IV

[171] Lysyje-Gory, das Gut des Fürsten Nikolai Andrejewitsch Bolkonski, lag sechzig Werst von Smolensk entfernt, ostwärts, und drei Werst von der Straße nach Moskau.

An dem Abend, an welchem der Fürst dem Verwalter Alpatytsch seine Aufträge erteilte, ließ Dessalles die Prinzessin Marja bitten, ihn zu empfangen, und teilte ihr mit, da der Fürst sich nicht ganz wohl befinde und keine Maßnahmen für seine Sicherheit treffe, aus dem Brief des Fürsten Andrei sich aber ergebe, daß ein Verbleiben in Lysyje-Gory nicht ungefährlich sei, so rate er ihr ganz ergebenst, selbst einen durch Alpatytsch zu befördernden Brief an den Gouverneur in Smolensk zu schreiben, mit der Bitte, sie von dem Stand der Dinge und dem Maß der Gefahr, welcher Lysyje-Gory ausgesetzt sei, in Kenntnis zu setzen. Den Brief an den Gouverneur hatte Dessalles für die Prinzessin Marja schon selbst geschrieben; sie unterschrieb ihn, und er wurde dem Verwalter übergeben mit der Weisung, ihn dem Gouverneur einzuhändigen und, wenn Gefahr bestehe, so schnell wie möglich zurückzukehren.

Nachdem Alpatytsch alle Aufträge empfangen hatte, trat er, von seinen Hausleuten begleitet, auf dem Kopf einen weißen Kastorhut, ein Geschenk des Fürsten, in der Hand so wie der Fürst einen Stock, aus dem Haus, um in den mit einem ledernen Verdeck versehenen und mit drei rehbraunen Pferden bespannten Reisewagen zu steigen.

Der Klöppel des Glöckchens war festgebunden und die Schellen mit Papier umwickelt. Der Fürst erlaubte niemandem in Lysyje-Gory mit Geläut zu fahren. Aber Alpatytsch hatte bei einer weiteren Fahrt an dem Glöckchen und den Schellen sein Vergnügen. Seine Untergebenen, der Dorfschreiber, der Buchführer,[172] die Leuteköchin, die herrschaftliche Köchin, zwei alte Frauen, der Laufbursche, die Kutscher und mehrere andere Gutsleute, begleiteten ihn hinaus.

Seine Tochter packte mehrere Federkissen mit Baumwollbezug in den Wagen, zum Anlehnen und zum Daraufsitzen. Seine alte Schwägerin schob verstohlen ein Bündelchen hinein. Einer der Kutscher faßte ihn unter den Arm und half ihm beim Einsteigen.

»Na, na, Weiberbagage! Diese Weiber, diese Weiber!« brummte Alpatytsch schnaubend und hastig vor sich hin, geradeso wie der Fürst zu reden pflegte, und setzte sich in den Wagen.

Nachdem Alpatytsch dem Dorfschreiber die letzten Weisungen betreffs der auszuführenden Arbeiten erteilt hatte (hierbei kopierte er den Fürsten nicht mehr), nahm er den Hut von seinem kahlen Kopf und bekreuzte sich dreimal.

»Wenn da etwas los ist ... dann komm doch gleich zurück, Jakow Alpatytsch; um Christi willen, denk an uns und habe mit uns Mitleid!« rief seine Frau, die damit auf die Gerüchte über den Gang des Krieges und die Nähe des Feindes hindeutete.

»Weiber, Weiber, Weiberbagage!« murmelte Alpatytsch und fuhr los. Er betrachtete rings um sich die Felder, die teils mit schon gelb gewordenem Roggen, teils mit dichtem, noch grünem Hafer bestanden waren, teils noch schwarz dalagen, da das zweite Umpflügen eben erst begonnen hatte.

Alpatytsch blickte während des Fahrens nach den langen Streifen der Roggenfelder hin, auf denen man an einzelnen Stellen schon angefangen hatte zu schneiden, freute sich über die außerordentlich gute Ernte an Sommergetreide in diesem Jahr, machte seine wirtschaftlichen Berechnungen über Aussaat und Ernte und rekapitulierte die Aufträge des Fürsten, um nur nichts zu vergessen.

Nachdem die Pferde unterwegs zweimal gefüttert waren, kam Alpatytsch am Abend des 4. August in der Stadt an.[173]

Auf dem Weg war er Wagenzügen und Truppen begegnet und hatte andere überholt. Als er sich Smolensk näherte, hatte er in der Ferne schießen gehört, sich aber darüber nicht weiter aufgeregt. Am stärksten hatte es ihn befremdet, daß er in der Nähe von Smolensk ein prächtiges Haferfeld sah, das Soldaten abmähten, offenbar als Futter, und auf dem Truppen lagerten; durch diesen Umstand fühlte sich Alpatytsch befremdet, vergaß ihn aber doch bald wieder, da er an seine eigenen Angelegenheiten zu denken hatte.

Alle Interessen in Alpatytschs Leben hatten sich schon seit mehr als dreißig Jahren ausschließlich innerhalb des Willensbereiches des Fürsten bewegt, und aus diesem Kreis war er nie hinausgekommen. Alles, was sich nicht auf die Erfüllung der Befehle des Fürsten bezog, hatte für Alpatytsch kein Interesse, ja existierte für ihn überhaupt nicht.

Nachdem Alpatytsch am 4. August abends in Smolensk angekommen war, fuhr er jenseits des Dnjepr in der Gatschenskaja-Vorstadt bei der Herberge des Gastwirtes Ferapontow vor, bei dem er schon seit vielen Jahren einzukehren gewohnt war. Ferapontow hatte vor zwölf Jahren durch Alpatytschs freundliche Vermittlung dem Fürsten einen Wald abgekauft, einen Holzhandel begonnen und besaß jetzt in der Gouvernementshauptstadt ein Haus, eine Herberge und einen Mehlladen. Ferapontow war ein dicker Bauer von vierzig Jahren, mit schwarzem Haar, rotem Gesicht, dicken Lippen, dicker, wulstiger Nase und ebensolchen Wulsten über den schwarzen, zusammengezogenen Augenbrauen, und einem dicken Bauch.

Er stand in Weste und baumwollenem Hemd bei seinem Laden, der nach der Straße hinaus lag. Als er Alpatytsch erblickte, trat er auf ihn zu.

»Sei willkommen, Jakow Alpatytsch. Unsere Leute hier gehen[174] aus der Stadt weg, und du kommst herein«, sagte der Herbergswirt.

»Wieso denn aus der Stadt weg?« fragte Alpatytsch.

»Ja, ich sage es ja auch: die Leute sind dumm. Alle fürchten sie sich vor den Franzosen.«

»Weibergeschwätz, Weibergeschwätz!« erwiderte Alpatytsch.

»Das ist meine Ansicht auch, Jakow Alpatytsch. Ich sage: es ist Befehl gegeben worden, ihn nicht hereinzulassen; also kann man sich auch darauf verlassen. Ja, und die Bauern verlangen drei Rubel für eine Fuhre ... die Unchristen!«

Jakow Alpatytsch hatte nur unaufmerksam zugehört. Er ließ sich einen Samowar bringen, den Pferden Heu geben, und nachdem er seinen Tee getrunken hatte, legte er sich schlafen.

Die ganze Nacht über marschierten auf der Straße Truppen an der Herberge vorbei. Am andern Tag zog Alpatytsch ein Kamisol an, das er immer nur in der Stadt trug, und machte seine Geschäftsgänge. Es war ein sonniger, schon von acht Uhr an heißer Vormittag. »Ein prachtvoller Tag für die Getreideernte!« dachte Alpatytsch. Von außerhalb der Stadt her hörte man schon vom frühen Morgen an schießen.

Von acht Uhr an gesellte sich zu den Gewehrschüssen auch Kanonendonner. Auf den Straßen war viel Volk, das es eilig hatte, hierhin und dorthin zu laufen, auch viele Soldaten; aber die Droschken fuhren ebenso wie sonst immer, und die Kaufleute standen in ihren Ladentüren, und in den Kirchen wurde Gottesdienst gehalten. Alpatytsch ging in verschiedene Läden, auf die Bureaus mehrerer Behörden, auf die Post und zum Gouverneur. Auf den Bureaus, in den Läden und auf der Post sprachen alle Menschen von der Armee und vom Feind, der schon die Stadt angriff; alle fragten sich gegenseitig, was sie tun sollten, und jeder suchte den anderen zu beruhigen.[175]

Bei dem Haus des Gouverneurs fand Alpatytsch eine große Menge Volks, eine Anzahl Kosaken und einen Reisewagen, der dem Gouverneur gehörte. Auf den Stufen vor der Haustür begegnete er zwei Edelleuten, von denen er den einen kannte. Der ihm bekannte Edelmann, ein früherer Bezirkshauptmann, redete sehr hitzig.

»Die Sache ist ja doch kein Spaß!« sagte er. »Gut noch, wenn einer alleinsteht. Wenn er dann auch arm ist, so hat er doch nur für sich zu sorgen; aber wenn so eine Familie aus dreizehn Köpfen besteht und das ganze Vermögen dahin ist, was dann ...? Nun haben sie es glücklich dahin gebracht, daß wir alle ruiniert sind; was soll man von einer Obrigkeit, die sich so verhält, denken ...? Aufhängen lassen würde ich alle diese Schurken, wenn's auf mich ankäme ...«

»Aber, aber, was reden Sie? Es wird Ihnen noch übel bekommen!« sagte der andere.

»Was scher ich mich darum; mögen sie es hören! Sind wir denn Hunde, daß wir uns so behandeln lassen müßten?« sagte der ehemalige Bezirkshauptmann und erblickte, als er sich umsah, Alpatytsch.

»Ah, Jakow Alpatytsch! Was willst du denn hier?«

»Auf Befehl Seiner Durchlaucht zu dem Herrn Gouverneur«, antwortete Alpatytsch, indem er stolz den Kopf in die Höhe hob und die Hand vorn in die Brust steckte, was er immer tat, wenn er den Fürsten erwähnte. »Der Fürst hat mir befohlen, über den Stand der Dinge Erkundigungen einzuziehen«, fügte er hinzu.

»Na, da will ich dir gleich etwas sagen«, schrie der Gutsbesitzer. »Durch die Schuld dieser Bande ist es so weit gekommen, daß jetzt nicht einmal eine Fuhre zu haben ist, nichts ...! Da sind sie, hörst du wohl?« fuhr er fort und zeigte nach der Seite, von der das Schießen herübertönte.[176]

»Die Behörden sind schuld daran, daß wir alle zu grunde gehen, ... die Schurken!« sagte er noch einmal und stieg die Stufen hinab.

Kopfschüttelnd trat Alpatytsch ins Haus und ging die Treppe hinauf. Im Wartezimmer befanden sich Kaufleute, Frauen, Beamte, die schweigend einander ansahen. Die Tür des Arbeitszimmers öffnete sich; alle erhoben sich von ihren Plätzen und drängten nach vorn. Aus der Tür kam eilig ein Beamter heraus, redete ein paar Worte mit einem Kaufmann, rief einem dicken Beamten mit einem Orden am Hals zu, er möge ihm folgen, und verschwand wieder durch die Tür, augenscheinlich bemüht, allen sich auf ihn richtenden Blicken und beabsichtigten Fragen zu entgehen. Alpatytsch stellte sich unter die Vordersten, und als der Beamte das nächste Mal hereinkam, schob er die Hand vorn in den zugeknöpften Rock, wandte sich zu dem Beamten und hielt ihm die beiden Briefe hin.

»An den Herrn Baron Asch vom General en chef Fürsten Bolkonski«, sagte er mit solcher Feierlichkeit und Wichtigkeit, daß der Beamte sich zu ihm hinwendete und ihm die Briefe abnahm.

Einige Minuten darauf wurde Alpatytsch von dem Gouverneur empfangen, der hastig zu ihm sagte:

»Bestell dem Fürsten und der Prinzessin, daß mir nichts bekannt gewesen ist; ich habe nach höheren Befehlen gehandelt. Hier, nimm das mit!« Er gab Alpatytsch ein gedrucktes Blatt. »Übrigens, da der Fürst krank ist, so möchte ich ihnen raten, nach Moskau überzusiedeln. Ich fahre selbst sogleich dorthin. Bestelle ...«

Aber der Gouverneur konnte den Satz nicht zu Ende sprechen; denn ein mit Staub und Schweiß bedeckter Offizier trat eilig herein und begann, ihm etwas auf französisch zu sagen. Jäher Schrecken malte sich auf dem Gesicht des Gouverneurs.[177]

»Geh nur«, sagte er zu Alpatytsch, indem er ihm mit dem Kopf zunickte, und richtete einige Fragen an den Offizier.

Gespannte, ängstliche, hilflose Blicke richteten sich auf Alpatytsch, als er aus dem Arbeitszimmer des Gouverneurs heraustrat. Unwillkürlich auf die jetzt schon nahen und immer lauter klingenden Schüsse hinhorchend, beeilte er sich, wieder nach seiner Herberge zu kommen. Auf dem Blatt, das ihm der Gouverneur gegeben hatte, stand folgendes:

»Ich versichere Ihnen, daß der Stadt Smolensk noch nicht die geringste Gefahr bevorsteht und daß sie wahrscheinlich von einer solchen überhaupt nicht bedroht werden wird. Ich rücke von der einen und Fürst Bagration von der andern Seite heran, um uns vor Smolensk zu vereinigen; diese Vereinigung wird am 22. vollzogen werden, und beide Heere werden mit vereinten Kräften ihre Landsleute in dem Ihnen anvertrauten Gouvernement beschützen, bis es ihren Anstrengungen gelungen sein wird, die Feinde des Vaterlandes von ihnen wegzutreiben, oder bis ihre tapferen Reihen bis auf den letzten Mann gefallen sein werden. Sie sehen hieraus, daß Sie durchaus berechtigt sind, die Bewohner von Smolensk zu beruhigen; denn wer von zwei so tapferen Heeren verteidigt wird, kann sich ihres Sieges versichert halten. (Amtliches Schreiben Barclay de Tollys an den Zivilgouverneur von Smolensk, Baron Asch, 1812.)«

Das Volk huschte unruhig in den Straßen umher.

Wagen, die mit Stühlen, Schränken und Küchengerät hochbepackt waren, kamen fortwährend aus den Torwegen der Häuser herausgefahren und fuhren dann die Straßen entlang. Vor dem Haus neben dem Ferapontowschen standen mehrere Fuhrwerke, und die Weiber nahmen mit vielem Gerede und mit vielem Heulen Abschied. Der Hofhund sprang bellend vor den angeschirrten Pferden hin und her.[178]

Alpatytsch begab sich mit eiligerem Schritte, als es sonst in seiner Gewohnheit lag, auf den Hof und ging geradewegs unter das Schuppendach zu seinen Pferden und seinem Wagen. Der Kutscher schlief. Er weckte ihn, befahl ihm anzuspannen und ging ins Haus auf den Flur. Aus dem Zimmer der Wirtsleute war das Weinen eines Kindes, das laute, krampfhafte Schluchzen einer Frau und die heisere, zornig schreiende Stimme Ferapontows zu hören. Die Köchin lief, als Alpatytsch eintrat, ganz verstört wie eine geängstigte Henne im Flur umher.

»Halbtot hat er sie geschlagen ... seine Frau! So furchtbar hat er sie geschlagen, durch das ganze Zimmer hat er sie geschleppt ...!«

»Weswegen denn?« fragte Alpatytsch.

»Sie bat ihn, er möchte sie mit einem Wagen fortschaffen. ›Ich muß doch als Mutter für die Familie sorgen‹, sagte sie. ›Schaff mich fort; morde mich nicht mit den kleinen Kindern! Alle Leute‹, sagte sie, ›sind schon weggefahren; wozu bleiben wir noch hier?‹ sagte sie. Und da hat er sie geprügelt. So furchtbar hat er sie geprügelt, und in der Stube umhergeschleppt hat er sie!«

Alpatytsch nickte wie zustimmend zu diesen Worten mit dem Kopf und ging, da er nichts weiter davon hören mochte, zu dem der Stube der Wirtsleute gegenüberliegenden Zimmer hin, in welchem er seine Einkäufe liegen hatte.

»Du Bösewicht, du Mörder!« schrie in diesem Augenblick eine magere, blasse Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm und mit heruntergerissenem Kopftuch, welche aus der Tür herausgestürzt kam und die Treppe hinunter auf den Hof lief.

Hinter ihr her kam Ferapontow aus dem Zimmer; als er Alpatytsch erblickte, schob er sich seine Weste zurecht, brachte sein Haar in Ordnung, gähnte und ging hinter Alpatytsch her in dessen Zimmer.[179]

»Willst du denn schon abfahren?« fragte er.

Ohne auf die Frage zu antworten und ohne sich nach dem Wirt umzuwenden, suchte Alpatytsch die eingekauften Sachen zusammen und fragte, wieviel er ihm für das Quartier schuldig wäre.

»Wir berechnen uns schon noch miteinander! Nun, bist du beim Gouverneur gewesen?« fragte Ferapontow. »Was hast du denn für Bescheid bekommen?«

Alpatytsch antwortete, daß der Gouverneur ihm nichts Bestimmtes gesagt habe.

»Können wir uns etwa bei unserem Geschäft davonmachen?« sagte Ferapontow. »Und bis Dorogobusch gibt man für eine Fuhre sieben Rubel. Ich sage ja: die Kerle sind die reinen Unchristen!« Dann fuhr er fort: »Seliwanow, der hat es am Donnerstag gut getroffen; er hat sein Mehl an die Armee für neun Rubel den Sack verkauft. Na, wie ist's? Willst du noch Tee trinken?« fügte er hinzu.

Während die Pferde angespannt wurden, tranken Alpatytsch und Ferapontow zusammen Tee und unterhielten sich über den Getreidepreis, über die Ernte und über das gute Erntewetter.

»Das Schießen ist doch stiller geworden«, sagte Ferapontow, nachdem er drei Tassen Tee getrunken hatte, und stand auf. »Gewiß haben die Unsrigen gesiegt. Es war ja auch angekündigt worden, sie würden den Feind nicht hereinlassen. Ja, ja, ein starkes Heer! Und neulich hieß es, Matwjei Iwanowitsch Platow habe sie in die Marina getrieben und so gegen achtzehntausend an einem Tag ersäuft.«

Alpatytsch nahm seine Einkäufe zusammen, übergab sie dem eintretenden Kutscher und bezahlte dem Wirt, was er schuldig war. Man hörte vom Torweg her, wie der Reisewagen hinausfuhr: die Räder rasselten, die Hufe klapperten, die Schellen klingelten.[180]

Der Mittag war schon lange vorüber; die eine Hälfte der Straße lag im Schatten, die andere war hell von der Sonne beschienen. Alpatytsch warf einen Blick durch das Fenster und ging zur Tür. Auf einmal erscholl ein seltsamer Laut: ein fernes Pfeifen und ein ferner Schlag, und gleich darauf ertönte das ineinanderfließende Getöse einer gewaltigen Kanonade, von der die Fenster erzitterten.

Alpatytsch trat auf die Straße hinaus; auf der Straße liefen zwei Männer nach der Brücke zu. Von verschiedenen Stellen her hörte man das Pfeifen und Einschlagen der Kanonenkugeln und das Platzen der Granaten, die in der Stadt niederfielen. Aber diese Töne waren viel weniger zu vernehmen und zogen die Aufmerksamkeit der Einwohner in weit geringerem Grad auf sich als der Donner der Kanonade, der von außerhalb her nach der Stadt herübertönte. Es war dies das Bombardement, das Napoleon um fünf Uhr aus hundertunddreißig Geschützen auf die Stadt hatte eröffnen lassen. Anfänglich begriff das Volk die Bedeutung dieses Bombardements noch nicht.

Der Schall der niederfallenden Granaten und Kanonenkugeln erweckte zunächst nur Neugier. Ferapontows Frau, die bis dahin immer noch unter dem Schuppendach geheult hatte, wurde still, kam mit dem Kind auf dem Arm zum Torweg hinaus, blickte schweigend auf das Volk und horchte nach den ungewohnten Tönen hin.

Auch die Köchin und der Ladendiener kamen ans Tor. Alle bemühten sich mit fröhlicher Neugier, die über ihre Köpfe hinfliegenden Geschosse mit den Augen zu verfolgen. Um die Straßenecke herum kamen einige Männer in lebhaftem Gespräch.

»Das hat einmal eine Wucht!« sagte der eine. »Das Dach und die Decke hat es kurz und klein geschlagen.«

»Und die Erde hat es aufgewühlt wie ein Schwein«, fügte der[181] andre hinzu. »Ja, das ist etwas Großartiges; da hat er uns einmal recht aufgemuntert!« bemerkte er lachend. »Sei nur froh, daß du noch beiseite sprangst; sonst hättest du etwas abbekommen.«

Die Volksmenge wandte sich zu diesen Männern. Sie blieben stehen und erzählten, daß dicht neben ihnen Kanonenkugeln in ein Haus eingeschlagen wären. Unterdessen flogen unaufhörlich andere Geschosse, bald mit schnellem, mürrischem Sausen Kanonenkugeln, bald mit angenehm klingendem Pfeifen Granaten, über die Köpfe der Volksmenge hin; aber kein einziges Geschoß fiel in der Nähe nieder; alle flogen drüber weg. Alpatytsch setzte sich in seinen Wagen; der Wirt stand am Tor.

»Was hast du da zu suchen?« schrie er der Köchin zu, die mit aufgestreiften Ärmeln, im roten Unterrock, die nackten Ellbogen hin und her bewegend, nach der Straßenecke gegangen war, um zu hören, was da erzählt wurde.

»Erstaunlich, erstaunlich!« sagte sie einmal über das andere. Aber als sie die Stimme des Wirtes hörte, kam sie, den aufgeschürzten Unterrock zurechtziehend, wieder zurück.

Wieder, aber diesmal sehr nahe, pfiff etwas wie ein von oben nach unten herabfliegender Vogel; Feuer blitzte mitten auf der Straße auf; ein Knall ertönte, und die Straße wurde von Rauch verdunkelt.

»Du Biest von Kugel, was richtest du da an?« schrie der Wirt und lief zu der Köchin hin.

In dem gleichen Augenblick fingen auf verschiedenen Seiten Weiber kläglich zu heulen an; das kleine Kind weinte erschrocken los; schweigend und mit bleichen Gesichtern drängte sich das Volk um die Köchin. Aus diesem Schwarm heraus waren die Schmerzenslaute und Klagen der Köchin deutlich vernehmbar.[182]

»O weh, ach, ach, liebe Leute! Meine lieben, guten Leute! Laßt mich nicht sterben! Meine lieben, guten Leute!«

Fünf Minuten darauf war niemand mehr auf der Straße. Die Köchin, der ein Granatsplitter die Hüfte zerrissen hatte, hatte man in die Küche getragen. Alpatytsch, sein Kutscher, Ferapontows Frau mit ihren Kindern und der Hausknecht saßen im Keller und horchten. Der Donner der Geschütze, das Pfeifen der Geschosse und das klägliche Gestöhn der Köchin, welches alle andern Laute übertönte, verstummten keinen Augenblick. Die Wirtin schaukelte bald ihr kleines Kind hin und her und redete ihm beruhigend zu, bald fragte sie flüsternd einen jeden, der in den Keller kam, wo ihr Mann sei, der auf der Straße geblieben war. Der Ladendiener, der ebenfalls in den Keller kam, teilte ihr mit, ihr Mann sei mit vielen anderen Leuten in die Kathedrale gegangen, wo das wundertätige Muttergottesbild von Smolensk ausgestellt worden sei.

Als es zu dämmern begann, wurde die Kanonade schwächer. Alpatytsch ging aus dem Keller hinaus und trat in die Haustür. Der vorher klare Abendhimmel war ganz mit Rauch überzogen. Und durch diesen Rauch schimmerte die junge, hochstehende Mondsichel seltsam hindurch. Seit der frühere furchtbare Geschützdonner schwieg, schien über der Stadt Ruhe zu lagern, die nur durch ein scheinbar durch die ganze Stadt verbreitetes Geräusch von Schritten, von Gestöhn, von fernem Geschrei und vom Knistern der Feuersbrünste unterbrochen wurde. Das Stöhnen der Köchin war jetzt verstummt. Auf zwei Seiten erhoben sich schwarze Rauchsäulen von Feuersbrünsten und zerteilten sich oben. Auf der Straße gingen und liefen, nicht in geordneten Reihen, sondern wie Ameisen aus einem zerstörten Haufen, Soldaten in verschiedenen Uniformen und nach verschiedenen Richtungen. Vor Alpatytschs Augen liefen einige von[183] ihnen auf Ferapontows Hof. Alpatytsch trat in den Torweg. Irgendein Regiment, das hastig und sich drängend zurückging, versperrte die Straße.

»Die Stadt wird dem Feinde überlassen werden; fahren Sie weg, fahren Sie weg«, sagte zu ihm ein Offizier, der ihn bemerkt hatte; dann wandte er sich sogleich zu den Soldaten und schrie sie an:

»Ich will euch lehren, auf die Höfe zu laufen!«

Alpatytsch kehrte in das Haus zurück, rief den Kutscher und sagte ihm, daß sie jetzt fahren wollten. Hinter Alpatytsch und dem Kutscher traten auch alle Hausgenossen Ferapontows aus dem Haus. Als sie den Rauch und sogar das Feuer der Brände sahen, das jetzt in der hereinbrechenden Dunkelheit sichtbar wurde, erhoben die Weiber, die bis dahin geschwiegen hatten, auf einmal ein lautes Klagen und Jammergeschrei. Wie um ihnen zu sekundieren, erscholl ein gleiches Geschrei am andern Ende der Straße. Alpatytsch und der Kutscher brachten mit zitternden Händen die verwirrten Zügel und Stränge der Pferde unter dem Schuppendach in Ordnung.

Als Alpatytsch aus dem Tor herausfuhr, sah er, daß in Ferapontows offenstehendem Laden ein Dutzend Soldaten unter lauten Gesprächen ihre Brotbeutel und Tornister mit Weizenmehl und Sonnenblumenkernen füllten. In demselben Augenblick trat, von der Straße kommend, Ferapontow herein. Als er die Soldaten erblickte, wollte er sie zunächst heftig anschreien; aber plötzlich hielt er inne, griff sich in die Haare und brach in eine Art von schluchzendem Lachen aus.

»Schleppt alles weg, Kinder! Laßt es nicht diesen Teufeln in die Hände fallen!« schrie er, griff selbst nach einigen Säcken und warf sie auf die Straße.

Einige von den Soldaten liefen erschrocken hinaus, andere aber[184] fuhren fort einzusacken. Als Ferapontow den reisefertigen Alpatytsch erblickte, wandte er sich zu ihm.

»Es ist zu Ende mit Rußland!« schrie er. »Alpatytsch, es ist zu Ende! Ich will selbst alles anzünden. Es ist zu Ende!« Damit lief Ferapontow auf den Hof.

Auf der Straße zogen, sie in ihrer ganzen Breite versperrend, ununterbrochen Soldaten vorüber, so daß Alpatytsch nicht abfahren konnte und sich gezwungen sah zu warten. Ferapontows Frau saß mit ihren Kindern gleichfalls auf einem Bauernwagen und wartete darauf, daß sie würde herausfahren können.

Es war schon völlige Nacht. Am Himmel standen die Sterne, und ab und zu schimmerte der meist vom Rauch verhüllte junge Mond hindurch. Wo sich der Weg zum Dnjepr hinabsenkte, mußten die Fuhrwerke Alpatytschs und der Wirtin, die sich langsam zwischen den Reihen der Soldaten und den andern Wagen fortbewegten, wieder stillhalten. Nicht weit von der Straßenkreuzung, wo die Fuhrwerke hielten, brannten in der Querstraße ein Haus und mehrere Budenläden. Das Feuer war schon heruntergebrannt. Bald schien die Flamme zu ersterben und sich in dem schwarzen Rauch zu verlieren, bald schlug sie auf einmal wieder hell empor und beleuchtete mit seltsamer Deutlichkeit die Gesichter der Menschen, die dichtgedrängt an der Straßenkreuzung standen. Vor dem Feuer huschten schwarze Menschengestalten vorbei, und durch das nie verstummende Knistern der Glut hindurch hörte man reden und schreien. Alpatytsch, der von seinem Wagen heruntergestiegen war, weil er sah, daß dieser so bald doch nicht weiterkommen könne, bog in die Querstraße ein, um sich den Brand anzusehen. Soldaten liefen unaufhörlich an dem Feuer vorbei irgend wohin und wieder zurück, und Alpatytsch sah, wie zwei derselben und mit ihnen ein Mann in einem Friesmantel aus dem Brand brennende Balken über die Straße[185] nach einem Nachbargrundstück schleppten; andere trugen Arme voll Heu.

Alpatytsch trat zu einem großen Menschenhaufen hin, der gegenüber einem hohen, lichterloh brennenden Speicher Posten gefaßt hatte. Alle Wände waren vom Feuer ergriffen, die Hinterwand hatte sich schief gezogen, das Bretterdach war zusammengeknickt, die Balken brannten. Offenbar wartete die Menge auf den Augenblick, wo das Dach herunterstürzen werde. Auf eben dieses bevorstehende Ereignis wartete auch Alpatytsch.

»Alpatytsch!« rief auf einmal den alten Mann eine bekannte Stimme an.

»Väterchen, Euer Durchlaucht!« antwortete Alpatytsch, der sofort die Stimme seines jungen Fürsten erkannt hatte.

Fürst Andrei, in den Mantel gehüllt, hielt auf einem Rappen hinter dem Menschenhaufen und blickte Alpatytsch an.

»Wie kommst du denn hierher?« fragte er.

»Euer ... Euer Durchlaucht«, stieß Alpatytsch heraus und begann zu schluchzen. »Euer ... Euer ... sind wir denn wirklich verloren? Der Vater ...«

»Wie kommst du hierher?« fragte Fürst Andrei noch einmal.

Die Flamme loderte in diesem Augenblick hell auf und ließ Alpatytsch das blasse, ausgemergelte Gesicht seines jungen Herrn deutlich erkennen. Er erzählte, wozu er hierher gesandt sei, und daß er jetzt Mühe habe fortzukommen.

»Wie ist das, Euer Durchlaucht? Sind wir wirklich verloren?« fragte er wieder.

Fürst Andrei zog, ohne ihm eine Antwort zu geben, sein Notizbuch heraus, hob das Knie in die Höhe und schrieb mit Bleistift auf einem ausgerissenen Blatt. Er schrieb an seine Schwester:

»Smolensk wird dem Feind überlassen werden. In einer Woche wird Lysyje-Gory von den Franzosen besetzt sein. Fahrt[186] sofort nach Moskau. Antworte mir sogleich, wann ihr abfahrt; schicke die Antwort durch besonderen Boten nach Uswjasch.«

Nachdem er dies geschrieben und das Blatt dem alten Verwalter eingehändigt hatte, setzte er ihm mündlich auseinander, wie die Abreise des Fürsten, der Prinzessin und des Sohnes nebst seinem Lehrer bewerkstelligt werden und wie und wohin ihm sogleich Antwort gesandt werden solle. Er war mit seinen Anweisungen noch nicht fertig, als ein Stabsoffizier zu Pferde, von einem Gefolge begleitet, zu ihm heransprengte.

»Sie sind Oberst?« schrie der Stabsoffizier mit deutscher Klangfarbe und mit einer Stimme, die dem Fürsten Andrei bekannt vorkam. »In Ihrer Gegenwart werden Häuser angezündet, und Sie stehen ruhig dabei? Was soll das heißen? Sie werden sich dafür zu verantworten haben!« schrie Berg, der jetzt Gehilfe des Chefs des Stabes des stellvertretenden Stabschefs des Kommandeurs des linken Flügels der Infanterie der ersten Armee war, »ein sehr angenehmer Posten, der die Blicke auf sich zieht«, wie sich Berg auszudrücken pflegte.

Fürst Andrei blickte ihn an und fuhr, ohne ihm zu antworten, in seinem Gespräch mit Alpatytsch fort:

»Bestelle also, daß ich bis zum zehnten auf Antwort warten werde; sollte ich aber am zehnten noch nicht die Nachricht erhalten haben, so werde ich selbst alles stehen- und liegenlassen und nach Lysyje-Gory kommen.«

»Ich habe Ihnen das nur deshalb gesagt, Fürst«, sagte Berg, der inzwischen den Fürsten Andrei erkannt hatte, zu seiner Entschuldigung, »weil es meine Pflicht ist, die mir erteilten Befehle auszuführen; denn diese führe ich immer auf das genaueste aus. Bitte, nehmen Sie mir nichts übel.«

Es krachte etwas im Feuer. Die Flamme beruhigte sich für einen Augenblick. Schwarze Rauchwolken wälzten sich unter dem[187] Dach hervor. Noch einmal krachte es furchtbar im Feuer, und etwas Großes, Wuchtiges stürzte herab.

»Hu-hu-hu!« heulte die Menge auf und begleitete damit den Einsturz des Speicherdaches. Von dem verbrennenden Getreide verbreitete sich ein Geruch, wie wenn Kuchen gebacken würde. Die Flamme loderte wieder in die Höhe und erleuchtete die freudig erregten und zugleich erschöpften Gesichter der Menschen, die um den Brand herumstanden.

Der Mann im Friesmantel reckte die Arme in die Höhe und rief:

»Prächtig, Kinder! Das Feuer hat schon gefaßt! Prächtig!«

»Es ist der Hausbesitzer selbst«, sagten einige aus der Menge.

»Nun also«, schloß Fürst Andrei sein Gespräch mit Alpatytsch, »dann bestelle alles, wie ich es dir gesagt habe«, und ohne zu Berg, der schweigend neben ihm geblieben war, ein Wort der Antwort zu sagen, trieb er sein Pferd an und ritt in die Querstraße.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 171-188.
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