XXXIX

[410] Viele, viele Tausende von Menschen lagen tot in verschiedenen Körperhaltungen und Uniformen auf den Feldern und Wiesen, die den Herren Dawydow und fiskalischen Bauern gehörten, auf jenen Feldern und Wiesen, auf denen jahrhundertelang die Bauern der Dörfer Borodino, Gorki, Schewardino und Semjonowskoje Getreide gebaut und ihr Vieh geweidet hatten.[410] Auf den Verbandsplätzen waren in einer Ausdehnung von einer Deßjatine das Gras und die Erde mit Blut getränkt. Scharen von verwundeten und nichtverwundeten Soldaten verschiedener Truppenteile strömten mit verstörten Gesichtern auf der einen Seite zurück nach Moschaisk, auf der andern Seite zurück nach Walujewo. Andere Scharen marschierten, ermüdet und hungrig, unter Führung ihrer Befehlshaber vorwärts. Wieder andere blieben auf ihren Plätzen stehen und fuhren fort zu schießen.

Über dem ganzen Feld, das vorher in der Morgensonne mit den blitzenden Bajonetten und den kleinen Rauchwölkchen einen so heiteren, schönen Anblick dargeboten hatte, lagerte jetzt ein Nebel von Feuchtigkeit und Rauch, und ein eigentümlicher säuerlicher Geruch nach Salpeter und Blut machte sich spürbar. Regenwolken zogen sich zusammen, und es fielen einzelne Tropfen herab auf die Getöteten und die Verwundeten, auf die angsterfüllten, ermatteten, unschlüssigen Menschen. Und es war, als wollte dieser leise Regen sagen: »Genug, genug, ihr Menschen! Hört auf! Kommt zur Besinnung! Was tut ihr?«

Auf der einen wie auf der andern Seite begann bei den Mannschaften, die durch den Mangel an Nahrung und Erholung entkräftet waren, sich in gleicher Weise der Zweifel zu regen, ob sie einander noch länger vernichten sollten, und auf allen Gesichtern konnte man diese Unschlüssigkeit wahrnehmen, und in der Seele eines jeden erhob sich gleichmäßig die Frage: »Wozu und für wen soll ich noch morden und mich morden lassen? Mordet, wen ihr wollt; tut, was ihr wollt; aber ich will nicht mehr mittun!« Dieser Gedanke bildete sich gegen Abend in der Seele eines jeden heraus. Es schien nicht unmöglich, daß im nächsten Augenblick alle diese Menschen von Entsetzen ergriffen werden würden über das, was sie taten, alles von sich werfen und nach irgendeiner beliebigen Richtung davonlaufen würden.[411]

Aber obgleich gegen Ende der Schlacht die Menschen sich bereits der ganzen Entsetzlichkeit ihres Tuns bewußt wurden und froh gewesen wären aufzuhören, so fuhr dennoch eine unfaßbare, geheimnisvolle Macht immer noch fort, sie zu leiten, und die schweißtriefenden, auf ein Drittel zusammengeschmolzenen Artilleristen trugen mitten in Blut und Pulverrauch, ob auch vor Müdigkeit stolpernd und keuchend, immer noch Geschosse herbei, luden, richteten, legten die Lunten an: und die Kanonenkugeln flogen noch ebenso schnell und furchtbar von jeder Seite zur andern hinüber und zermalmten Menschenleiber, und es dauerte jenes schreckliche Werk fort, das sich nicht nach menschlichem Willen vollzieht, sondern nach dem Willen dessen, der die Menschen und die Welten lenkt.

Wer die Auflösung hinter der Front der russischen Armee betrachtet hätte, der hätte sagen müssen, daß die Franzosen nur noch eine geringe Anstrengung hätten zu machen brauchen, und die russische Armee wäre vernichtet worden; und wer den Zustand hinter der Front der Franzosen betrachtet hätte, der hätte sagen müssen, daß die Russen nur noch eine geringe Anstrengung hätten zu machen brauchen, und die Franzosen wären zugrunde gerichtet gewesen. Aber weder die Franzosen noch die Russen machten diese Anstrengung, und die Flamme des Kampfes erlosch langsam.

Die Russen machten diese Anstrengung nicht, weil sie von vornherein nicht die Angreifer gewesen waren. Zu Anfang der Schlacht hatten sie lediglich auf dem Weg nach Moskau gestanden und diesen versperrt, und am Ende der Schlacht standen sie noch genau ebenso wie zu Anfang. Aber selbst wenn der Zweck der Russen darin bestanden hätte, die Franzosen zu schlagen, so konnten sie doch diese letzte Anstrengung nicht machen, weil alle ihre Truppen sich in geschwächtem Zustand befanden und es keinen einzigen Teil des Heeres gab, der in der Schlacht nicht[412] hätte gelitten gehabt, und die Russen zwar in ihren Stellungen geblieben waren, aber die Hälfte ihres Heeres verloren hatten.

Den Franzosen mit ihrer Erinnerung an all ihre Siege in den letzten fünfzehn Jahren, mit ihrem festen Glauben an die Unbesiegbarkeit Napoleons, mit ihrem Bewußtsein, daß ein Teil des Schlachtfeldes in ihrer Gewalt war und sie nur ein Viertel ihrer Leute verloren hatten und noch die zwanzigtausend Mann starke Garde unangerührt besaßen, den Franzosen wäre es ein leichtes gewesen, diese Anstrengung zu machen. Und die Franzosen, die das russische Heer mit der Absicht angegriffen hatten, es aus seiner Stellung hinauszuwerfen, hätten diese Anstrengung machen müssen; denn solange die Russen noch genau so wie vor der Schlacht den Weg nach Moskau versperrten, war das Ziel der Franzosen nicht erreicht, und alle ihre Anstrengungen und Verluste waren vergeblich gewesen. Aber die Franzosen machten diese Anstrengung nicht. Manche Geschichtsschreiber sagen, Napoleon hätte nur seine unangerührte alte Garde hin zugeben brauchen, dann wäre die Schlacht gewonnen gewesen. Darüber zu reden, was geschehen wäre, wenn Napoleon seine Garde hingegeben hätte, das ist ganz dasselbe, wie wenn man darüber reden wollte, was geschehen würde, wenn im Herbst der Frühling anbräche. Das konnte einfach nicht geschehen. Es stand nicht etwa so, daß Napoleon seine Garde nicht hingab, weil er es nicht tun wollte, sondern es war ihm unmöglich, dies zu tun. Alle Generale, Offiziere und Soldaten der französischen Armee wußten, daß es unmöglich war, dies zu tun, weil der gesunkene Geist des Heeres es nicht gestattete.

Und nicht Napoleon allein machte jenes traumähnliche Gefühl durch, daß der zu furchtbarem Schlag ausholende Arm kraftlos niedersinkt, sondern alle Generale und alle Soldaten der französischen Armee, mochten sie nun am Kampf teilgenommen[413] haben oder nicht, hatten nach allen Erfahrungen der früheren Schlachten (wo es immer nur des zehnten Teiles der heutigen Anstrengungen bedurft hatte, um den Feind zum Fliehen zu bringen) gleichmäßig eine Empfindung des Schreckens vor diesem Feind, der, nachdem er die Hälfte seiner Truppen verloren hatte, am Ende der Schlacht noch ebenso drohend dastand wie beim Beginn. Die moralische Kraft der angreifenden französischen Armee war erschöpft. Die Russen hatten bei Borodino nicht jenen Sieg errungen, der nach erbeuteten, an Stangen genagelten Zeugstücken, Fahnen genannt, und nach dem Raum, auf dem die Truppen gestanden haben und stehen, beurteilt wird, sondern jenen moralischen Sieg, der den Gegner von der geistigen Überlegenheit seines Feindes und von seiner eigenen Kraftlosigkeit überzeugt. Wie ein wütendes Tier, das im vollen Ansturm eine tödliche Wunde empfangen hat, fühlte das französische Invasionsheer, daß ihm der Untergang sicher war; aber es konnte nicht anhalten, ebenso wie das nur halb so starke russische Heer nichts anderes tun konnte, als ihm ausweichen. Nach dem ihm einmal erteilten Anstoß konnte sich das französische Heer noch bis Moskau weiterbewegen; aber dort mußte es ohne neue Anstrengungen von seiten des russischen Heeres zugrunde gehen, da es an der tödlichen bei Borodino empfangenen Wunde verblutete. Die direkte Folge der Schlacht bei Borodino war die Flucht Napoleons aus Moskau ohne neue Ursachen, der Rückzug auf der alten Smolensker Straße, die Vernichtung des fünfhunderttausend Mann starken Invasionsheeres und der Untergang des Napoleonischen Frankreich, auf das zum erstenmal bei Borodino der Arm eines an Geist und Mut überlegenen Gegners niedergefallen war.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 410-414.
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