XI

[57] Von dem Hause des Fürsten Schtscherbatow wurden die Gefangenen geradewegs das Jungfernfeld hinuntergeführt, links vom Nowodjewitschi-Kloster, nach einem umzäunten Gemüsegarten, in dem ein Pfahl stand. Hinter dem Pfahl befand sich eine große Grube mit frisch ausgegrabener Erde, und um die Grube und den Pfahl herum stand im Halbkreis eine große Menge Menschen. Diese Menge bestand aus einigen wenigen Russen und einer großen Anzahl napoleonischer Soldaten, die sich außerdienstlich eingefunden hatten: Deutsche, Italiener und Franzosen in mannigfaltigen Uniformen. Rechts und links von dem Pfahl standen in Reih und Glied französische Truppen, in blauen Uniformen, mit roten Epauletten, mit Stiefeletten und Tschakos.

Die Gefangenen wurden in derselben Ordnung aufgestellt, in der sie in der Liste aufgeführt waren (Pierre stand als sechster),[57] und in die Nähe des Pfahles geführt. Plötzlich wurden auf beiden Seiten mehrere Trommeln geschlagen, und Pierre hatte das Gefühl, als ob ihm mit diesem Ton ein Stück seiner Seele weggerissen werde. Er verlor die Fähigkeit, Gedanken und Vorstellungen zu bilden; er konnte nur noch sehen und hören. Und nur einen Wunsch hatte er: daß das Schreckliche, das geschehen mußte, recht bald geschehen möchte. Er sah nach seinen Leidensgefährten hin und betrachtete sie.

Die beiden Männer am Anfang der Reihe waren Zuchthäusler mit rasiertem Kopf, der eine groß und hager, der andere muskulös, mit plattgedrückter Nase und schwarzem, struppigem Bart. Der dritte war ein herrschaftlicher Diener, ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, mit ergrauendem Haar und wohlgenährtem, fleischigem Körper. Der vierte war ein Bauer, ein sehr schöner Mann mit breitem, dunkelblondem Bart und schwarzen Augen. Der fünfte war ein Fabrikarbeiter, der einen Kittel trug, ein magerer, etwa achtzehnjähriger Bursche mit gelblichem Teint.

Pierre hörte die Franzosen sich darüber beraten, wie sie die Verurteilten erschießen sollten, ob jedesmal einen oder jedesmal zwei. »Jedesmal zwei«, entschied der oberste Offizier kalt und ruhig. In den Reihen der Soldaten entstand eine Bewegung, und es war zu merken, daß sich alle beeilten; und zwar beeilten sie sich nicht so, wie man sich beeilt, eine allen verständliche Aufgabe auszuführen, sondern so, wie man sich beeilt, eine nicht zu umgehende, aber unangenehme und unbegreifliche Aufgabe zu erledigen.

Ein französischer Beamter mit einer Schärpe trat an den rechten Flügel der in einer Reihe aufgestellten Verbrecher und verlas das Urteil in russischer und in französischer Sprache.

Dann traten zwei Paar Franzosen zu den Verbrechern hin und[58] nahmen auf Befehl des Offiziers die beiden Zuchthäusler, die am Anfang der Reihe standen. Die Zuchthäusler gingen zu dem Pfahl hin, blieben dort stehen und blickten, während die Säcke gebracht wurden, schweigend um sich, so wie ein angeschossenes Wild den herannahenden Jäger anblickt. Der eine bekreuzte sich fortwährend; der andere kratzte sich den Rücken und machte mit den Lippen eine Bewegung, die wie ein Lächeln aussah. Die Soldaten banden ihnen eilig die Augen zu, zogen ihnen die Säcke über den Kopf und banden sie an den Pfahl.

Zwölf Schützen mit Gewehren traten in gleichmäßigem, festem Schritt aus den Reihen heraus und stellten sich acht Schritte von dem Pfahl entfernt auf. Pierre wandte sich ab, um das, was nun kommen sollte, nicht zu sehen. Plötzlich erscholl ein Knattern und Krachen, das ihm lauter als der furchtbarste Donner vorkam, und er sah sich um. Er erblickte eine Rauchwolke und sah, wie die Franzosen mit blassen Gesichtern und zitternden Händen bei der Grube etwas taten. Dann wurden zwei andere hingeführt. Ganz ebenso, mit denselben Augen blickten auch diese beiden bei allen umher und flehten vergeblich nur mit den Blicken schweigend um Schutz; offenbar begriffen sie nicht, was ihnen bevorstand, und glaubten es nicht. Sie konnten es nicht glauben, weil sie allein wußten, welchen Wert das Leben für sie hatte, und daher nicht begriffen und nicht glaubten, daß man es ihnen nehmen könnte.

Pierre wollte es nicht sehen und wandte sich wieder ab; aber wieder schlug ein Schall wie eine furchtbare Explosion an sein Ohr, und gleich nach diesem Schall sah er Rauch und Blut und die blassen, verstörten Gesichter der Franzosen, die wieder bei dem Pfahl irgend etwas vornahmen, wobei sie mit zitternden Händen einander stießen. Schweratmend blickte Pierre um sich, als ob er fragen wollte: »Was bedeutet nur das alles?« Und dieselbe[59] Frage lag auch in all den Blicken, die dem seinigen begegneten.

Auf den Gesichtern aller Russen und aller französischen Soldaten und Offiziere, auf allen Gesichtern ohne Ausnahme las er dieselbe Angst, dasselbe Entsetzen und denselben Kampf, die sein Herz erfüllten. »Aber wer tut denn das nun eigentlich? Sie leiden doch alle darunter ebenso wie ich. Wer tut es denn? Ja, wer?« Diese Frage blitzte eine Sekunde lang in seinem Geist auf.

»Die Schützen vom sechsundachtzigsten Regiment, vortreten!« rief jemand. Es wurde der fünfte, der neben Pierre stand, geholt, er allein. Pierre begriff nicht, daß er gerettet war, daß er und alle übrigen nur hierhergeführt waren, um der Hinrichtung beizuwohnen. Mit immer wachsendem Grauen, ohne etwas von Freude oder Beruhigung zu verspüren, blickte er auf das, was da vorging, hin. Der fünfte war der Fabrikarbeiter im Kittel. Sowie die Soldaten ihn anrührten, sprang er voll Entsetzen zurück und klammerte sich an Pierre. Pierre fuhr zusammen und riß sich von ihm los. Der Fabrikarbeiter war nicht imstande zu gehen. Die Soldaten faßten ihn unter die Arme und schleppten ihn, wobei er etwas Unverständliches schrie. Als sie ihn zum Pfahl hingebracht hatten, verstummte er plötzlich. Er schien auf einmal etwas eingesehen zu haben. Ob er nun eingesehen hatte, daß sein Schreien nutzlos sei, oder ob er einzusehen glaubte, daß diese Menschen doch unmöglich vorhaben könnten, ihn zu töten, jedenfalls stand er am Pfahl, wartete darauf, daß ihm wie den andern die Augen verbunden würden, und blickte wie ein angeschossenes Wild mit glänzenden Augen um sich.

Pierre brachte es diesmal nicht mehr fertig, sich wegzuwenden und die Augen zu schließen. Seine Neugier und seine Aufregung hatten bei diesem fünften Mord den höchsten Grad erreicht, und dasselbe war augenscheinlich bei der ganzen Zuschauermenge[60] der Fall. Ebenso wie die andern schien auch dieser fünfte ruhig: er schlug die Schöße seines Arbeitskittels übereinander und scheuerte sich mit dem einen nackten Bein am andern.

Als ihm die Augen verbunden wurden, schob er selbst den Knoten am Hinterkopf zurecht, weil er ihn drückte; als man ihn dann gegen den blutigen Pfahl lehnen wollte, ließ er sich gegen ihn zurückfallen, und da ihm diese Stellung unbequem war, verbesserte er sie, stellte die Füße gleichmäßig nebeneinander und lehnte sich ruhig an. Pierre verwandte kein Auge von ihm, so daß ihm auch nicht die kleinste Bewegung entging.

Jedenfalls ertönte jetzt das Kommando, und jedenfalls krachten nach dem Kommando die Schüsse aus acht Gewehren. Aber so sehr sich Pierre nachher auch daran zu erinnern suchte, er hatte nicht den leisesten Ton von den Schüssen vernommen. Er hatte nur gesehen, wie aus irgendeinem Grund der Fabrikarbeiter plötzlich in den Stricken zusammensank, wie sich an zwei Stellen Blut zeigte, wie sich die Stricke unter der Last des in ihnen hängenden Körpers lockerten, wie der Arbeiter in unnatürlicher Weise den Kopf sinken ließ, das eine Bein unterschob und in eine sitzende Stellung zusammenknickte. Pierre lief nach dem Pfahl hin, ohne daß ihn jemand zurückgehalten hätte. Um den Arbeiter waren Menschen mit verstörten, bleichen Gesichtern beschäftigt, etwas zu tun. Einem alten, schnurrbärtigen Franzosen zitterte der Unterkiefer, als er die Stricke losband. Der Körper sank zu Boden. Die Soldaten schleppten ihn unbeholfen und eilig hinter den Pfahl und stießen ihn in die Grube.

Offenbar waren alle, ohne irgendwie daran zu zweifeln, sich dessen bewußt, daß sie Verbrecher waren, die die Spuren ihres Verbrechens so schnell wie möglich beseitigen mußten.

Pierre blickte in die Grube und sah den Fabrikarbeiter darin liegen: die Knie waren nach oben gebogen, bis nahe an den Kopf[61] heran, die eine Schulter höher hinaufgezogen als die andere. Und diese Schulter hob und senkte sich krampfhaft und gleichmäßig. Aber schon warfen die Spaten Erde in Menge über den ganzen Körper. Einer der Soldaten schrie in einem Ton, in dem sich Zorn, Grimm und Schmerz mischten, Pierre an, er solle zurückgehen. Aber Pierre verstand ihn gar nicht; er blieb an der Grube stehen, und niemand trieb ihn von dort weg.

Als die Grube dann zugeschüttet war, ertönte ein Kommando. Pierre wurde wieder auf seinen Platz geführt; die französischen Truppen, die auf beiden Seiten des Pfahls mit der Front nach diesem hin gestanden hatten, machten eine halbe Schwenkung und begannen in gleichmäßigem Schritt an dem Pfahl vorbeizumarschieren. Die Schützen, die bei der Exekution geschossen hatten und innerhalb des Kreises standen, begaben sich, während ihre Kompanien an ihnen vorbeimarschierten, im Laufschritt an ihre Plätze.

Gedankenlos blickte Pierre jetzt nach diesen Schützen hin, die paarweise aus dem Kreis herausliefen. Alle außer einem waren wieder in ihre Kompanien eingetreten. Nur ein junger Soldat stand immer noch mit leichenblassem Gesicht der Grube gegenüber auf dem Fleck, von dem aus er geschossen hatte; der Tschako war ihm weit nach hinten gerutscht, das Gewehr hielt er gesenkt. Er taumelte wie ein Betrunkener und machte bald ein paar Schritte vorwärts, bald rückwärts, um seinem Körper, der zu fallen drohte, eine Stütze zu geben. Ein alter Soldat, ein Unteroffizier, lief aus Reih und Glied zu ihm, faßte den jungen Soldaten an der Schulter und zog ihn in die Kompanie herein. Der Haufe der zuschauenden Russen und Franzosen begann sich zu verteilen. Alle gingen schweigend mit gesenkten Köpfen.

»Nun wird ihnen die Lust zu Brandstiftungen schon vergehen!« sagte einer der Franzosen.[62]

Pierre wandte sich nach dem Sprecher um und sah, daß es ein Soldat war, der sich, so gut es ging, über das Geschehene trösten wollte, es aber doch nicht vermochte. Ohne noch etwas hinzuzufügen, machte er eine Handbewegung, als würfe er etwas hinter sich, und ging weiter.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 57-63.
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