VIII

[210] Prinzessin Marja war nicht in Moskau und nicht außer Gefahr, wie Fürst Andrei glaubte.

Nach Alpatytschs Rückkehr aus Smolensk war es, als ob der alte Fürst plötzlich aus dem Schlaf erwachte. Er befahl, aus den Dörfern die Landwehrleute zusammenzurufen und zu bewaffnen, und schrieb an den Oberkommandierenden einen Brief, in welchem er ihm mitteilte, daß er entschlossen sei, bis zum Äußersten in Lysyje-Gory auszuharren und sich zu verteidigen, wobei er es seinem Ermessen anheimstellte, ob er seinerseits Maßregeln zur Verteidigung von Lysyje-Gory treffen wolle oder nicht, wo möglicherweise einer der ältesten russischen Generale gefangengenommen oder getötet werden würde. Auch seinen Hausgenossen kündigte er an, daß er in Lysyje-Gory bleiben werde.

Aber während er selbst in Lysyje-Gory bleiben wollte, ordnete er an, daß die Prinzessin und Dessalles nebst dem kleinen Fürsten nach Bogutscharowo und von da nach Moskau reisen sollten. Prinzessin Marja, beängstigt durch die fieberhafte Tätigkeit ihres Vaters, die an Stelle seiner früheren Mattigkeit getreten war und ihm den Schlaf raubte, konnte sich nicht entschließen, ihn alleinzulassen, und wagte zum erstenmal in ihrem Leben, ihm ungehorsam zu sein. Sie weigerte sich abzufahren, und es entlud sich infolgedessen über sie ein furchtbares Ungewitter seines Zornes. Er zählte ihr aus der Vergangenheit allerlei Geschehnisse auf, bei denen in Wirklichkeit er es gewesen war, der ihr schweres Unrecht getan hatte; aber in dem Bemühen, sie zu beschuldigen, sagte er, sie habe ihn zu Tode gequält, sie habe ihn mit seinem Sohn entzweit, habe gegen ihn einen häßlichen Verdacht gehegt, habe es sich zur Lebensaufgabe gemacht, ihm[211] sein Leben zu vergiften. Dann wies er sie aus seinem Zimmer, indem er ihr noch sagte, wenn sie hierbleibe, so sei ihm das ganz gleichgültig; er wolle von ihrer Existenz nichts mehr wissen, warne sie aber, sich nicht etwa zu erkühnen, ihm wieder vor Augen zu kommen. Daß er, entgegen ihren Befürchtungen, nicht befahl, sie gewaltsam wegzuschaffen, sondern ihr nur verbot, ihm vor Augen zu kommen, dieser Umstand freute Prinzessin Marja. Sie erkannte darin einen Beweis dafür, daß er im geheimsten Grunde seiner Seele darüber froh war, daß sie dablieb und nicht wegfuhr.

Am Vormittag des nächsten Tages legte, nachdem Nikolenka abgereist war, der alte Fürst seine Uniform an und machte sich fertig, um zum Oberkommandierenden zu fahren. Die Kutsche stand schon vor dem Portal. Prinzessin Marja sah, wie er in voller Uniform und mit allen seinen Orden aus dem Haus trat und in den Garten ging, um eine Musterung der bewaffneten Bauern und Gutsleute abzuhalten. Prinzessin Marja saß am Fenster und horchte auf seine Stimme, die aus dem Garten herübertönte. Da kamen plötzlich aus der Allee mehrere Leute mit erschrockenen Gesichtern auf das Haus zugelaufen.

Prinzessin Marja lief vor die Haustür, den Blumensteig entlang und in die Allee hinein. Dort bewegte sich ihr ein großer Haufe von Landwehrmännern und Gutsleuten entgegen, und inmitten dieses Haufens hielten mehrere Männer den kleinen Greis in seiner Uniform und mit seinen Orden unter den Armen gefaßt und schleppten ihn in dieser Weise vorwärts. Prinzessin Marja lief zu ihm hin, konnte aber bei dem Spiel des Lichtes, das in kleinen, beweglichen Kreisen durch den Schatten der Lindenallee fiel, sich zunächst über die Veränderung, die in diesem Gesicht vorgegangen war, nicht klarwerden. Das einzige, was sie sah, war, daß an die Stelle des früheren strengen, entschlossenen[212] Ausdruckes seines Gesichtes ein Ausdruck von Schüchternheit und Fügsamkeit getreten war. Als er seine Tochter erblickte, bewegte er die kraftlosen Lippen und röchelte. Es war nicht möglich, zu verstehen, was er wollte. Die Männer hoben ihn auf ihre Arme, trugen ihn in sein Zimmer und legten ihn auf jenes Sofa, vor dem er sich in der letzten Zeit so sehr gefürchtet hatte.

Der Arzt, der gerufen wurde und noch in derselben Nacht kam, nahm einen Aderlaß vor und erklärte, daß den Fürsten auf der rechten Seite der Schlag getroffen habe.

Aber in Lysyje-Gory zu bleiben wurde immer gefährlicher, und so wurde denn der Fürst am Tag nach dem Schlaganfall nach Bogutscharowo transportiert. Der Arzt fuhr mit ihm.

Als sie in Bogutscharowo ankamen, war Dessalles mit dem kleinen Fürsten schon nach Moskau abgereist.

Etwa eine Woche lang lag der alte Fürst immer in demselben Zustand, ohne daß es besser oder schlechter geworden wäre, vom Schlag gelähmt in Bogutscharowo in dem neuen Haus, das Fürst Andrei gebaut hatte. Der alte Fürst war ohne rechtes Bewußtsein; er lag da wie ein entstellter Leichnam. Unaufhörlich murmelte er etwas und bewegte zuckend die Augenbrauen und die Lippen; aber man konnte nicht erkennen, ob er für das, was um ihn herum vorging, Verständnis hatte oder nicht. Nur eines sah man mit Sicherheit: daß er litt und das Bedürfnis hatte, noch irgend etwas zum Ausdruck zu bringen. Aber was dies war, das konnte niemand erkennen: ob es irgendeine Laune des Kranken und Halbirrsinnigen war, ob es sich auf den Gang der großen Ereignisse oder auf Familienangelegenheiten bezog.

Der Arzt sagte, die von ihm bekundete Unruhe habe weiter nichts zu bedeuten und sei auf physische Ursachen zurückzuführen; aber Prinzessin Marja glaubte (und der Umstand, daß durch ihre[213] Anwesenheit seine Unruhe immer gesteigert wurde, diente ihr als Bestätigung ihrer Vermutung), daß er ihr etwas sagen wolle.

Augenscheinlich litt er sowohl körperlich als auch seelisch. Hoffnung auf Genesung war nicht vorhanden. Ihn zu transportieren war unmöglich. Was hätte geschehen sollen, wenn er unterwegs gestorben wäre? »Wäre es nicht das beste, wenn das Ende käme, das gänzliche Ende?« dachte Prinzessin Marja manchmal. Sie beobachtete ihn Tag und Nacht, fast ohne zu schlafen, und (so furchtbar es ist, dies auszusprechen) beobachtete ihn oft nicht mit der Hoffnung, Symptome der Besserung, sondern mit dem Wunsch, Symptome des herannahenden Endes zu finden.

Wie furchtbar es auch der Prinzessin war, sich dieses Wunsches bewußt zu werden, aber er war in ihrer Seele vorhanden. Und was ihr noch schrecklicher war, das war dies, daß seit der Krankheit ihres Vaters (sogar vielleicht schon früher, vielleicht schon damals, als sie in Erwartung irgendwelchen Unheils bei ihm in Lysyje-Gory geblieben war) in ihrer Seele alle jene persönlichen Wünsche und Hoffnungen, die sie schon längst für entschlafen und vergessen gehalten hatte, wieder erwacht waren. Gedanken, die ihr seit Jahren nicht mehr in den Sinn gekommen waren, Gedanken an ein freies Leben ohne Furcht vor dem Vater, ja sogar Gedanken an die Möglichkeit von Liebe und glücklichem Familienleben erfüllten jetzt wie Versuchungen des Teufels beständig ihre Phantasie. Eine Frage drängte sich ihr trotz alles Bemühens, sie abzuwehren, immer wieder auf: die Frage, wie sie nun, nach dem zu erwartenden Ereignis, sich ihr Leben einrichten werde. Dies waren Versuchungen des Teufels, und Prinzessin Marja wußte das. Sie wußte, daß die einzige Schutzwaffe gegen den Versucher das Gebet war, und sie versuchte zu beten. Sie nahm die beim Gebet übliche Haltung[214] an, blickte nach den Heiligenbildern hin und sprach die Worte des Gebetes; aber zu beten vermochte sie nicht. Sie fühlte, daß sie jetzt in eine andere Welt hineinkam, in eine Welt irdischer, freier Tätigkeit, ganz entgegengesetzt jener geistigen Welt, in der sie bisher eingeschlossen gewesen war und in der sie ihren besten Trost im Gebet gefunden hatte. Sie vermochte nicht zu beten und nicht zu weinen; irdische Sorgen hatten sich ihrer bemächtigt.

In Bogutscharowo zu bleiben wurde gefährlich. Von allen Seiten hörte man Nachrichten über das Heranrücken der Franzosen, und in einem Dorf fünfzehn Werst von Bogutscharowo war das Gutshaus von französischen Marodeuren ausgeraubt worden.

Der Arzt bestand darauf, der Fürst müsse weitertransportiert werden; der Adelsmarschall schickte einen Beamten zu Prinzessin Marja, der ihr dringend riet, sobald als möglich abzureisen; der Bezirkshauptmann kam persönlich nach Bogutscharowo und empfahl ihr dasselbe, indem er bemerkte, die Franzosen ständen nur noch vierzig Werst entfernt, in den Dörfern seien bereits französische Proklamationen in Umlauf, und wenn die Prinzessin nicht mit ihrem Vater bis zum 15. abreise, könne er für nichts einstehen.

Die Prinzessin faßte den Entschluß, am 15. abzureisen. Die Sorge für die Vorbereitungen und das Erteilen von Weisungen, die ein jeder sich von ihr erbat, nahmen sie den ganzen vorhergehenden Tag über in Anspruch. Die Nacht vom 14. auf den 15. verbrachte sie wie gewöhnlich, ohne sich auszukleiden, in einem Zimmer neben dem, in welchem der Fürst lag. Mehrmals, wenn sie aufwachte, hörte sie sein Ächzen und Murmeln und das Knarren der Bettstelle und die Schritte Tichons und des Arztes, die ihn herumdrehten. Einigemal horchte sie an der Tür, und es kam ihr vor, als ob er heute lauter murmelte als sonst und häufiger herumgedreht werden mußte. Sie konnte nicht schlafen, ging[215] wiederholt an die Tür, horchte und wäre gern hineingegangen, konnte sich aber doch nicht entschließen, es zu tun. Obgleich er nicht sprechen konnte, sah und wußte Prinzessin Marja doch, wie unangenehm ihm jede Bekundung von Besorgnis um ihn war. Sie merkte, wie unzufrieden er sich von ihrem Blick abwandte, wenn sie ihn manchmal unwillkürlich länger ansah. Sie wußte, daß es ihn aufregen werde, wenn sie jetzt in der Nacht, zu so ungewohnter Zeit, zu ihm hereinkomme.

Aber nie war es ihr so schmerzlich, nie so furchtbar gewesen wie jetzt, daß sie ihn verlieren sollte. Sie erinnerte sich an ihr ganzes Zusammenleben mit ihm und fand in jedem seiner Worte, in jeder seiner Handlungen einen Ausdruck seiner Liebe zu ihr. Mitunter drängten sich mitten in diesen Erinnerungen in ihre Phantasie jene Versuchungen des Teufels ein, Gedanken daran, wie es nach dem Tod ihres Vaters sein werde, und wie sich ihr neues, freies Leben gestalten werde. Aber voll Abscheu wies sie diese Gedanken von sich. Gegen Morgen wurde der Fürst still, und Prinzessin Marja schlief ein.

Sie erwachte spät. Jene Aufrichtigkeit, die dem Erwachenden eigen ist, stellte ihr klar vor Augen, womit sie sich in Wirklichkeit während der Krankheit des Vaters am meisten beschäftigt hatte. Sie horchte nach dem hin, was hinter der Tür vorging, und als sie das Ächzen des Vaters hörte, sagte sie sich mit einem Seufzer, daß alles unverändert sei.

»Aber was ist denn das für eine Veränderung, auf die ich warte? Was habe ich denn gewünscht? Ich wünsche seinen Tod«, rief sie voll Empörung über sich selbst.

Sie kleidete sich an, wusch sich, sprach ihr Gebet und trat vor die Haustür. Dort standen, noch ohne Bespannung, die Wagen, auf die das Gepäck aufgeladen wurde.[216]

Es war ein warmer, grauer Morgen. Prinzessin Marja blieb vor der Haustür stehen; sie war immer noch tief erschrocken über die Schlechtigkeit ihres Herzens und suchte ihre Gedanken in Ordnung zu bringen, ehe sie zu ihrem Vater hineinging.

Der Arzt kam heraus und trat zu ihr.

»Es geht ihm heute etwas besser«, sagte er. »Ich habe Sie gesucht. Es ist einzelnes von dem, was er sagt, zu verstehen; der Kopf ist klarer. Kommen Sie! Er ruft nach Ihnen ...«

Das Herz begann der Prinzessin Marja bei dieser Mitteilung so stark zu schlagen, daß sie ganz blaß wurde und sich an die Tür lehnen mußte, um nicht umzufallen. Ihn zu sehen, mit ihm zu sprechen, ihm unter die Augen zu kommen, gerade jetzt, wo ihr ganzes Herz von diesen furchtbaren, verbrecherischen Versuchungen erfüllt war, das erschien ihr, bei aller Freude, als eine schreckliche Pein.

»Kommen Sie«, sagte der Arzt.

Prinzessin Marja ging zu ihrem Vater hinein und trat an sein Bett. Er lag auf dem Rücken da; der Oberkörper war hochgelegt; die kleinen, knochigen, mit bläulichen, knotigen Adern überzogenen Hände lagen auf der Bettdecke; das linke Auge war geradeaus gerichtet, das rechte schielte; die Augenbrauen und die Lippen waren regungslos. Seine ganze Gestalt sah überaus mager, klein und jammervoll aus. Sein Gesicht schien ganz zusammengetrocknet zu sein, die Gesichtszüge sahen wie verschwommen aus. Prinzessin Marja küßte ihm die Hand. Mit seiner linken Hand drückte er die ihrige so stark, daß sie daraus ersah, er habe schon lange auf sie gewartet. Er zog ihre Hand an sich heran, und seine Augenbrauen und Lippen begannen sich ungeduldig und ärgerlich zu bewegen.

Sie blickte ihn erschrocken an und bemühte sich zu erraten, was er von ihr wollte. Als sie, ihre Stellung ändernd, so an ihn[217] herangerückt war, daß sein linkes Auge ihr Gesicht sah, beruhigte er sich für einige Sekunden und sah sie unverwandt an. Dann kamen seine Lippen und seine Zunge in Bewegung; Laute wurden vernehmbar, und er begann zu reden, wobei er sie schüchtern und flehend anblickte, offenbar in der Besorgnis, daß sie ihn nicht verstehe.

Prinzessin Marja spannte ihre Aufmerksamkeit aufs äußerste an und blickte ihm ins Gesicht. Die komischen Bemühungen, mit denen er seine Zunge her umdrehte, zwangen die Prinzessin Marja, die Augen niederzuschlagen, und nur mit Mühe unterdrückte sie das Schluchzen, das ihr in der Kehle aufstieg. Er sagte etwas und wiederholte seine Worte mehrere Male. Prinzessin Marja war nicht imstande, sie zu verstehen; aber sie versuchte zu erraten, was er sagte, und wiederholte die von ihm gesprochenen Laute in fragendem Ton mit ihren Ergänzungen.

»Lei ... lei ... he ... he ...«, wiederholte er mehrmals.

Es war unmöglich, diese Laute zu verstehen. Der Arzt glaubte, den Sinn zu erraten, und fragte: »Sollen wir den Leib noch mehr heben?« Er schüttelte verneinend mit dem Kopf und wiederholte wieder dasselbe ...

»Ein Leid drückt Ihr Herz?« riet und fragte Prinzessin Marja.

Er stieß einen unartikulierten Laut der Bejahung aus, erfaßte ihre Hand und drückte sie gegen verschiedene Stellen seiner Brust, wie wenn er den richtigen Platz für sie suchen wollte.

»Immer Gedanken! An dich ... Gedanken ...« Er sprach jetzt, wo er überzeugt war verstanden zu werden, weit besser und deutlicher als vorher.

Prinzessin Marja drückte ihren Kopf auf seine Hand und bemühte sich, ihr Schluchzen und ihre Tränen zu verbergen.

Er strich ihr mit der Hand über das Haar.

»Ich habe die ganze Nacht über nach dir gerufen ...«, sagte er.[218]

»Wenn ich das gewußt hätte ...«, erwiderte sie durch ihre Tränen hindurch. »Ich scheute mich, hereinzukommen.«

Er drückte ihr die Hand.

»Hast du nicht geschlafen?«

»Nein, ich habe nicht geschlafen«, antwortete Prinzessin Marja und schüttelte verneinend den Kopf.

Unwillkürlich dem Vater nachahmend, redete sie jetzt in ähnlicher Weise wie er: sie bemühte sich, mehr durch Zeichen zu sprechen, und bewegte anscheinend ebenfalls nur mit Mühe die Zunge.

»Mein liebes Kind ...« oder »Mein Liebling ...« (Prinzessin Marja konnte es nicht genau verstehen; aber nach dem Ausdruck seines Blickes zu urteilen, hatte er sicherlich ein zärtliches Kosewort gesprochen, wie er es sonst nie über seine Lippen gebracht hatte.) »Warum bist du nicht gekommen?«

»Und ich habe seinen Tod gewünscht!« dachte Prinzessin Marja.

Er schwieg ein Weilchen.

»Ich danke dir ... liebe Tochter, mein gutes Kind ... für alles, für alles ... verzeih mir ... ich danke dir ... verzeih mir ... ich danke dir ...!« Und Tränen rannen ihm aus den Augen. »Ruft doch Andrei«, sagte er auf einmal, und eine Art von kindlicher Schüchternheit und Unsicherheit prägte sich bei diesen Worten auf seinem Gesicht aus.

Er schien selbst zu wissen, daß sein Verlangen keinen Sinn hatte. So kam es wenigstens der Prinzessin Marja vor.

»Ich habe einen Brief von ihm erhalten«, antwortete sie.

Er blickte sie erstaunt und schüchtern an.

»Wo ist Andrei denn?«

»Er ist beim Heer, lieber Vater, in Smolensk.«

Er schloß die Augen und schwieg lange. Dann nickte er bejahend mit dem Kopf wie zur Antwort auf seine Zweifel und zur bekräftigenden[219] Versicherung, daß er jetzt alles verstanden habe und sich an alles erinnere, und öffnete wieder die Augen.

»Ja«, sagte er leise, aber deutlich. »Rußland ist verloren! Sie haben es zugrunde gerichtet!«

Er fing wieder an zu schluchzen, und die Tränen rannen ihm aus den Augen. Prinzessin Marja konnte sich nicht länger beherrschen und weinte ebenfalls, indem sie sein Gesicht ansah.

Er schloß von neuem die Augen. Sein Schluchzen brach auf einmal ab. Er machte mit der Hand ein Zeichen nach den Augen zu, und Tichon, der dieses Zeichen verstand, wischte ihm die Tränen weg.

Dann machte er die Augen auf und sagte etwas, was lange Zeit niemand verstehen konnte; endlich verstand es Tichon als der einzige und teilte es den andern mit. Prinzessin Marja hatte den Sinn seiner Worte in denjenigen Vorstellungskreisen gesucht, denen das angehörte, was er eine Minute vorher gesagt hatte. Nacheinander hatte sie gedacht, er rede von Rußland, oder vom Fürsten Andrei, oder von ihr, oder von seinem Enkel, oder von seinem Tod. Und aus diesem Grund hatte sie den Sinn seiner Worte nicht erraten können.

»Zieh dein weißes Kleid an; das sehe ich gern«, hatte er gesagt.

Als sie erfuhr, daß er dies gesagt habe, begann sie noch lauter zu schluchzen. Der Arzt faßte sie unter den Arm, führte sie aus dem Zimmer auf die Terrasse und redete ihr zu, sie möchte sich beruhigen und sich mit den Vorbereitungen zur Abreise beschäftigen.

Nachdem Prinzessin Marja das Zimmer des Fürsten verlassen hatte, fing er wieder an von seinem Sohn, vom Krieg und vom Kaiser zu reden, zuckte ärgerlich mit den Augenbrauen, zwang seine heisere Stimme zu lautem Sprechen und erlitt zum zweiten-und letztenmal einen Schlaganfall.[220]

Prinzessin Marja war auf der Terrasse stehengeblieben. Das Wetter hatte sich aufgeklärt; es war sonnig und heiß geworden. Sie konnte nichts begreifen, denken und fühlen als ihre leidenschaftliche Liebe zu ihrem Vater, eine Liebe, von der sie, wie es ihr schien, bis zu diesem Augenblick gar nicht gewußt hatte, daß sie in dieser Stärke in ihrer Seele vorhanden war. Schluchzend lief sie in den Garten, auf den vom Fürsten Andrei angelegten und mit jungen Linden eingesäumten Steigen hinunter zum Teich.

»Und ich ... ich ... ich habe seinen Tod gewünscht! Ja, ich habe gewünscht, daß es recht bald zu Ende sein möchte ... Ich wollte zur Ruhe kommen ... Aber was wird aus mir werden? Was habe ich von der Ruhe, wenn er nicht mehr ist!« murmelte Prinzessin Marja hörbar vor sich hin, während sie mit schnellen Schritten durch den Garten ging und die Hände gegen die Brust preßte, aus der ein krampfhaftes Schluchzen hervorbrach.

Als sie im Garten ringsherum gegangen und so wieder zum Haus zurückgelangt war, sah sie Mademoiselle Bourienne mit einem ihr unbekannten Herrn ihr entgegenkommen. (Mademoiselle Bourienne war in Bogutscharowo geblieben und hatte von dort nicht wegfahren wollen.) Dieser Herr war der Adelsmarschall des Kreises, der persönlich zur Prinzessin kam, um ihr die unbedingte Notwendigkeit einer schleunigen Abreise vorzustellen. Prinzessin Marja hörte, was er zu ihr sagte, verstand es aber nicht. Sie führte ihn ins Haus, lud ihn ein, zu frühstücken, und setzte sich mit ihm hin. Dann aber entschuldigte sie sich bei ihm und ging an die Tür des alten Fürsten. Der Arzt kam mit aufgeregtem Gesicht zu ihr heraus und sagte, sie könne jetzt nicht hereinkommen.

»Gehen Sie, Prinzessin, gehen Sie, gehen Sie!«

Prinzessin Marja ging wieder in den Garten und setzte sich[221] unten am Abhang, beim Teich, an einer Stelle, wo niemand sie sehen konnte, ins Gras. Sie wußte nicht, wie lange sie dort gesessen haben mochte, als eilige weibliche Schritte, die auf dem Steig herankamen, sie wieder zur Besinnung brachten. Sie stand auf und sah, daß ihr Stubenmädchen Dunjascha herbeigelaufen kam, augenscheinlich um ihr etwas zu sagen, und plötzlich, wie wenn sie beim Anblick ihrer Herrin erschrecken würde, stehenblieb.

»Bitte, kommen Sie, Prinzessin ... der Fürst ...«, sagte Dunjascha mit fast versagender Stimme.

»Sogleich, ich komme, ich komme ...«, antwortete die Prinzessin, ohne dem Mädchen Zeit zu lassen, ihr vollständig mitzuteilen, was sie ihr zu sagen hatte, und lief nach dem Haus, wobei sie es vermied, Dunjascha anzusehen.

»Prinzessin, was geschieht, ist Gottes Wille; Sie müssen sich auf alles gefaßt machen«, sagte der Adelsmarschall, der ihr bei der Haustür begegnete.

»Lassen Sie mich; es ist nicht wahr!« schrie sie ihn heftig an.

Der Arzt wollte sie aufhalten. Sie stieß ihn zurück und lief zur Tür des Krankenzimmers. »Warum wollen mich diese Leute, die so erschrockene Gesichter machen, aufhalten? Was habe ich mit ihnen zu schaffen? Und was tun sie hier?« Sie öffnete die Tür und erschrak über das helle Tageslicht in diesem bisher halbdunklen Zimmer. In dem Zimmer waren mehrere Frauen, auch die alte Kinderfrau. Alle traten von dem Bett zurück und machten der Prinzessin Platz. Er lag ganz wie sonst auf dem Bett; aber die strenge Miene seines ruhigen Gesichtes hielt die Prinzessin Marja an der Schwelle des Zimmers zurück.

»Nein, er ist nicht gestorben; es ist nicht möglich!« sagte sie zu sich und trat zu ihm heran; sie überwand den Schrecken, der sie überkommen hatte, und drückte ihre Lippen an seine Wange. Aber im selben Augenblick fuhr sie auch von ihm zurück. Die[222] ganze Kraft der Zärtlichkeit, die sie in ihrem Herzen gegen ihn empfunden hatte, war momentan verschwunden und hatte einem Gefühl des Grauens vor dem, was da vor ihr war, Platz gemacht. »Nein, er ist nicht mehr! Er ist nicht mehr; und hier, an derselben Stelle, wo er war, ist nun etwas Fremdes, Feindliches, ein furchtbares, beängstigendes, abstoßendes Geheimnis!« Prinzessin Marja verbarg das Gesicht in den Händen und fiel in die Arme des Arztes, der sie auffing.


In Tichons und des Arztes Gegenwart wuschen die Weiber das, was ehemals Fürst Bolkonski gewesen war, banden ein Tuch um den Kopf, damit der Mund nicht in geöffneter Stellung erstarre, und banden mit einem anderen Tuch die sich spreizenden Beine zusammen. Dann zogen sie dem Toten seine Uniform mit den Orden an und legten den kleinen, zusammengetrockneten Körper auf den Tisch. Gott weiß, wer die Sorge dafür übernommen hatte und wann alles besorgt worden war; aber alles war wie von selbst geschehen: am Abend war ein Sarg da, um welchen ringsherum Kerzen brannten; auf dem offenen Sarg lag eine Decke; auf den Fußboden war Wacholderreisig gestreut; unter den verschrumpften Kopf des Toten war ein gedrucktes Gebet gelegt, und in der Ecke saß ein Küster, der Psalmen las.

So wie um ein totes Pferd herum die anderen Pferde scheuen, sich drängen und schnauben, so drängte sich im Salon um den Sarg eine Menge Volk, teils Angehörige des Hauses, teils fremde Leute, der Adelsmarschall, der Dorfschulze und Weiber, und alle bekreuzten sich erschrocken mit starren Augen und verneigten sich und küßten die kalte, starre Hand des alten Fürsten.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 210-223.
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