[188] Von Smolensk aus zogen sich die russischen Truppen immer weiter zurück, und die Feinde folgten ihnen. Am 10. August kam das Regiment, das Fürst Andrei befehligte, auf der großen Straße an dem Weg vorüber, der nach Lysyje-Gory abzweigte. Schon seit mehr als drei Wochen herrschten Hitze und Trockenheit. Täglich zogen am Himmel krause Wolken hin, die ab und zu die Sonne verdeckten; aber zum Abend klärte es sich immer wieder auf, und die Sonne ging in braunrotem Dunst unter. Nur in der Nacht erfrischte starker Tau die Erde. Das noch auf dem Feld stehende Getreide verdorrte und fiel aus. Die Sümpfe waren ausgetrocknet. Das Vieh, das auf den von der Sonne verbrannten Wiesen keine Nahrung fand, brüllte vor Hunger. Nur nachts und in den Wäldern, solange der Tau sich[188] noch hielt, war es kühl. Aber auf der großen Landstraße, auf der die Truppen marschierten, merkte man selbst bei Nacht und in den Wäldern nichts von dieser Abkühlung. In dem Sandstaub des mehr als eine Spanne tief zertretenen und aufgewühlten Weges war kein Tau zu spüren. Sowie es morgens dämmerte, wurde der Marsch angetreten. Lautlos bewegte sich alles in dem weichen, dunstigen, bei Nacht nicht abgekühlten, heißen Staub vorwärts, in den die Wagen und die Geschütze bis an die Naben, die Fußgänger bis an die Knöchel einsanken. Ein Teil dieses Sandstaubes wurde durch die Füße und Räder zusammengeknetet; aber ein anderer Teil stieg in die Höhe, stand als Wolke über den Truppen und setzte sich in den Augen, den Haaren, den Ohren, den Nasenlöchern und ganz besonders in den Lungen der Menschen und Tiere fest, die auf diesem Weg dahinzogen. Je höher die Sonne stieg, um so höher erhob sich auch diese Staubwolke, und durch diesen feinen, heißen Staub hindurch konnte man in die Sonne, auch wenn sie nicht von Wolken verhüllt war, mit bloßem Auge hineinsehen. Die Sonne erschien als ein großer, purpurner Ball. Wind war nicht vorhanden, und die Menschen erstickten fast in dieser unbeweglichen Luft. Auf dem Marsch banden sie sich Tücher um Nase und Mund. Kam man zu einem Dorf, so stürzten alle zu dem Ziehbrunnen hin. Man schlug sich um das Wasser und trank es bis auf den schmutzigen Grund aus.
Fürst Andrei kommandierte ein Regiment, und seine Zeit und sein Interesse waren hinreichend damit ausgefüllt, daß er sein Regiment in guter Ordnung hielt, für das Wohlergehen seiner Leute sorgte und die notwendigen Befehle empfing und erteilte. Der Brand von Smolensk und die Räumung dieser Stadt bildeten für des Fürsten Andrei gesamte Anschauungsweise eine Epoche. Ein neues Gefühl des Hasses gegen den Feind ließ ihn seinen eigenen Kummer vergessen. Er widmete sich völlig der[189] Tätigkeit für sein Regiment, sorgte treu für seine Mannschaft und für seine Offiziere und war gegen sie freundlich. Im Regiment wurde er »unser Fürst« genannt; man war stolz auf ihn und liebte ihn. Aber gut und freundlich war er nur gegen die Angehörigen seines Regiments, gegen Timochin und Leute von dessen Art, gegen völlig neue Menschen aus einer fremden Sphäre, gegen Menschen, die von seiner Vergangenheit nichts wissen und nichts verstehen konnten; aber sowie er mit einem seiner früheren Kameraden aus dem Stab zusammentraf, kehrte er sofort wieder alle Stacheln heraus und nahm einen boshaften, spöttischen, geringschätzigen Ton an. Alles, was in ihm die Erinnerung an die Vergangenheit wachrief, stieß ihn ab, und daher war sein Bestreben, wo er mit dieser seiner früheren Welt in Berührung kam, lediglich darauf gerichtet, sich nichts Unrechtes zuschulden kommen zu lassen und seine Pflicht zu erfüllen.
Allerdings erschien dem Fürsten Andrei alles in trübem, düsterem Licht, namentlich nachdem Smolensk, das man nach seiner Ansicht hätte verteidigen können und verteidigen müssen, am 6. August geräumt war, und nachdem sich für seinen kranken Vater die Notwendigkeit ergeben hatte, zu flüchten und das so sehr geliebte Lysyje-Gory der Plünderung preiszugeben, das er selbst gebaut und mit Einwohnern besiedelt hatte; aber trotzdem war Fürst Andrei dank seiner Stellung als Regimentskommandeur imstande, an einen anderen Gegenstand zu denken, der mit allgemeinen Fragen in gar keinem Zusammenhang stand: eben an sein Regiment. Am 10. August kam die Heeresabteilung, zu der sein Regiment gehörte, an Lysyje-Gory seitwärts vorbei. Fürst Andrei hatte zwei Tage vorher die Nachricht erhalten, daß sein Vater, sein Sohn und seine Schwester nach Moskau abgereist seien. Obgleich Fürst Andrei unter diesen Umständen nun eigentlich in Lysyje-Gory nichts mehr zu tun hatte, entschloß[190] er sich mit der ihm eigenen Passion, in seinem Gram zu wühlen, dennoch, einen Abstecher dorthin zu machen.
Er ließ sich ein frisches Pferd satteln und ritt, von der marschierenden Kolonne seitlich abbiegend, nach seinem väterlichen Gut, wo er geboren war und seine Kindheit verlebt hatte. Als er an dem Teich vorbeikam, an dem sonst immer Dutzende von Weibern unter munterem Geschwätz ihre Wäsche mit den Holzschlegeln klopften und spülten, bemerkte er, daß niemand am Teich war und das losgerissene Floß, halb vom Wasser überspült, schief mitten auf dem Teich schwamm. Fürst Andrei ritt zu dem Wächterhäuschen hin. Bei dem steinernen Eingangstor war kein Mensch zu sehen, und die Tür stand offen. Die Gartenwege waren schon mit Unkraut bewachsen, und Kälber und Pferde gingen im englischen Garten umher. Fürst Andrei ritt nach den Treibhäusern: die Glasscheiben waren zerbrochen, von den Bäumen in Kübeln manche umgeworfen, andere vertrocknet. Er rief nach dem Gärtner Taras; aber niemand antwortete. Als er dann um die Treibhäuser herum nach dem Vorplatz bog, sah er, daß der Lattenzaun völlig zerstört und die Pflaumen mitsamt den Zweigen von den Bäumen heruntergerissen waren. Ein alter Bauer (Fürst Andrei hatte ihn in seiner Kindheit manchmal am Tor gesehen) saß auf einer grünen Bank und flocht Bastschuhe.
Er war taub und hatte nicht gehört, daß Fürst Andrei herangeritten kam. Er saß auf derselben Bank, auf der sonst der alte Fürst immer gern gesessen hatte; neben ihm hing der Bast auf den Zweigen einer umgeknickten, vertrockneten Magnolie.
Fürst Andrei ritt nach dem Haus hin. Mehrere Linden in dem alten Garten waren umgehauen; eine scheckige Stute mit ihrem Fohlen ging dicht vor dem Haus zwischen den Rosenstöcken umher. Am Haus waren die Fensterläden geschlossen. Nur ein einziges Fenster unten war offen. Ein Gutsjunge, der den Fürsten[191] Andrei erblickte, lief schnell ins Haus hinein; Alpatytsch, der seine Familie fortgeschickt hatte, war allein in Lysyje-Gory zurückgeblieben; er saß im Haus und las die Heiligenlegenden. Sobald er von der Ankunft des Fürsten Andrei erfuhr, kam er, noch mit der Brille auf der Nase und sich im Gehen den Rock zuknöpfend, eilig aus dem Haus, trat auf den Fürsten zu, brach, ohne ein Wort zu sagen, in Tränen aus und küßte dem Fürsten Andrei das Knie.
Dann wandte er sich, ärgerlich über seine eigene Schwäche, ab und begann ihm über den Stand der Dinge Bericht zu erstatten. Alle Kostbarkeiten und Wertgegenstände waren nach Bogutscharowo gebracht. Auch das Korn, etwa hundert Tschetwert, war dorthin transportiert; das Heu hatten die Soldaten genommen, auch hatten sie das noch unreife, nach Alpatytschs Angabe in diesem Jahr ungewöhnlich gute Sommergetreide abgemäht. Die Bauern waren zugrunde gerichtet; die meisten waren ebenfalls nach Bogutscharowo gezogen; ein kleiner Teil war zurückgeblieben.
Fürst Andrei fragte, ohne seinen Bericht zu Ende zu hören:
»Wann sind mein Vater und meine Schwester abgereist?« Er meinte damit, wann sie nach Moskau gefahren wären.
Alpatytsch, welcher glaubte, die Frage beziehe sich auf die Abreise nach Bogutscharowo, antwortete, sie seien am 7. abgereist, begann wieder ausführlich von Wirtschaftsangelegenheiten zu sprechen und erbat sich Instruktionen.
»Befehlen Sie, daß den Truppen Hafer gegen Quittung abgelassen wird? Wir haben noch sechshundert Tschetwert übrig«, fragte Alpatytsch.
»Was soll ich ihm darauf antworten?« dachte Fürst Andrei, während er auf den in der Sonne glänzenden Kahlkopf des alten Mannes blickte und aus dem Gesichtsausdruck desselben entnahm,[192] daß dieser sich des Unzeitgemäßen dieser Fragen selbst sehr wohl bewußt war und nur fragte, um seinen eigenen Kummer zu übertäuben.
»Ja, ja, laß nur ab«, erwiderte er.
»Wenn Sie im Garten Unordnung bemerkt haben«, sagte Alpatytsch, »so wollen Sie deswegen nicht zürnen: es war unmöglich, es zu verhüten; drei Regimenter sind hier durchgezogen und haben hier übernachtet, namentlich auch Dragoner. Ich habe die Namen und Titel der Kommandeure aufgeschrieben, um Beschwerden einzureichen.«
»Nun, und was wirst du selbst denn jetzt anfangen? Wirst du hierbleiben, wenn der Feind kommt?« fragte ihn Fürst Andrei.
Alpatytsch wandte sein Gesicht dem Fürsten Andrei zu, blickte ihn an und hob plötzlich mit feierliche Gebärde die Hände zum Himmel.
»Er ist mein Beschützer; Sein Wille geschehe!« sagte er.
Ein Haufe von Bauern und Gutsleuten kam barhäuptig über die Wiese und näherte sich dem Fürsten Andrei.
»Nun, dann leb wohl!« sagte Fürst Andrei und beugte sich zu Alpatytsch hinunter. »Geh nur auch fort und nimm mit, was du kannst; die Leute laß auf das Rjasansche Gut oder auf das bei Moskau gehen.«
Alpatytsch drückte sich gegen das Bein des Fürsten und schluchzte. Fürst Andrei schob ihn behutsam zurück, trieb sein Pferd an und galoppierte die Allee hinunter.
Auf dem Vorplatz bei den Treibhäusern saß immer noch ebenso teilnahmslos wie vorher, einer Fliege auf dem Antlitz eines teuren Verstorbenen vergleichbar, der Alte und klopfte an dem Leisten eines Bastschuhes herum, und zwei kleine Mädchen, die Kleiderschöße voll Pflaumen, die sie von den in den Treibhäusern gezogenen Bäumchen abgerissen hatten, kamen von dort gelaufen[193] und stießen gerade auf den Fürsten Andrei. Als sie den jungen Herrn erblickten, ergriff das ältere Mädchen, auf dessen Gesicht sich der Schreck deutlich ausprägte, ihre jüngere Kameradin bei der Hand und versteckte sich mit ihr hinter einer Birke, ohne sich Zeit zu nehmen, einige dabei hingefallene grüne Pflaumen aufzusammeln.
Mit ängstlicher Eile wendete sich Fürst Andrei von ihnen ab, damit sie nicht merken möchten, daß er sie gesehen hatte. Diese hübsche ältere Kleine, die einen solchen Schreck bekommen hatte, tat ihm leid. Er fürchtete sich, sie anzusehen, hatte aber gleichzeitig ein unwiderstehliches Verlangen, es zu tun. Ein neues, tröstliches, beruhigendes Gefühl war über ihn gekommen, als er beim Anblick dieser Mädchen die Existenz anderer, ihm völlig fremder und doch ebenso berechtigter menschlicher Interessen erkannt hatte, wie es diejenigen waren, die ihn beschäftigten. Diese beiden kleinen Mädchen hatten offenbar nur den einen leidenschaftlichen Wunsch, diese grünen Pflaumen davonzutragen und aufzuessen, ohne dabei ertappt zu werden, und Fürst Andrei wünschte mit ihnen ihrem Unternehmen ein gutes Gelingen. Er konnte sich doch nicht enthalten, noch einmal nach den beiden hinzublicken. Sich bereits in Sicherheit glaubend, sprangen sie aus ihrem Versteck hervor, und mit den hellen Stimmchen lustig zwitschernd und die Kleiderschöße in die Höhe haltend, liefen sie schnell und munter mit ihren verbrannten, nackten Füßchen durch das Gras der Wiese dahin.
Fürst Andrei hatte es als eine Erfrischung empfunden, daß er für eine Weile aus dem Bereich des Staubes der großen Landstraße, auf der die Truppen marschierten, herausgekommen war. Aber nicht weit von Lysyje-Gory bog er wieder in die große Straße ein und erreichte sein Regiment an einem Rastplatz, bei dem Damm eines kleinen Teiches. Es war zwei Uhr nachmittags.[194] Die Sonne, ein roter Ball in dem Staub, brannte und stach unerträglich auf dem Rücken durch den schwarzen Rock hindurch. Der Staub, der sich noch nicht vermindert hatte, schwebte unbeweglich über den lagernden Truppen, deren Redegesumm weithin zu hören war. Kein Lüftchen rührte sich. Als Fürst Andrei auf den Damm ritt, wehte ihm vom Teich her eine leise Kühlung und der Geruch von Schlamm und Wasserpflanzen entgegen. Ein Verlangen zu baden kam ihm an, mochte das Wasser auch noch so schmutzig sein. Er blickte nach dem Teich hin, von welchem Geschrei und Gelächter herübertönte. Der kleine, trübe, mit grünen Wasserpflanzen durchwachsene Teich war augenscheinlich um einen Fuß gestiegen und überflutete den Damm, weil er ganz voll war von einer Menge nackter, weißer, darin umherplätschernder Soldatenleiber mit ziegelroten Händen, Gesichtern und Hälsen. All dieses nackte, weiße Menschenfleisch plätscherte unter Lachen und Kreischen in dieser schmutzigen Pfütze umher, wie Karauschen, die in eine Gießkanne zusammengepfercht sind. Dieses Plätschern zeugte von Frohsinn und Heiterkeit und machte eben dadurch einen um so schmerzlicheren Eindruck.
Ein junger, blonder Soldat von der dritten Kompanie (Fürst Andrei kannte ihn sogar), mit einem kleinen Riemen unterhalb der Wade, bekreuzte sich und trat dann ein paar Schritte zurück, um einen ordentlichen Anlauf zu nehmen und sich ins Wasser zu stürzen; ein anderer, ein schwarzhaariger, immer strubbliger Unteroffizier, stand bis über die Hüften im Wasser, zuckte wohlig mit dem muskulösen Körper und prustete vergnügt, indem er sich mit seinen schwarzbehaarten Händen Wasser über den Kopf schüttete. Man hörte, wie die Soldaten einander klatschende Schläge versetzten, kreischten und juchzten.
An den Ufern und auf dem Damm und im Teich, überall sah man weißes, gesundes, muskulöses Fleisch. Der rotnasige[195] Offizier Timochin trocknete sich auf dem Damm mit einem Handtuch ab und genierte sich, als er den Fürsten erblickte; indes entschloß er sich doch, ihn anzureden.
»Das tut wohl!« sagte er. »Euer Durchlaucht sollten es auch tun!«
»Es ist gar zu schmutzig«, erwiderte Fürst Andrei, die Stirn runzelnd.
»Wir werden es sofort für Sie reinigen.« Und noch nicht angekleidet lief Timochin hin, um die Reinigung anzuordnen.
»Der Fürst will baden.«
»Welcher? Unser Fürst?« fragten mehrere Soldaten, und alle gerieten so in Hast und Eifer, daß Fürst Andrei sie nur mit Mühe beruhigen konnte. Es war ihm der Gedanke gekommen, sich lieber in der Scheune des Müllers mit Wasser zu begießen.
»Menschenfleisch, chair à canon, Kanonenfutter!« dachte er, als er seinen eigenen nackten Körper ansah, und schauderte zusammen, nicht sowohl vor Kälte, als vielmehr infolge eines ihm selbst nicht recht verständlichen Widerwillens und Schreckens, den er beim Anblick dieser gewaltigen Menge von Menschenleibern, die in dem schmutzigen Teich umherplätscherten, empfunden hatte.
Am 7. August schrieb Fürst Bagration von seinem an der Smolensker Landstraße gelegenen Marschquartier Michailowka aus den folgenden Brief:
»Gnädiger Herr Graf Alexei Andrejewitsch!«
(Er schrieb an Araktschejew, wußte aber, daß auch der Kaiser seinen Brief lesen werde, und überlegte daher, soweit er dazu imstande war, jedes seiner Worte.)
»Ich meine, der Minister wird bereits berichtet haben, daß Smolensk dem Feind überlassen ist. Es ist schmerzlich und tief[196] betrübend, daß man einen so wichtigen Platz ohne zwingenden Grund aufgegeben hat, und die ganze Armee ist darüber in Verzweiflung. Ich meinerseits habe den Minister persönlich und zuletzt auch schriftlich auf das allerdringlichste gebeten; aber nichts vermochte Eindruck auf ihn zu machen. Ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, daß Napoleon sich in einer solchen Sackgasse befand, wie nie vorher, und daß er Smolensk nicht hätte nehmen, wohl aber die Hälfte seiner Armee verlieren können. Unsere Truppen haben sich so tapfer geschlagen wie nie vorher und werden das auch künftig tun. Ich habe mit fünfzehntausend Mann länger als fünfunddreißig Stunden standgehalten und die Feinde geschlagen; aber er hat nicht einmal vierzehn Stunden dableiben wollen. Das ist eine Schmach und Schande für unsere Armee, und er selbst täte meines Erachtens am besten, aus der Welt zu gehen. Wenn er berichtet, daß unser Verlust groß sei, so ist das eine Unwahrheit; vielleicht gegen viertausend Mann, nicht mehr, und auch das nicht; aber wenn es auch zehntausend wären, so wäre nichts darüber zu sagen ... es ist eben Krieg. Aber dafür hat der Feind eine Unmenge von Leuten verloren.
Was wäre es denn für uns für eine Anstrengung gewesen, noch zwei Tage dazubleiben? Schließlich wären die Franzosen von selbst abgezogen, weil sie kein Wasser für die Mannschaften und für die Pferde hatten. Er hatte mir sein Wort gegeben, nicht wegzugehen; aber auf einmal schickte er mir seine Disposition, daß er in der Nacht aufbrechen werde. Auf die Art ist eine ordentliche Kriegführung unmöglich, und wir können den Feind bald nach Moskau hinführen ...
Es geht das Gerücht, daß Sie an Frieden denken. Gott behüte uns jetzt vor einem Friedensschluß! Wenn Sie nach all diesen Opfern und nach einem so sinnlosen Rückzug Frieden schließen wollten, würden Sie ganz Rußland gegen sich aufbringen, und[197] jeder von uns würde es für eine Schande halten, die Uniform zu tragen. Da es einmal so weit gekommen ist, müssen wir uns auch schlagen, solange Rußland kann und solange wir Truppen auf den Beinen haben.
Das Kommando muß einer haben, nicht zwei. Ihr Minister ist vielleicht brauchbar dazu, ein Ministerium zu verwalten, aber als General ist er nicht etwa nur mäßig, sondern geradezu jammervoll; und einem solchen Mann hat man das Schicksal unseres ganzen Vaterlandes in die Hände gelegt ... Wahrhaftig, ich verliere den Verstand vor Ärger; verzeihen Sie mir, daß ich so dreist schreibe. Das ist klar: wer da rät, den Minister die Armee kommandieren zu lassen und Frieden zu schließen, der liebt den Kaiser nicht und wünscht uns allen den Untergang. Also ich gebe Ihnen den guten Rat: setzen Sie die Landwehr in Bereitschaft. Denn der Minister führt in der meisterhaftesten Art und Weise unsere fremden Gäste hinter sich her nach der Hauptstadt. Das größte Mißtrauen erweckt bei der ganzen Armee der Herr Flügeladjutant Wolzogen. Man sagt, er stehe mehr auf Napoleons Seite als auf der unsrigen, und doch ist er es, der den Minister in allem berät. Ich bin gegen ihn nicht nur höflich, sondern gehorche ihm sogar wie ein Korporal, obwohl ich einen höheren Dienstrang habe. Das ist schmerzlich für mich; aber aus Liebe zu meinem Kaiser und Wohltäter gehorche ich. Mir tut nur der Kaiser leid, daß er seine prächtige Armee solchen Menschen anvertraut. Stellen Sie sich vor, daß wir durch unsern Rückzug mehr als fünfzehntausend Mann infolge von Erschöpfung und in den Hospitälern verloren haben; wenn wir angegriffen hätten, wäre das nicht geschehen. Ich bitte Sie um alles in der Welt: was wird unsere Mutter Rußland dazu sagen, daß wir uns so feige zeigen, und warum vertrauen wir unser braves, opferfreudiges Vaterland diesem Gesindel an und erfüllen das Herz eines jeden Untertanen[198] mit Haß und Beschämung? Wovor brauchen wir denn Angst zu haben, und wen haben wir zu fürchten? Ich kann nichts dafür, daß der Minister unentschlossen, feige, unverständig und langsam ist und alle möglichen schlechten Eigenschaften besitzt. Die ganze Armee ist darüber unglücklich, schimpft auf ihn und wünscht ihm den Tod.«
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