VII

[34] Die schreckliche Kunde von der Schlacht bei Borodino, von unseren Verlusten an Toten und Verwundeten, und die noch schrecklichere Kunde von dem Verlust Moskaus gelangten nach Woronesch Mitte September. Prinzessin Marja, die von der Verwundung ihres Bruders nur aus den Zeitungen wußte und keine bestimmten Nachrichten über ihn hatte, beabsichtigte, wie Nikolai hörte (selbst hatte er sie nicht gesehen), wegzureisen und den Fürsten Andrei zu suchen.

Bei der Nachricht von der Schlacht bei Borodino und der Preisgabe Moskaus wurde Rostow nicht etwa von Verzweiflung, Ingrimm, Rachlust und ähnlichen Gefühlen ergriffen, wohl aber[34] wurde ihm auf einmal alles in Woronesch langweilig und widerwärtig, und er fühlte sich bedrückt und unbehaglich. Alle Gespräche, die er zu hören bekam, schienen ihm verstellt; er wußte nicht, welche Anschauung er über alles Vorgegangene haben solle, und fühlte, daß erst beim Regiment ihm alles wieder klar werden würde. Er beschleunigte den Abschluß der Pferdekäufe und geriet seinem Burschen und dem Wachtmeister gegenüber oft in Zorn, ohne daß diese ihm dazu Veranlassung gegeben hätten.

Einige Tage vor Rostows Abreise sollte im Dom ein Dankgottesdienst anläßlich des von den russischen Truppen errungenen Sieges abgehalten werden, und auch Nikolai nahm an dieser Feierlichkeit teil. Er stand nicht weit hinter dem Gouverneur und beobachtete während des Gottesdienstes eine gemessene, dienstliche Haltung, dachte aber an die verschiedenartigsten Dinge. Als die kirchliche Handlung beendet war, rief die Frau Gouverneur ihn zu sich heran.

»Hast du die Prinzessin gesehen?« sagte sie und wies mit dem Kopf auf eine Dame in Schwarz, die an der Chorestrade stand.

Nikolai erkannte Prinzessin Marja sofort, nicht sowohl an ihrem Profil, von dem unter dem Hut ein Teil sichtbar war, als an dem Gefühl von zarter Rücksicht, banger Teilnahme und herzlichem Mitleid, das ihn sogleich überkam. Prinzessin Marja, augenscheinlich ganz in ihre Gedanken versunken, war gerade dabei, vor dem Verlassen der Kirche die letzten Bekreuzungen auszuführen.

Erstaunt betrachtete Nikolai ihr Gesicht. Es war dasselbe Gesicht, das er früher gesehen hatte, und es zeigte denselben allgemeinen Ausdruck feinsinniger, innerlicher, geistiger Arbeit; aber jetzt lag darauf eine ganz andere Beleuchtung. Ein rührender Ausdruck von Trauer, Andacht und Hoffnung war über dieses[35] Gesicht gebreitet. Wie Nikolai es auch sonst in ihrer Gegenwart zu machen pflegte, folgte er seiner Eingebung: ohne abzuwarten, ob die Frau Gouverneur ihm raten würde, zu ihr hinzugehen, und ohne sich selbst zu fragen, ob es gut und passend sei, wenn er sie hier in der Kirche anrede, trat er an sie heran und sagte, er habe von ihrem Kummer gehört und nehme von ganzer Seele an ihm teil. Kaum hatte sie seine Stimme vernommen, als plötzlich eine helle Röte ihr Gesicht überzog, auf dem sich nun gleichzeitig Trauer und Freude malte.

»Ich wollte Ihnen nur eines sagen, Prinzessin«, sagte Rostow, »nämlich daß, wenn Fürst Andrei nicht mehr am Leben wäre, dies sicher sofort in den Zeitungen gestanden hätte, da er ja Regimentskommandeur ist.«

Die Prinzessin sah ihn an, ohne seine Worte zu verstehen, aber erfreut über den Ausdruck mitleidsvoller Teilnahme, der auf seinem Gesicht lag.

»Und ich kenne so viele Beispiele davon, daß eine von einem Granatsplitter herrührende Wunde« (diese Art der Verwundung war in den Zeitungen angegeben worden) »entweder sofort tödlich oder im Gegenteil sehr leicht ist«, sagte Nikolai. »Man muß hoffen, daß der günstige Fall vorliegt, und ich bin überzeugt ...«

Prinzessin Marja unterbrach ihn:

»Oh, das wäre ja auch furcht ...«, begann sie, konnte aber vor Aufregung nicht zu Ende sprechen; mit einer anmutigen Bewegung (anmutig wie alles, was sie in seiner Anwesenheit tat) neigte sie den Kopf, blickte ihn dankbar an und ging ihrer Tante nach.

Am Abend dieses Tages ging Nikolai nicht in Gesellschaft, sondern blieb zu Hause, um einige Abrechnungen mit Pferdeverkäufern zum Abschluß zu bringen. Als er mit diesen geschäftlichen[36] Angelegenheiten fertig war, war es schon zu spät, um noch irgendwohin zu gehen, und noch zu früh, um sich schlafen zu legen, und so ging denn Nikolai lange allein in seinem Zimmer auf und ab und überdachte sein Leben, was bei ihm nur selten vorkam.

Prinzessin Marja hatte ihm bei Smolensk einen angenehmen Eindruck gemacht. Daß er sie damals in so eigenartiger Lage gefunden hatte und daß er gerade auf sie früher einmal von seiner Mutter als auf eine reiche Partie hingewiesen worden war, diese beiden Umstände hatten ihn veranlaßt, ihr besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. In Woronesch war dieser Eindruck während seines Aufenthaltes nicht nur ein angenehmer, sondern auch ein sehr starker gewesen. Nikolai war überrascht gewesen von jener eigenartigen seelischen Schönheit, die er diesesmal an ihr wahrnahm. Indessen hatte er doch Anstalten getroffen, um abzureisen, und es war ihm nicht in den Sinn gekommen, es zu bedauern, daß er durch die Abreise aus Woronesch der Möglichkeit, die Prinzessin zu sehen, verlustig ging. Aber das heutige Zusammen treffen mit Prinzessin Marja in der Kirche hatte (das fühlte Nikolai) sein Herz doch tiefer ergriffen, als er es für möglich gehalten hätte, und tiefer, als er es um seiner Ruhe willen hätte wünschen mögen. Dieses blasse, feine, traurige Gesicht, dieser leuchtende Blick, diese ruhigen, anmutigen Bewegungen und ganz besonders die tiefe, rührende Trauer, die in allen ihren Zügen zum Ausdruck kam, dies alles versetzte ihn in seelische Erregung und erweckte seine Teilnahme. Bei Männern konnte Rostow es nicht leiden, wenn das Gesicht auf ein höheres geistiges Leben schließen ließ (deshalb mochte er auch den Fürsten Andrei nicht gern); er nannte das geringschätzig Philosophie und Träumerei; aber Prinzessin Marja übte gerade in dieser Trauer, aus der die ganze Tiefe dieses ihm fremden Geisteslebens[37] ersichtlich wurde, auf ihn eine unwiderstehliche Anziehung aus.

»Ein wunderbares Mädchen muß sie sein! Geradezu ein Engel!« sagte er zu sich selbst. »Warum bin ich nicht frei? Warum habe ich mich mit Sonja übereilt?« Und unwillkürlich verglich er in Gedanken beide miteinander: bei der einen ein Mangel und bei der andern ein Reichtum an den Geistesgaben, die er selbst nicht besaß und eben darum so hochschätzte. Er versuchte, sich vorzustellen, was geschehen würde, wenn er frei wäre. Auf welche Weise würde er ihr dann einen Antrag machen und sie seine Frau wer den? Nein, er konnte sich das nicht vorstellen. Es wurde ihm seltsam ums Herz, und er konnte sich davon kein klares Bild machen. Von dem Leben mit Sonja zusammen hatte er sich schon längst ein Zukunftsbild entworfen, und alles war dabei einfach und klar, namentlich deswegen, weil er Sonjas ganzes Inneres kannte und sich danach alles in Gedanken zurechtgelegt hatte; aber ein künftiges Zusammenleben mit Prinzessin Marja vermochte er sich nicht vorzustellen, weil er sie nicht verstand, sondern sie nur liebte.

Die Zukunftsträumereien über Sonja hatten etwas Heiteres, es war wie ein Spiel mit Spielzeug. Aber an Prinzessin Marja zu denken, das war immer etwas Schweres.

»Wie sie betete!« dachte er, sich erinnernd. »Man sah, daß ihre ganze Seele mit dem Gebet beschäftigt war. Ja, das ist jenes Gebet, das Berge versetzt, und ich bin überzeugt, daß ihr Gebet Erhörung finden wird. Warum bete ich denn nicht um das, was ich wünsche?« fiel ihm ein. »Was wünsche ich denn? Die Freiheit, die Loslösung von Sonja. Ja, sie hat recht«, dachte er in Erinnerung an das, was die Frau Gouverneur zu ihm gesagt hatte; »wenn ich sie heirate, so führt das nur zum Ruin. Zerrüttung der[38] Verhältnisse, Mamas Gram ... Ruin, furchtbarer Ruin. Und ich liebe sie auch nicht, liebe sie nicht so, wie es nötig wäre. Mein Gott! Rette mich aus dieser furchtbaren Lage, aus der ich keinen Ausweg sehe!« begann er auf einmal zu beten. »Ja, das Gebet versetzt Berge; aber man muß glauben und darf auch nicht so beten, wie wir, Natascha und ich, als Kinder beteten, der Schnee möchte zu Zucker werden, worauf wir dann auf den Hof liefen, um zu probieren, ob der Schnee auch wirklich zu Zucker geworden war. Nein, das war Torheit; aber jetzt bete ich nicht um Possen«, sagte er, stellte die Pfeife in die Ecke und trat mit gefalteten Händen vor das Heiligenbild. Und durch die Erinnerung an Prinzessin Marja in Rührung versetzt, begann er so zu beten, wie er lange nicht gebetet hatte. Die Tränen traten ihm in die Kehle und in die Augen; da öffnete sich die Tür, und Lawrenti trat mit irgendwelchen Sachen aus Papier ein.

»Esel! Warum kommst du, wenn du nicht gerufen wirst!« sagte Nikolai und änderte schnell seine Haltung.

»Vom Gouverneur«, sagte Lawrenti mit schläfriger Stimme. »Ein Kurier ist angekommen; da sind Briefe für Sie.«

»Na, gut, danke; du kannst gehen!«

Nikolai nahm die beiden Briefe. Der eine war von seiner Mutter, der andere von Sonja. Er erkannte die Absenderinnen an der Handschrift und erbrach zuerst Sonjas Brief. Aber kaum hatte er einige Zeilen gelesen, als sein Gesicht blaß wurde und seine Augen sich vor Schreck und Freude weit öffneten.

»Nein, es ist nicht möglich!« sprach er laut vor sich hin.

Unfähig, auf einem Fleck stillzusitzen, begann er, mit dem Brief in der Hand, im Zimmer auf und ab zu gehen und ihn dabei zu lesen. Er überflog den Brief mit den Augen, las ihn dann einmal und noch einmal und blieb, die Schultern in die Höhe ziehend und die Arme auseinanderbreitend, mitten im Zimmer[39] mit offenem Mund und starren Augen stehen. Um was er soeben gebetet hatte in der Überzeugung, daß Gott sein Gebet erhören werde, das war in Erfüllung gegangen; aber Nikolai war darüber so erstaunt, als ob dies etwas ganz Außerordentliches wäre, und als ob er es nie erwartet hätte, und als ob gerade die schnelle Erfüllung seines Wunsches ein Beweis dafür wäre, daß dies nicht von Gott herrühre, zu dem er gebetet hatte, sondern von einem gewöhnlichen Zufall.

Der Knoten, welcher Rostows Freiheit fesselte und ihm unlösbar erschienen war, der war durch diesen Brief Sonjas gelöst worden, durch diesen Brief, der nach Nikolais Ansicht durch keinen besonderen Anlaß hervorgerufen worden und in keiner Weise zu erwarten gewesen war. Sie schrieb, die letzten traurigen Ereignisse, namentlich daß Rostows in Moskau fast ihr gesamtes Vermögen verloren hätten, und der wiederholt ausgesprochene Wunsch der Gräfin, Nikolai möchte die Prinzessin Bolkonskaja heiraten, und sein langes Stillschweigen und sein kühles Benehmen in der letzten Zeit, dies alles zusammen habe sie zu dem Entschluß gebracht, ihn von seinem Versprechen zu entbinden und ihm seine völlige Freiheit wiederzugeben.

»Es wäre mir ein gar zu schmerzlicher Gedanke«, schrieb sie, »daß ich die Ursache des Kummers oder der Zwietracht in einer Familie sein sollte, von der ich so viele Wohltaten genossen habe, und meine Liebe kennt kein anderes Ziel als zu dem Glück der Menschen, die ich liebe, beizutragen. Darum bitte ich Sie inständig, Nikolai, sich für frei anzusehen und überzeugt zu sein, daß Sie trotz alledem niemand stärker und aufrichtiger lieben kann als Ihre Sonja.«

Beide Briefe waren aus Troiza. Der andere Brief war von der Gräfin. Sie schilderte darin die letzten Tage in Moskau, die Abreise, die Feuersbrunst und den Verlust der ganzen Habe. In[40] diesem Brief schrieb die Gräfin unter anderm auch, daß unter den Verwundeten, die mit ihnen gefahren seien, sich auch Fürst Andrei befinde. Sein Zustand sei sehr gefährlich gewesen; aber jetzt sage der Arzt, es sei etwas mehr Hoffnung. Sonja und Natascha seien seine Pflegerinnen und gäben darin keiner Krankenwärterin etwas nach.

Mit diesem Brief begab sich Nikolai am andern Tag zu Prinzessin Marja. Weder Nikolai noch Prinzessin Marja sagten auch nur ein Wort darüber, welche Bedeutung wohl der Ausdruck »Natascha ist seine Pflegerin« haben könne; aber dank diesem Brief war Nikolai der Prinzessin Marja auf einmal viel nähergerückt und gewissermaßen in ein verwandtschaftliches Verhältnis zu ihr getreten.

Am andern Tag gab Rostow der Prinzessin Marja, die nach Jaroslawl reiste, eine Strecke weit das Geleit und reiste einige Tage darauf selbst zu seinem Regiment ab.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 34-41.
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