VIII

[41] Sonjas Brief an Nikolai, der ihm die Erfüllung seines Gebetes brachte, war in Troiza geschrieben. Die Veranlassung dazu war folgende. Der Gedanke, daß Nikolai ein reiches Mädchen heiraten müsse, beschäftigte die alte Gräfin immer mehr und mehr. Sie wußte, daß Sonja das Haupthindernis für diesen Plan war. Und so war denn Sonjas Leben im Haus der Gräfin in der letzten Zeit, namentlich nach jenem Brief Nikolais, in welchem er seine Begegnung mit Prinzessin Marja in Bogutscharowo geschildert hatte, immer schwerer und schwerer geworden. Die Gräfin ließ keine Gelegenheit unbenutzt, Anspielungen zu machen, die für Sonja kränkend und verletzend waren.

Aber einige Tage vor der Abreise aus Moskau hatte die Gräfin,[41] durch alles Vorgefallene aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht und in Aufregung versetzt, Sonja zu sich gerufen und diesmal, statt ihr Vorwürfe zu machen und Forderungen zu stellen, sie unter Tränen gebeten, sie möchte doch ein Opfer bringen und alles, was für sie getan sei, dadurch vergelten, daß sie ihr Verhältnis zu Nikolai löse.

»Ich werde nicht eher Ruhe haben, ehe du mir das nicht versprochen hast«, sagte sie.

Sonja brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus und antwortete unter strömenden Tränen, sie werde alles tun und sei zu allem bereit; aber ein bestimmtes Versprechen gab sie nicht und konnte sich in ihrem Herzen nicht entschließen, das zu tun, was von ihr verlangt wurde. Daß es ihre Pflicht war, Opfer zu bringen für das Glück der Familie, von der sie Unterhalt und Erziehung erhalten hatte, das wußte sie. Für das Glück anderer Menschen Opfer zu bringen, daran war Sonja gewöhnt. Ihre Stellung in diesem Haus war eine derartige, daß sie nur durch Opfer, die sie brachte, zeigen konnte, was an ihr Gutes war, und so hatte sie sich denn daran gewöhnt, Opfer zu bringen, und tat es gern. Aber bisher war sie stets, wenn sie Opfer brachte, sich mit freudiger Genugtuung bewußt gewesen, daß sie eben durch diese Handlungsweise ihren Wert in ihren eigenen Augen und in den Augen anderer Menschen erhöhte und Nikolais würdiger wurde, den sie über alles in der Welt liebte; jetzt jedoch sollte ihr Opfer gerade darin bestehen, daß sie auf das verzichtete, was für sie den ganzen Lohn der gebrachten Opfer, den gesamten Inhalt ihres Lebens bildete. Und zum erstenmal in ihrem Leben empfand sie ein bitteres Gefühl gegen diese Menschen, die ihr nur darum so viel Wohltaten erwiesen hatten, um sie nun um so grausamer zu peinigen; zum erstenmal empfand sie Neid gegen Natascha, die nie etwas Ähnliches durchzumachen hatte, nie Opfer zu bringen[42] brauchte, sondern immer nur andere Menschen um ihretwillen Opfer bringen ließ und doch von allen geliebt wurde. Und zum erstenmal fühlte Sonja, wie aus ihrer stillen, reinen Liebe zu Nikolai plötzlich eine leidenschaftliche Empfindung heranwuchs, eine Empfindung, welche mächtiger wurde als alle Grundsätze und alle Tugend und alle Religiosität; und unter der Einwirkung dieser Empfindung antwortete Sonja, die durch ihre abhängige Lebensstellung unwillkürlich sich ein verstecktes Wesen zu eigen gemacht hatte, der Gräfin in allgemeinen, unbestimmten Ausdrücken, ging in der nächsten Zeit Gesprächen mit ihr aus dem Weg und entschied sich dafür, ein Wiedersehen mit Nikolai abzuwarten, um ihn bei diesem Wiedersehen nicht etwa freizugeben, sondern ihn im Gegenteil für immer an sich zu ketten.

Die Sorgen und Schrecken der letzten Tage des Aufenthalts der Familie Rostow in Moskau hatten in Sonjas Seele die traurigen Gedanken, die sie bedrückten, übertäubt. Sie hatte sich gefreut, daß sie sich durch praktische Tätigkeit vor ihnen retten konnte. Als sie aber von der Anwesenheit des Fürsten Andrei in ihrem Haus erfuhr, da überkam sie trotz alles aufrichtigen Mitleides, das sie für ihn und für Natascha empfand, doch ein freudiges Gefühl bei dem abergläubischen Gedanken, Gott wolle nicht, daß sie von Nikolai getrennt werde. Sie wußte, daß Natascha nur den Fürsten Andrei geliebt hatte und ihn noch immer liebte. Sie wußte, daß diese beiden jetzt, wo das Schicksal sie unter so furchtbaren Verhältnissen wieder zusammengeführt hatte, einander wieder von neuem liebgewinnen würden, und daß dann Nikolai die Prinzessin Marja wegen der Verwandtschaft, die dann zwischen ihnen bestehen werde, nicht werde heiraten können. Trotz alles Schreckens über die Ereignisse der letzten Tage in Moskau und der ersten Reisetage machte dieses[43] Gefühl, dieses Bewußtsein, daß die Vorsehung in ihre persönlichen Angelegenheiten eingriff, Sonja froh und heiter.

Im Troiza-Kloster machten Rostows auf ihrer Reise den ersten Rasttag.

In dem Hospiz des Klosters waren ihnen drei große Zimmer angewiesen, von denen eines Fürst Andrei innehatte. Es ging dem Verwundeten an diesem Tag bedeutend besser. Natascha saß bei ihm. In dem anstoßenden Zimmer saßen der Graf und die Gräfin und unterhielten sich respektvoll mit dem Prior, der ihnen als seinen alten Bekannten und als freigebigen Gönnern des Klosters einen Besuch machte. Auch Sonja saß in diesem Zimmer, und es quälte sie die Neugier, was wohl Fürst Andrei und Natascha miteinander reden mochten. Sie hörte durch die Tür ihre Stimmen. Da öffnete sich die Tür zu dem Zimmer des Fürsten Andrei. Natascha kam mit erregter Miene von dort herein; ohne den Mönch zu bemerken, der sich zu ihrer Begrüßung erhob und den weiten Ärmel an seinem rechten Arm zurückschlug, um ihr den Segen zu erteilen, trat sie auf Sonja zu und ergriff sie bei der Hand.

»Was hast du, Natascha? Komm her«, sagte die Gräfin.

Natascha trat herzu, um den Segen zu empfangen, und der Prior ermahnte sie, sich im Gebet um Hilfe an Gott und den Schutzheiligen des Klosters zu wenden.

Sowie der Prior hinausgegangen war, faßte Natascha ihre Freundin bei der Hand und ging mit ihr in das leere Zimmer.

»Sonja, ja? Wird er am Leben bleiben?« sagte sie. »Sonja, wie glücklich ich bin! Und wie unglücklich ich bin! Sonja, mein Täubchen, es ist alles wieder wie ehemals. Wenn er nur am Leben bliebe! Aber er kann nicht am Leben bleiben ... weil ... weil ...« Natascha brach in Tränen aus.[44]

»Ja, ja, das habe ich gewußt! Gott sei Dank!« rief Sonja. »Er wird am Leben bleiben!«

Sonja war in nicht geringerer Aufregung als Natascha, sowohl wegen der Angst und des Kummers der Freundin als auch wegen ihrer eigenen Gedanken, die sie zu niemandem aussprach. Sie schluchzte und küßte Natascha und redete ihr tröstend zu. »Wenn er nur am Leben bliebe!« dachte sie. Nachdem die bei den Freundinnen eine Weile geweint, miteinander geredet und sich die Tränen abgewischt hatten, gingen sie an die Tür des Fürsten Andrei. Natascha öffnete behutsam die Tür und sah ins Zimmer hinein. Sonja stand neben ihr bei der halbgeöffneten Tür.

Fürst Andrei lag mit hochgerichtetem Oberkörper auf drei Kissen. Sein blasses Gesicht war ruhig, die Augen geschlossen, und man sah, daß er gleichmäßig atmete.

»Ach, Natascha!« sagte Sonja auf einmal, kaum einen Schrei unterdrückend, ergriff ihre Kusine bei der Hand und trat von der Tür zurück.

»Was ist? Was ist?« fragte Natascha.

»Das ist ganz das ... ganz das ... sieh nur ...«, sagte Sonja mit blassem Gesicht und zitternden Lippen.

Natascha machte leise die Tür wieder zu und trat mit Sonja an das Fenster. Sie verstand noch nicht, was diese meinte.

»Erinnerst du dich wohl«, sagte Sonja mit tiefernster, ängstlicher Miene, »erinnerst du dich wohl, wie ich für dich in den Spiegel sah ... in Otradnoje, in den Weihnachtstagen ... erinnerst du dich noch, was ich da sah ...?«

»Ja, ja«, erwiderte Natascha mit weitgeöffneten Augen; sie erinnerte sich dunkel, daß Sonja damals etwas vom Fürsten Andrei gesagt hatte, den sie hatte daliegen sehen.

»Erinnerst du dich?« fuhr Sonja fort. »Ich habe es damals gesehen und zu allen gesagt, zu dir und zu Dunjascha. Ich sah, wie er[45] auf einem Bett lag«, sagte sie und machte bei jeder Einzelheit eine Armbewegung mit aufgehobenem Finger, »und wie er die Augen geschlossen hielt, und wie er mit einer Decke, gerade mit einer rosa Decke, zugedeckt war, und wie er die Hände gefaltet hatte.« Und in dem Maße, wie sie die von ihr jetzt eben gesehenen Einzelheiten beschrieb, wurde sie immer fester in der Überzeugung, daß sie dieselben Einzelheiten auch damals gesehen habe.

In Wirklichkeit hatte sie damals überhaupt nichts gesehen, sondern von dem, was ihr in den Sinn kam, erzählt, daß sie es gesehen habe; aber das, was sie sich damals ausgedacht hatte, erschien ihr jetzt als ebenso tatsächlich wie jedes andere Ereignis, an das sie sich erinnerte. Und nicht etwa, daß sie sich nur an das erinnert hätte, was sie damals gesagt hatte, nämlich daß er sich nach ihr umgesehen und gelächelt habe und mit etwas Rotem zugedeckt gewesen sei; vielmehr war sie fest überzeugt, daß sie schon damals gesehen und gesagt habe, er habe unter einer rosa Decke, gerade unter einer rosa Decke, gelegen, und seine Augen seien geschlossen gewesen.

»Ja, ja, gerade eine rosa Decke war es«, sagte Natascha, die sich jetzt gleichfalls zu erinnern glaubte, daß damals eine rosa Decke erwähnt worden war, und erblickte gerade darin ein besonders auffälliges, geheimnisvolles Moment der Prophezeiung.

»Aber was mag das denn zu bedeuten haben?« sagte Natascha nachdenklich.

»Ach, ich weiß es nicht; wie seltsam und außerordentlich das alles doch ist!« sagte Sonja und griff sich an den Kopf.

Einige Minuten darauf klingelte Fürst Andrei, und Natascha ging zu ihm hinein; Sonja aber, die eine Erregung und Rührung empfand, wie sie bei ihr nur selten vorkam, blieb am Fenster stehen und dachte über die Seltsamkeit dieser Vorgänge nach.
[46]

An diesem Tag bot sich eine Gelegenheit, Briefe zur Armee zu schicken, und die Gräfin schrieb an ihren Sohn.

»Sonja«, sagte die Gräfin und hob den Kopf von ihrem Brief auf, als ihre Nichte an ihr vorbeiging. »Sonja«, fuhr sie mit leiser, zitternder Stimme fort, »willst du nicht an Nikolai schreiben?«

Und in dem Blick ihrer müden, durch die Brille schauenden Augen las Sonja alles, was die Gräfin mit diesen Worten meinte. Es lag in diesem Blick eine flehende Bitte, und Furcht vor einer abschlägigen Antwort, und ein Gefühl der Scham darüber, daß sie bitten mußte, und die Absicht, im Fall der Weigerung zu einem unversöhnlichen Haß überzugehen.

Sonja trat zur Gräfin hin, kniete vor ihr nieder und küßte ihr die Hand.

»Ja, ich werde an ihn schreiben, Mama«, sagte sie.

Sonja war durch alles an diesem Tag Geschehene weich gestimmt, erregt und gerührt, namentlich durch die geheimnisvolle Erfüllung des Spiegelorakels, die sie soeben mit Augen gesehen hatte. Jetzt, wo sie wußte, daß infolge der Erneuerung des Verhältnisses zwischen Natascha und dem Fürsten Andrei Nikolai die Prinzessin Marja nicht heiraten konnte, fühlte sie mit Freude, daß jene Stimmung der Selbstaufopferung, die ihr eine liebe Gewohnheit war, wieder von ihrer Seele Besitz ergriff. Und mit Tränen in den Augen und mit dem freudigen Bewußtsein, daß sie eine Handlung des Edelmutes ausführe, schrieb sie, einige Male von Tränen unterbrochen, die ihre samtenen, schwarzen Augen wie mit einem Nebel überzogen, jenen rührenden Brief, bei dessen Empfang Nikolai so überrascht gewesen war.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 41-47.
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