Gemeinbesitz seien und die großen stehenden Heere künftig auf eine bloße Leibwache der Herrscher reduziert würden.
Sobald ich nach Frankreich, in den Schoß des großen, starken, herrlichen, gesicherten, ruhmvollen Vaterlandes, zurückgekehrt gewesen wäre, hätte ich eine Proklamation erlassen, des Inhalts: seine Grenzen sollten unveränderlich sein, jeder künftige Krieg einen lediglich defensiven Charakter tragen und jede weitere Vergrößerung als antinational betrachtet werden. Ich hätte meinem Sohn einen Anteil an der Herrschaft gegeben; meine Diktatur wäre zu Ende gewesen, und seine konstitutionelle Regierung hätte begonnen.
Paris wäre die Hauptstadt der Welt geworden und die Franzosen für alle Nationen ein Gegenstand des Neides!
Meine Mußestunden und meine alten Tage hätte ich dann in Gemeinschaft mit der Kaiserin während der Regierungslehrzeit meines Sohnes dazu benutzt, gemächlich wie ein richtiges Paar Landedelleute im eigenen Wagen alle Winkel des Reiches zu besuchen, Beschwerden entgegenzunehmen, Ungerechtigkeiten zu beseitigen und überall und an allen Orten großartige Gebäude zu errichten und Wohltaten auszustreuen.«
Er, den die Vorsehung zu der traurigen, unfreien Rolle eines Henkers der Völker prädestiniert hatte, bildete sich ein, das Ziel seiner Handlungen sei das Wohl der Völker gewesen, und er hätte das Schicksal vieler Millionen leiten und ihnen durch seine Herrschaft Wohltaten erweisen können!
»Von den vierhunderttausend Mann, die die Weichsel überschritten«, schreibt er weiter über den russischen Krieg, »waren die Hälfte Österreicher, Preußen, Sachsen, Polen, Bayern, Württemberger, Mecklenburger, Spanier, Italiener, Neapolitaner. Die kaiserliche Armee im engeren Sinn bestand zu einem[409] Drittel aus Holländern, Belgiern, Bewohnern der Rheinufer, Piemontesen, Schweizern, Genfern, Toskanern, Römern, Bewohnern der zweiunddreißigsten Militärdivision, Bremens, Hamburgs usw.; sie zählte kaum hundertvierzigtausend Mann französischer Zunge. Der russische Feldzug hat dem eigentlichen Frankreich nicht fünfzigtausend Mann gekostet. Die russische Armee hat auf dem Rückzug von Wilna nach Moskau und in den verschiedenen Schlachten viermal soviel verloren als die französische Armee; der Brand von Moskau hat hunderttausend Russen das Leben gekostet, die in den Wäldern vor Kälte und Entbehrungen gestorben sind; und endlich hat die russische Armee auf ihrem Marsch von Moskau bis zur Oder ebenfalls an den Unbilden der Jahreszeit zu leiden gehabt; bei ihrer Ankunft in Wilna zählte sie nur noch fünfzigtausend Mann und in Kalisch kaum noch achtzehntausend.«
Er bildete sich ein, der Krieg mit Rußland habe nach seinem Willen stattgefunden; aber kein Schrecken über das, was sich da vollzogen hatte, erschütterte seine Seele. Kühn nahm er die ganze Verantwortung für dieses Geschehnis auf sich, und sein verdunkelter Geist erblickte eine Entschuldigung in dem Umstand, daß sich unter den Hunderttausenden umgekommener Menschen weniger Franzosen als Hessen und Bayern befunden hatten.
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