VI

[27] Als Prinzessin Marja nach ihrer Begegnung mit Rostow nach Moskau gekommen war, hatte sie dort ihren Neffen mit seinem Erzieher und einen Brief vom Fürsten Andrei vorgefunden, der ihnen empfahl, nach Woronesch zur Tante Malwinzewa zu ziehen. Die Sorgen wegen des Umzuges, die Unruhe über den Bruder, die Gestaltung ihres Lebens in dem neuen Wohnsitz, die neuen Gesichter, die sie um sich sah, die Erziehung ihres Neffen, alles dies übertäubte in der Seele der Prinzessin Marja jenes ihr als Versuchung erscheinende Gefühl, von dem sie während der Krankheit ihres Vaters und nach dessen Tod und ganz besonders nach der Begegnung mit Rostow gepeinigt worden war. Sie war traurig: der Schmerz, den der Verlust ihres Vaters in ihrer Seele hervorgerufen hatte und zu dem sich noch der Kummer über das Unglück Rußlands gesellte, machte sich jetzt, wo sie seitdem einen Monat in ruhigen Lebensverhältnissen verbracht hatte, immer stärker bei ihr fühlbar. Sie war in Angst: der Gedanke an die Gefahren, denen ihr Bruder ausgesetzt war, der einzige ihr nahestehende Mensch, der ihr noch geblieben war, quälte sie beständig. Sie sorgte und mühte sich mit der Erziehung ihres Neffen, für die es ihr nach ihrer sich stets erneuernden Überzeugung an der nötigen Befähigung mangelte. Aber im tiefsten Grunde ihres Herzens hatte sie doch ein Gefühl des Friedens mit sich selbst, ein Gefühl, das aus dem Bewußtsein entsprang, daß sie jene persönlichen, mit Rostows Erscheinen verknüpften Träumereien und Hoffnungen erstickt hatte, die sich in ihrem Innern hatten erheben wollen.

Am Tage nach ihrer Abendgesellschaft machte die Frau Gouverneur bei Frau Malwinzewa einen Besuch und besprach ihre Pläne mit der Tante, indem sie hinzufügte, an eine formelle[28] Verlobung sei ja zwar unter den jetzigen Verhältnissen nicht zu denken; immerhin könne man jedoch die jungen Leute zusammenführen und ihnen Gelegenheit geben, einander näher kennenzulernen. Und als sie die Zustimmung der Tante erlangt hatte, brachte sie in Gegenwart der Prinzessin Marja das Gespräch auf Rostow, lobte ihn und erzählte, wie er bei Erwähnung der Prinzessin ganz rot geworden sei. Prinzessin Marja hatte hierbei nicht sowohl eine freudige als vielmehr eine schmerzliche Empfindung: mit ihrem inneren Frieden war es aus, und wieder regten sich Wünsche, Zweifel, Selbstvorwürfe und Hoffnungen.

In den zwei Tagen, die von dieser Mitteilung bis zu Rostows Besuch vergingen, dachte Prinzessin Marja unaufhörlich darüber nach, wie sie sich Rostow gegenüber verhalten solle. Bald entschied sie sich dafür, wenn er der Tante seinen Besuch machen würde, nicht in den Salon zu gehen, weil es bei ihrer tiefen Trauer für sie nicht passend sei, Besuch zu empfangen; bald wieder dachte sie, dies könnte doch nach allem, was er für sie getan hatte, unartig erscheinen. Dann kam ihr der Gedanke, ihre Tante und die Frau Gouverneur hätten wohl gewisse Absichten in bezug auf sie und Rostow, wie ihr denn die Blicke und Worte der beiden Damen mitunter diese Vermutung zu bestätigen schienen; und dann wieder meinte sie, daß nur sie in ihrer Schlechtigkeit so etwas von den beiden denken könne: sie müßten sich ja notwendig sagen, daß in ihrer Lage, wo sie die Trauerpleureusen noch nicht abgelegt habe, eine solche Werbung sowohl für sie als auch für das Andenken ihres Vaters beleidigend sei. Indem sie den Fall setzte, daß sie zu ihm in den Salon gehen werde, überlegte sie die Worte, die er ihr und sie ihm sagen werde; und bald erschienen ihr diese Worte zu kalt im Hinblick auf ihr beiderseitiges Verhältnis, bald gar zu vielsagend. Eines aber[29] fürchtete sie bei dem Wiedersehen am allermeisten: nämlich daß sie, sobald sie ihn erblicken würde, verlegen werden und dadurch ihre Gefühle verraten werde.

Aber als am Sonntag nach der Messe der Diener im Salon meldete, Graf Rostow sei gekommen, war der Prinzessin keine Verlegenheit anzumerken; nur eine leichte Röte trat auf ihre Wangen, und ihre Augen leuchteten in einem neuen, hellen Glanz.

»Sie haben ihn schon gesehen, liebe Tante?« fragte Prinzessin Marja in ruhigem Ton und wußte selbst nicht, wie sie es fertigbrachte, äußerlich so ruhig und ungezwungen zu sein.

Als Rostow ins Zimmer trat, senkte die Prinzessin für einen Augenblick den Kopf, als wollte sie dem Gast Zeit lassen, die Tante zu begrüßen; dann hob sie gerade in dem Augenblick, als Rostow sich zu ihr wandte, den Kopf wieder in die Höhe und begegnete mit leuchtenden Augen seinem Blick. Mit einer ebenso würdevollen wie anmutigen Bewegung erhob sie sich freudig lächelnd ein wenig von ihrem Platz, streckte ihm ihre schmale, zarte Hand entgegen und sagte einige Worte mit einer Stimme, in der zum erstenmal neue, frauenhafte, aus dem Innern kommende Töne erklangen. Mademoiselle Bourienne, die im Salon anwesend war, sah die Prinzessin Marja mit verständnislosem Staunen an. Obwohl sie die geschickteste Kokette war, hätte selbst sie bei der Begegnung mit einem Mann, dem sie hätte gefallen wollen, nichts besser machen können.

»Entweder steht Schwarz ihr besonders gut, oder sie ist wirklich, ohne daß ich es bemerkt habe, soviel hübscher geworden. Und was die Hauptsache ist: dieser Takt und diese Anmut«, dachte Mademoiselle Bourienne.

Wäre Prinzessin Marja in diesem Augenblick imstande gewesen zu denken, so hätte sie sich noch mehr als Mademoiselle[30] Bourienne über die Veränderung gewundert, die mit ihr vorgegangen war.

In dem Augenblick, wo sie dieses angenehme, geliebte Gesicht wieder erblickt hatte, war eine Art von neuer Lebenskraft in ihr erwachsen und trieb sie, ohne daß ihr eigener Wille dabei in Frage gekommen wäre, zu reden und zu handeln. Ihr Gesicht war von dem Moment an, wo Rostow eingetreten war, auf einmal wie verwandelt. Wie an den gravierten, buntbemalten Seitenflächen einer Laterne die komplizierte, feine, kunstvolle Arbeit, die vorher grob, dunkel und sinnlos erschien, plötzlich in ungeahnter, überraschender Schönheit sichtbar wird, sobald man innen das Licht anzündet: so verwandelte sich auf einmal das Gesicht der Prinzessin Marja. Zum erstenmal machte sich all jene rein geistige, innerliche Arbeit, mit der sie bisher ihr Leben ausgefüllt hatte, nach außen hin bemerkbar. All ihre innerliche, sich selbst nie genügende Arbeit, ihre Leiden, ihr Streben nach dem Guten, ihre Demut, ihre Liebe, ihre Selbstaufopferung, alles dies leuchtete jetzt in diesen glänzenden Augen, in diesem leisen Lächeln, in jedem Zug ihres zarten Gesichtes.

Rostow sah alles dies mit solcher Klarheit und Deutlichkeit, als ob er ihr ganzes Leben kannte. Er fühlte, daß das Wesen, das er da vor sich sah, ein ganz andersartiges, besseres war als alle die, denen er bisher begegnet war, und vor allen Dingen besser als er selbst.

Das Gespräch hatte den einfachsten, unbedeutendsten Inhalt. Sie redeten vom Krieg, wobei sie unwillkürlich, wie alle Leute, ihren Kummer über dieses Ereignis übertrieben; sie redeten von ihrer letzten Begegnung (jedoch suchte Nikolai hier das Gespräch auf einen andern Gegenstand zu bringen); sie redeten von der guten Frau Gouverneur, von Nikolais Angehörigen und von den Angehörigen der Prinzessin Marja.[31]

Prinzessin Marja sprach nicht von ihrem Bruder und lenkte das Gespräch auf eine andere Bahn, sooft die Tante von Andrei zu reden begann. Über das Unglück Rußlands konnte sie offenbar in gekünstelten Wendungen reden; aber ihr Bruder stand ihrem Herzen zu nahe, als daß sie in einem oberflächlichen Gespräch von ihm hätte reden mögen oder reden können. Nikolai bemerkte dies, wie er denn überhaupt mit einer ihm sonst nicht innewohnenden scharfsinnigen Beobachtungsgabe all die feinen Charakterzüge der Prinzessin Marja bemerkte; und durch die Wahrnehmung dieser Charakterzüge wurde er in seiner Überzeugung, daß sie ein ganz besonderes, außerordentliches Wesen sei, nur noch mehr bestärkt. Es ging ihm ganz ebenso wie der Prinzessin Marja: wenn jemand zu ihm von Prinzessin Marja sprach, und sogar wenn er nur an sie dachte, wurde er rot und verlegen; aber in ihrer Gegenwart fühlte er sich vollkommen frei und redete dann ganz und gar nicht das, was er sich vorher zurechtgelegt hatte, sondern das, was ihm im Augenblick, und immer durchaus passend, in den Sinn kam.

Bei diesem kurzen Besuch nahm Nikolai, wie man das so zu machen pflegt, wo Kinder sind, in einem Augenblick des Stillschweigens seine Zuflucht zu dem kleinen Sohn des Fürsten Andrei; er liebkoste ihn und fragte ihn, ob er Husar werden wolle. Er nahm den Knaben auf den Arm, schwenkte ihn lustig umher und blickte dabei Prinzessin Marja an. Diese verfolgte mit gerührtem, glücklichem, ängstlichem Blick ihren geliebten Knaben in den Händen des geliebten Mannes. Auch diesen Blick bemerkte Nikolai, und wie wenn er dessen Bedeutung verstände, errötete er vor Vergnügen und küßte den Kleinen gutherzig und fröhlich.

Prinzessin Marja machte wegen ihrer Trauer keine Besuche, Nikolai aber hielt es nicht für passend, bei ihr und ihrer Tante häufiger zu erscheinen; aber die Frau Gouverneur setzte ihre[32] Tätigkeit als Vermittlerin dennoch fort: sie machte Nikolai Mitteilung, wenn Prinzessin Marja etwas Schmeichelhaftes über ihn gesagt hatte, und umgekehrt, und drängte schließlich darauf, Nikolai möchte sich der Prinzessin erklären. Zum Zweck dieser Erklärung veranstaltete sie ein Zusammentreffen der beiden jungen Leute beim Bischof vor der Messe.

Rostow sagte der Frau Gouverneur zwar, er werde der Prinzessin Marja keine Erklärung machen, versprach aber doch hinzukommen.

Wie Rostow in Tilsit sich nicht erlaubt hatte, daran zu zweifeln, daß das, was von allen als gut betrachtet wurde, auch wirklich gut war, so machte er es auch jetzt: nach einem kurzen, aber ernstgemeinten Kampf mit sich selbst, ob er sein Leben nach seinem eigenen Urteil einrichten oder sich den Verhältnissen fügsam unterwerfen solle, wählte er das letztere und überließ sich jener Macht, von der er sich unwiderstehlich fortgezogen fühlte, ohne zu wissen wohin. Er wußte: wenn er der Prinzessin Marja seine Gefühle entdeckte, trotzdem er Sonja ein Versprechen gegeben hatte, so war das eine Handlungsweise, wie er sie als Gemeinheit zu bezeichnen pflegte; und er wußte, daß er eine Gemeinheit nie begehen werde. Aber er wußte auch (oder wenn er es nicht wußte, so fühlte er es wenigstens in tiefster Seele), daß, wenn er sich jetzt der Macht der Verhältnisse und der Menschen, die ihn leiteten, überließ, er damit nichts Schlechtes tat, wohl aber etwas höchst Bedeutungsvolles, etwas so Bedeutungsvolles, wie er es noch nie in seinem Leben getan hatte.

Nach seiner Wiederbegegnung mit Prinzessin Marja war zwar seine äußere Lebensweise dieselbe geblieben, aber alles, was ihm früher Vergnügen gemacht hatte, hatte nun für ihn seinen Reiz verloren, und er dachte häufig an Prinzessin Marja; aber nie dachte er an sie in derselben Weise, wie er an alle anderen jungen[33] Damen, mit denen er im gesellschaftlichen Verkehr bekannt geworden war, ohne Ausnahme gedacht hatte, auch nicht in der Weise, wie er es lange Zeit, und in einer gewissen Periode mit schwärmerischem Entzücken, in bezug auf Sonja getan hatte. Eine jede dieser jungen Damen hatte er, wenn er an sie dachte, sich als seine künftige Frau vorgestellt, wie das ja fast jeder ehrenhafte junge Mann tut, und hatte ihr in seinen Gedanken gleichsam alle Stücke des Ehelebens anprobiert: das weiße Morgenkleid, die Frau beim Samowar, den Wagen der gnädigen Frau, die Kinderchen, Mama und Papa, das Verhältnis der Kinder zu ihr, usw., usw., und dieses Ausmalen der Zukunft hatte ihm Vergnügen gemacht; aber wenn er an Prinzessin Marja dachte, die man zu seiner Frau machen wollte, so konnte er sich in keiner Hinsicht eine Vorstellung von seinem künftigen Eheleben machen. Und mochte er es noch so sehr versuchen, so kam doch stets ein unharmonisches, unnatürliches Bild heraus. Es wurde ihm dabei nur beklommen ums Herz.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 27-34.
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