VII

[205] Während dies in Petersburg vorging, hatten die Franzosen bereits Smolensk passiert und rückten Moskau immer näher. Napoleons Geschichtsschreiber Thiers sagt in dem Bemühen,[205] seinen Helden zu rechtfertigen, ebenso wie die anderen Geschichtsschreiber Napoleons, Napoleon sei wider seinen Willen zu den Mauern Moskaus hingeleitet worden. Er hat in demselben Maß recht, in welchem alle Geschichtsschreiber recht haben, die die historischen Ereignisse aus dem Willen eines einzelnen Menschen zu erklären suchen; er hat in demselben Maß recht, in welchem die russischen Geschichtsschreiber recht haben, welche behaupten, Napoleon sei durch die Kunst der russischen Heerführer nach Moskau gelockt worden. Hier kommt außer dem Gesetz der Retrospektivität (der rückschauenden Betrachtung), nach welchem alles Vorhergehende als eine Vorbereitung auf das stattgefundene Ereignis aufgefaßt wird, noch die Wechselseitigkeit in Betracht, durch welche die ganze Sache verwirrt wird. Wenn ein guter Schachspieler eine Partie verloren hat, so wird er fest überzeugt sein, daß der Verlust der Partie von einem Fehler herrührt, den er begangen hat, und wird diesen Fehler in den Anfangsstadien des Spieles suchen; aber er vergißt dabei, daß bei jeder seiner Kombinationen, im Verlauf des ganzen Spieles, ihm ebensolche Fehler begegnet sind, und daß kein einziger Zug völlig korrekt gewesen ist. Der Fehler, auf den er seine Aufmerksamkeit richtet, scheint ihm nur deswegen bemerkenswert, weil der Gegner ihn ausgenutzt hat. Und um wieviel komplizierter als eine Schachpartie ist nun noch das Spiel des Krieges, das unter bestimmten zeitlichen Bedingungen vor sich geht, und wo nicht etwa ein einziger Wille leblose Maschinen lenkt, sondern alles das Resultat zahlloser Zusammenstöße der mannigfaltigsten selbständigen Willensregungen ist?

Nach Smolensk suchte Napoleon eine Schlacht bei Dorogobusch, dann bei Wjasma, dann bei Zarewo-Saimischtsche; aber infolge des Zusammentreffens zahlloser Umstände war es den Russen nicht möglich, früher als bei Borodino, 112 Werst von[206] Moskau, eine Schlacht anzunehmen. Von Wjasma aus traf Napoleon die Anordnungen für den direkten Marsch nach Moskau.

»Moskau, die asiatische Hauptstadt dieses großen Reiches, die heilige Stadt der Völker Alexanders, Moskau mit seinen unzähligen Kirchen in Gestalt chinesischer Pagoden«, dieses Moskau ließ der Phantasie Napoleons keine Ruhe. Bei dem Marsch von Wjasma nach Zarewo-Saimischtsche ritt Napoleon auf seinem isabellfarbenen, anglisierten Paßgänger, begleitet von einer Abteilung seiner Garde, von seiner Leibwache, seinen Pagen und Adjutanten. Der Stabschef Berthier war zurückgeblieben, um einen von der Kavallerie eingebrachten russischen Gefangenen zu verhören. Im Galopp holte er, von dem Dolmetscher Lelorgne d'Ideville begleitet, Napoleon ein und hielt mit vergnügtem Gesicht sein Pferd an.

»Nun?« fragte Napoleon.

»Ein Platowscher Kosak sagt, das Platowsche Korps vereinige sich jetzt mit der großen Armee; Kutusow sei zum Oberkommandierenden ernannt worden. Ein sehr intelligenter, redseliger Mensch!«

Napoleon lächelte, befahl, den Kosaken auf ein Pferd zu setzen und zu ihm zu bringen; er wünsche selbst mit ihm zu reden. Einige Adjutanten sprengten davon, und eine Stunde darauf kam Lawrenti, Denisows Leibeigener, den er seinem Freund Rostow überlassen hatte, in seiner Burschenjacke, auf einem französischen Kavalleriepferd, mit schlauem, betrunkenem, vergnügtem Gesicht zu Napoleon herangeritten. Napoleon hieß ihn, neben ihm herzureiten, und begann ihn zu befragen:

»Sie sind Kosak?«

»Jawohl, Kosak, Euer Wohlgeboren.«

»Der Kosak«, sagt Thiers, der diese Episode in sein Werk aufgenommen hat, »der nicht wußte, in welcher Gesellschaft er sich[207] befand (denn in Napoleons einfacher äußerer Erscheinung lag nichts, woraus eine orientalische Phantasie auf die Anwesenheit eines Monarchen hätte schließen können), unterhielt sich mit dem Kaiser in der zutraulichsten Weise über die Angelegenheiten des gegenwärtigen Krieges.« Der Hergang war dieser gewesen: Lawrenti hatte sich tags zuvor betrunken, für seinen Herrn kein Mittagessen beschafft, war mit Ruten gepeitscht und in ein Dorf geschickt worden, um Hühner zu holen; dort hatte er im Eifer des Marodierens es an Vorsicht fehlen lassen und war von den Franzosen gefangengenommen worden. Lawrenti war einer jener lümmelhaften, frechen, mit allen Hunden gehetzten Bedienten, die es für ihre Pflicht halten, stets schändlich und pfiffig zu handeln, die ihrem augenblicklichen Herrn zu jedem Dienst bereit sind und die die Schwächen der Vornehmen, namentlich Eitelkeit und Kleinlichkeit, schlau zu erraten verstehen.

Als Lawrenti in Napoleons Gesellschaft geriet, dessen Persönlichkeit er mit großer Sicherheit und Leichtigkeit erkannte, wurde er nicht im mindesten verlegen und war nur aus allen Kräften darauf bedacht, sich die Gunst dieses neuen Gebieters zu erwerben.

Er wußte sehr genau, daß dies Napoleon selbst war, und die Gegenwart Napoleons vermochte ihn nicht in höherem Grad in Verwirrung zu setzen als die Gegenwart Rostows oder des Wachtmeisters, der die Ruten in der Hand hielt; denn er besaß nichts, was ihm der Wachtmeister oder Napoleon hätten wegnehmen können.

Er schwatzte munter alles hin, was unter den Offiziersburschen geredet worden war, und vieles davon war zutreffend. Aber als ihn Napoleon fragte, ob die Russen meinten, sie würden den Bonaparte besiegen, oder nicht, da kniff Lawrenti die Augen zusammen und überlegte.

Er sah hierin eine feine List, wie denn Leute von Lawrentis[208] Schlag immer in allem eine List sehen, zog die Augenbrauen zusammen und schwieg eine Weile.

»Das ist nämlich so«, sagte er endlich nachdenklich: »Wenn eine Schlacht geliefert wird, das heißt bald, dann siegt ihr. Das ist sicher. Na, aber wenn drei Tage vergehen, von heute an, na, dann zieht es sich mit der Schlacht noch länger hin.«

Dem Kaiser wurde dies folgendermaßen übersetzt: »Wenn die Schlacht innerhalb dreier Tage geliefert wird, so werden die Franzosen sie gewinnen; wird sie aber erst später geliefert, so kann niemand den Ausgang vorher wissen.« So verdolmetschte es Lelorgne d'Ideville lächelnd. Napoleon lächelte nicht, wiewohl er offenbar bester Laune war, und ließ sich diese Worte noch einmal wiederholen.

Lawrenti hatte das gemerkt, und um dem Kaiser ein Vergnügen zu machen, redete er weiter, indem er tat, als kennte er ihn nicht.

»Wir wissen, daß ihr einen Bonaparte habt, der alle in der Welt verhauen hat; na, aber mit uns wird das denn doch eine andere Sache sein ...«, fügte er hinzu, ohne selbst zu wissen, wie es zuging, daß schließlich auf einmal in seinen Worten ein großsprecherischer Patriotismus zum Vorschein kam.

Der Dolmetscher übersetzte dem Kaiser diese Worte ohne den letzten Satz, und Bonaparte lächelte. »Der junge Mann brachte den mächtigen Herrscher, der sich mit ihm unterhielt, zum Lächeln«, sagt Thiers. Nachdem Napoleon schweigend einige Schritte weitergeritten war, wandte er sich an Berthier und sagte, er möchte gern die Wirkung kennenlernen, die auf diesen Sohn der donischen Steppe die Nachricht ausüben würde, daß der Mann, mit dem er, dieser Sohn der donischen Steppe, rede, der Kaiser selbst sei, eben jener Kaiser, der seinen unsterblichen Siegernamen auf die Pyramiden geschrieben habe.[209]

Es wurde dem Kosaken diese Eröffnung gemacht.

Lawrenti, dem es nicht entging, daß dies geschah, um ihn zu verblüffen, und daß Napoleon erwartete, er werde einen Schreck bekommen, stellte sich, um es seinem neuen Gebieter zu Dank zu machen, sofort höchst erstaunt und wie betäubt, riß die Augen auf und schnitt dasselbe Gesicht, das er gewöhnlich machte, wenn er abgeführt wurde, um gepeitscht zu werden. »Kaum hatte«, sagt Thiers, »Napoleons Dolmetscher dem Kosaken diese Mitteilung gemacht, als dieser, von einer Art Erstarrung ergriffen, kein Wort mehr herausbrachte und beim Weiterreiten die Augen unverwandt auf diesen Eroberer gerichtet hielt, dessen Name durch die Steppen des Ostens hindurch bis zu ihm gedrungen war. Seine ganze Redseligkeit war plötzlich gehemmt, um einem Gefühl schweigender, naiver Bewunderung Platz zu machen. Napoleon beschenkte ihn und befahl, ihn freizulassen wie einen Vogel, den man seinen heimatlichen Fluren zurückgibt.«

Napoleon ritt weiter, in Gedanken an jenes Moskau versunken, das seine Einbildungskraft so lebhaft beschäftigte; der Vogel aber, den man seinen heimatlichen Fluren zurückgegeben hatte, galoppierte zu den russischen Vorposten hin und legte sich schon im voraus all das zurecht, was sich zwar nicht begeben hatte, was er aber seinen Kameraden erzählen wollte. Das hingegen, was ihm wirklich begegnet war, beabsichtigte er nicht zu erzählen, namentlich deshalb, weil es nach seinem Urteil nicht erzählenswert war. Er ritt an die Kosaken heran, erkundigte sich, wo sich sein Regiment befinde, das zum Platowschen Korps gehörte, und fand noch an demselben Abend seinen Herrn Nikolai Rostow wieder, der in Jankowo in Quartier lag und gerade zu Pferd stieg, um mit Iljin einen Spazierritt durch die umliegenden Dörfer zu machen. Er ließ seinem Burschen Lawrenti ein frisches Pferd geben und nahm ihn mit.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 205-210.
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