Georg Trakl

Aus goldenem Kelch. Maria Magdalena

Ein Dialog

[115] Vor den Toren der Stadt Jerusalem. Es wird Abend.


AGATHON. Es ist Zeit, in die Stadt zurückzukehren. Die Sonne ist untergegangen und über der Stadt dämmert es schon. Es ist sehr still geworden. – Doch was antwortest du nicht, Marcellus; was blickst du so abwesend in die Ferne?

MARCELLUS. Ich habe daran gedacht, daß dort in der Ferne das Meer die Ufer dieses Landes bespült; daran habe ich gedacht, daß jenseits des Meeres das ewige, göttergleiche Rom sich zu den Gestirnen erhebt, wo kein Tag eines Festes entbehrt. Und ich bin hier in fremder Erde. An alles das habe ich gedacht. Doch ich vergaß. Es ist wohl Zeit, daß du in die Stadt zurückkehrst. Es dämmert. Und zur Zeit der Dämmerung harrt ein Mädchen vor den Toren der Stadt Agathons. Laß sie nicht warten, Agathon, laß sie nicht warten, deine Geliebte. Ich sage dir, die Frauen dieses Landes sind sehr sonderbar; ich weiß, sie sind voller Rätsel. Laß sie nicht warten, deine Geliebte; denn man weiß nie, was geschehen kann. In einem Augenblick kann Furchtbares geschehen. Man sollte den Augenblick nie versäumen.

AGATHON. Warum sprichst du so zu mir?

MARCELLUS. Ich meine, wenn sie schön ist, deine Geliebte,[115] sollst du sie nicht warten lassen. Ich sage dir, ein schönes Weib ist etwas ewig Unerklärliches. Die Schönheit des Weibes ist ein Rätsel. Man durchschaut sie nicht. Man weiß nie, was ein schönes Weib sein kann, was sie zu tun gezwungen ist. Das ist es, Agathon! Ach du – ich kannte eine. Ich kannte eine, ich sah Dinge geschehen, die ich nie ergründen werde. Kein Mensch würde sie ergründen können. Wir schauen nie den Grund der Geschehnisse.

AGATHON. Was sahst du geschehen? Ich bitte dich, erzähle mir mehr davon!

MARCELLUS. So gehen wir. Vielleicht ist eine Stunde gekommen, da ich es sagen werde können, ohne vor meinen eigenen Worten und Gedanken erschaudern zu müssen. (Sie gehen langsam den Weg nach Jerusalem zurück. Es ist Stille um sie.)

MARCELLUS. Es ging vor sich in einer glühenden Sommernacht, da in der Luft das Fieber lauert und Mond die Sinne verwirrt. Da sah ich sie. Es war in einer kleinen Schenke. Sie tanzte dort, tanzte mit nackten Füßen auf einem kostbaren Teppich. Niemals sah ich ein Weib schöner tanzen, nie berauschter; der Rhythmus ihres Körpers ließ mich seltsam dunkle Traumbilder schauen, daß heiße Fieberschauer meinen Körper durchbebten. Mir war, als spiele dieses Weib im Tanz mit unsichtbaren, köstlichen, heimlichen Dingen, als umarmte sie göttergleiche Wesen, die niemand sah, als küßte sie rote Lippen, die sich verlangend den ihren neigten; ihre Bewegungen waren die höchster Lust; es schien, als würde sie von Liebkosungen überschüttet. Sie schien Dinge zu sehen, die wir nicht sahen und spielte mit ihnen im Tanze, genoß sie in unerhörten Verzückungen ihres Körpers. Vielleicht hob sie ihren Mund zu köstlichen, süßen Früchten und schlürfte feurigen Wein, wenn sie ihren Kopf zurückwarf und ihr Blick verlangend nach oben gerichtet war. Nein! Ich habe das nicht begriffen, und doch war alles seltsam lebendig – es war da. Und sank dann hüllenlos, nur von ihren Haaren überflutet, zu unseren Füßen nieder. Es war, als hätte sich die Nacht in ihrem Haar zu einem schwarzen Knäuel zusammengeballt und entrückte sie uns. Sie aber gab[116] sich hin, gab ihren herrlichen Leib hin, gab ihn einem jeden, der ihn haben wollte, hin. Ich sah sie Bettler und Gemeine, sah sie Fürsten und Könige lieben. Sie war die herrlichste Hetäre. Ihr Leib war ein köstliches Gefäß der Freude, wie es die Welt nicht schöner sah. Ihr Leben gehörte der Freude allein. Ich sah sie bei Gelagen tanzen und ihr Leib wurde von Rosen überschüttet. Sie aber stand inmitten leuchtender Rosen wie eine eben aufgeblühte, einzig schöne Blume. Und ich sah sie die Statue des Dionysos mit Blumenkränzen, sah sie den kalten Marmor umarmen, wie sie ihre Geliebten umarmte, sie erstickte mit ihren brennenden, fiebernden Küssen. – – Und da kam einer, der ging vorbei, wortlos, ohne Geberde, und war gekleidet in ein härenes Gewand, und Staub war auf seinen Füßen. Der ging vorbei und sah sie an – und war vorüber. Sie aber blickte nach Ihm, erstarrte in ihrer Bewegung – und ging, ging, und folgte jenem seltsamen Propheten, der sie vielleicht mit den Augen gerufen hatte, folgte Seinem Ruf und sank zu Seinen Füßen nieder. Erniedrigte sich vor Ihm – und sah zu Ihm auf wie zu einem Gott; diente Ihm, wie Ihm die Männer dienten, die um Ihn waren.

AGATHON. Du bist noch nicht zu Ende. Ich fühle, du willst noch etwas sagen.

MARCELLUS. Mehr weiß ich nicht. Nein! Aber eines Tages erfuhr ich, daß sie jenen sonderlichen Propheten ans Kreuz schlagen wollten. Ich erfuhr es von unserem Statthalter Pilatus. Und da wollte ich hinausgehen nach Golgatha, wollte Jenen sehen, wollte Ihn sterben sehen. Vielleicht wäre mir ein rätselhaftes Geschehnis offenbar geworden. In Seine Augen wollte ich blicken; Seine Augen würden vielleicht zu mir gesprochen haben. Ich glaube, sie hätten gesprochen.

AGATHON. Und du gingst nicht!

MARCELLUS. Ich war auf dem Wege dahin. Aber ich kehrte um. Denn ich fühlte, ich würde jene draußen treffen, auf den Knien vor dem Kreuz, zu Ihm beten, auf das Fliehen Seines Lebens lauschend. In Verzückung. Und da kehrte ich wieder um. Und in mir ist es dunkel geblieben.

AGATHON. Doch jener Seltsame? – Nein, wir wollen nicht davon sprechen![117]

MARCELLUS. Laß uns darüber schweigen, Agathon! Wir können nichts anderes tun. – Sieh nur, Agathon, wie es in den Wolken seltsam dunkel glüht. Man könnte meinen, daß hinter den Wolken ein Ozean von Flammen loderte. Ein göttliches Feuer! Und der Himmel ist wie eine blaue Glocke. Es ist, als ob man sie tönen hörte, in tiefen, feierlichen Tönen. Man könnte sogar vermuten, daß dort oben in den unerreichbaren Höhen etwas vorgeht, wovon man nie etwas wissen wird. Aber ahnen kann man es manchmal, wenn auf die Erde die große Stille herabgestiegen ist. Und doch! Alles das ist sehr verwirrend. Die Götter lieben es, uns Menschen unlösbare Rätsel aufzugeben. Die Erde aber rettet uns nicht vor der Arglist der Götter; denn auch sie ist voll des Sinnbetörenden. Mich verwirren die Dinge und die Menschen. Gewiß! Die Dinge sind sehr schweigsam! Und die Menschenseele gibt ihre Rätsel nicht preis. Wenn man fragt, so schweigt sie.

AGATHON. Wir wollen leben und nicht fragen. Das Leben ist voll des Schönen.

MARCELLUS. Wir werden vieles nie wissen. Ja! Und deshalb wäre es wünschenswert, das zu vergessen, was wir wissen. Genug davon! Wir sind bald am Ziel. Sieh nur, wie verlassen die Straßen sind. Man sieht keinen Menschen mehr. (Ein Wind erhebt sich.) Es ist dies eine Stimme, die uns sagt, daß wir zu den Gestirnen aufblicken sollen. Und schweigen.

AGATHON. Marcellus, sieh, wie hoch das Getreide auf den Äckern steht. Jeder Halm beugt sich zur Erde – früchte – schwer. Es werden herrliche Erntetage sein.

MARCELLUS. Ja! Festtage! Festtage, mein Agathon!

AGATHON. Ich gehe mit Rahel durch die Felder, durch die früchteschweren, gesegneten Äcker! O du herrliches Leben!

MARCELLUS. Du hast recht! Freue dich deiner Jugend. Jugend allein ist Schönheit! Mir geziemt es, im Dunkel zu wandern. Doch hier trennen sich unsere Wege. Deiner harrt die Geliebte, meiner – das Schweigen der Nacht! Leb' wohl, Agathon! Es wird eine herrlich schöne Nacht sein. Man kann lange im Freien bleiben.

AGATHON. Und kann zu den Gestirnen emporblicken – zur[118] großen Gelassenheit. Ich will fröhlich meiner Wege gehen und die Schönheit preisen. So ehrt man sich und die Götter.

MARCELLUS. Tu, wie du sagst, und du tust recht! Leb' wohl, Agathon!

AGATHON (nachdenklich). Nur eines will ich dich noch fragen. Du sollst nichts dabei denken, daß ich dich darnach frage. Wie hieß doch jener seltsame Prophet? Sag'!

MARCELLUS. Was nützt es dir, das zu wissen! Ich vergaß seinen Namen. Doch nein! Ich erinnere mich. Ich erinnere mich. Er hieß Jesus und war aus Nazareth!

AGATHON. Ich danke dir! Leb' wohl! Die Götter mögen dir wohlgesinnt sein, Marcellus! (Er geht.)

MARCELLUS (in Gedanken verloren). Jesus! – Jesus! Und war aus Nazareth. (Er geht langsam und gedankenvoll seiner Wege. Es ist Nacht geworden und am Himmel leuchten unzählige Sterne.)

Quelle:
Georg Trakl: Das dichterische Werk. München 1972, S. 115-119.
Erstdruck in: Salzburger Volksblatt, 14.7.1906.
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