IX

[47] Auf der Hauptwache, wohin Pierre gebracht worden war, behandelten ihn der Offizier und die Soldaten, die ihn arretiert hatten, feindselig, aber zugleich mit einem gewissen Respekt. Man konnte aus ihrem Benehmen gegen ihn noch ihre Ungewißheit darüber herausmerken, was er wohl für einer sein möchte, ob vielleicht eine hochgestellte Persönlichkeit, sowie eine Feindseligkeit infolge ihres noch frischen persönlichen Kampfes mit ihm.

Aber als am Morgen des nächsten Tages die Ablösung kam, da merkte Pierre, daß er für die neue Wachmannschaft, den Offizier und die Soldaten, nicht mehr die Bedeutung besaß, die er für diejenigen besessen hatte, von denen er festgenommen worden war. Und wirklich sah die Wachmannschaft des nächsten Tages in diesem großen, dicken Menschen mit dem gewöhnlichen Kaftan nicht mehr das eigenartige Individuum, das sich so grimmig mit den Plünderern und den Soldaten von der Patrouille herumgeschlagen und die hochtrabende Redensart von der Rettung eines Kindes geäußert hatte, sondern lediglich Nummer siebzehn derjenigen Russen, die für irgend etwas, was sie begangen hatten, gemäß höherem Befehl festgenommen waren und in Gewahrsam gehalten wurden. Und wenn ihnen wirklich etwas an Pierre auffiel, so war es nur seine feste, ernstnachdenkliche Miene und sein Französisch; denn darüber wunderten sich die Franzosen allerdings, daß er sich so gut auf französisch ausdrückte.

Trotzdem wurde Pierre noch an demselben Tag mit den andern als verdächtig Arretierten zusammengebracht, da man das besondere Zimmer, das er zunächst innegehabt hatte, für einen Offizier benötigte.

Die Russen, die mit Pierre zusammen gefangengehalten[48] wurden, gehörten sämtlich der niedrigsten Bevölkerungsschicht an. Und alle hielten sie sich, da sie in Pierre einen vornehmen Herrn erkannten, von ihm fern, um so mehr, da er französisch sprach. Mit einer schmerzlichen Empfindung hörte Pierre, daß sie sich über ihn lustig machten.

Am nächsten Tag gegen Abend erfuhr Pierre, daß alle diese Arrestanten, und mit ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach auch er, wegen Brandstiftung vor Gericht gestellt werden sollten. Am dritten Tag wurde Pierre mit den andern in ein Haus transportiert, wo ein französischer General mit weißem Schnurrbart, zwei Obersten und noch einige andere Franzosen mit Binden am Arme saßen. Mit jener scheinbar über alle menschliche Schwäche erhabenen Peinlichkeit und Akkuratesse, mit welcher Angeklagte gewöhnlich behandelt werden, wurden an Pierre, ebenso wie an die andern, allerlei Fragen gerichtet: wer er sei, wo er gewesen sei, was er beabsichtigt habe, usw.

Diese Fragen, die das wahre Wesen der Sache unberührt ließen und zur Klarstellung desselben nicht das geringste beitrugen, hatten, wie alle Fragen, die in Gerichtsverhandlungen gestellt werden, nur den Zweck, gleichsam die Rinne aufzustellen, in der nach dem Wunsch der Richter die Antworten des Angeklagten fließen sollten, damit er zu dem von ihnen gewünschten Ziel, d.h. zur Verurteilung, hingeleitet werde. Sobald er anfing etwas zu sagen, was für dieses Ziel nicht taugte, wurde die Rinne weggenommen, und nun mochte das Wasser fließen, wohin es wollte. Außerdem hatte Pierre dasselbe Gefühl, das der Angeklagte in allen Gerichtsverhandlungen hat: ein Gefühl der Verwunderung, weshalb ihm alle diese Fragen gestellt wurden. Es kam ihm so vor, als bediene man sich dieses Manövers mit der untergestellten Rinne nur aus Herablassung oder aus einer Art von Höflichkeit. Er wußte, daß er sich in der Gewalt dieser[49] Menschen befand, daß nur die Gewalt ihn hierhergebracht hatte, daß nur die Gewalt ihnen ein Recht gab, Antworten auf ihre Fragen zu verlangen, daß der einzige Zweck, zu dem dieses Richterkollegium gebildet war, darin bestand, ihn schuldig zu finden. Da also die Gewalt da war und der Wunsch, ihn schuldig zu finden, da war, so bedurfte es gar nicht erst des Manövers mit den Fragen und mit der Gerichtsverhandlung. Es war offensichtlich, daß alle Antworten dazu dienen sollten, ihn schuldig erscheinen zu lassen. Auf die Frage, was er getan habe, als er festgenommen wurde, antwortete Pierre in etwas pathetischer Weise, er habe ein Kind, das er aus den Flammen gerettet habe, zu den Eltern gebracht. Warum er auf die Plünderer losgeschlagen habe? Pierre antwortete, er habe ein Weib verteidigt; ein angegriffenes Weib zu verteidigen, sei die Pflicht eines jeden Mannes, und ... Hier unterbrach man ihn: das gehöre nicht zur Sache. Warum er sich auf dem Hof des brennenden Hauses aufgehalten habe, wo ihn die Zeugen gesehen hätten? Er erwiderte, er sei ausgegangen, um zu sehen, was in Moskau vorginge. Wieder unterbrach man ihn: er sei nicht gefragt worden, wozu er ausgegangen sei, sondern warum er sich in der Nähe des Brandes aufgehalten habe. Wer er sei? Dies war eine Wiederholung der ersten Frage, auf die er erwidert hatte, er könne diese Frage nicht beantworten. Er antwortete auch diesmal, das könne er nicht sagen.

»Schreiben Sie das nieder«, sagte der General mit dem weißen Schnurrbart und der gesunden, roten Hautfarbe zu dem Protokollführer. Und zu Pierre gewendet, fügte er in strengem Ton hinzu: »Schlimm, sehr schlimm.«

Am vierten Tag brachen Feuersbrünste am Subow ski-Wall aus.

Pierre wurde mit dreizehn anderen nach der Krimfurt in die[50] Wagenremise eines Kaufmannshauses gebracht. Auf dem Weg durch die Straßen konnte Pierre kaum atmen in dem Rauch, der, wie es schien, über der ganzen Stadt lagerte. Auf verschiedenen Seiten waren Brände zu sehen. Pierre verstand damals noch nicht, welche Bedeutung der Brand von Moskau hatte, und blickte mit Schrecken auf alle diese Feuersbrünste.

In der Wagenremise dieses Hauses an der Krimfurt verbrachte Pierre noch vier Tage und erfuhr im Laufe dieser Zeit aus den Gesprächen der französischen Soldaten, daß alle hier Inhaftierten täglich die Entscheidung des Marschalls zu erwarten hätten. Welchen Marschalls, das konnte Pierre aus den Äußerungen der Soldaten nicht entnehmen. Den Soldaten erschien der Marschall offenbar als ein sehr hohes und einigermaßen geheimnisvolles Mitglied der Obergewalt.

Diese ersten Tage bis zum 8. September, an welchem Tag die Gefangenen zum zweiten Verhör geführt wurden, waren für Pierre am schwersten zu ertragen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 47-51.
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