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[114] Da ist die berliner Straßenbahn . . . Aber es wird ja auf den anderen Bahnen nicht viel anders sein . . . Also da sitzen nun die Leute da und träumen und glotzen und unterhalten sich und manche lesen – –. Auf einmal betritt ein uniformierter Mann den Wagen und sagt: »Die Fahrscheine bitte!« – Das ist ein Beamter, der hauptsächlich zur Kontrolle der Schaffner angestellt ist.
Pflichtschuldig wühlt alles in den Taschen. Alle reichen das Stückchen Papier dem Beamten hin. Nur einer hat seinen Fahrschein verloren.
Es ist doch ein Bedientenvolk, das deutsche. Denn nun sehen alle den Mann an, als ob er ein Verbrechen begangen habe. Denn sie bilden sich ein, der Beamte kontrolliere sie. Dabei ist der Beamte höflich und tut eigentlich nichts, was diesen Aberglauben bestärken könnte. Aber sie denken sich das so und sind voller Ehrfurcht und verabscheuen alle den Mann, der seinen Fahrschein verloren hat. Einen Augenblick hat er den ganzen Wagen gegen sich. Manche mögen ja ein bißchen teilnahmsvoll zusehen, wie er sich abmüht, und sie denken sich schaudernd in seine entsetzliche Lage . . .
Sie ducken sich. Sie bekommen einen roten Kopf. Der Verlierer einen dunkelroten. Er entschuldigt sich. Er sagt nicht: »Ich hab ihn verlegt, ich werde meinethalben nachbezahlen . . . « Er fühlt sich ertappt. Man sollte nicht denken, einen Erwachsenen vor sich zu haben, der vielleicht eine Frau hat, Kinder, die er erziehen soll, Angestellte, die er anschnauzt . . . Hier ist er ganz klein. Denn hier ist das Heiligste an einen Deutschen herangetreten: die Uniform. Und da hört der Spaß auf.
[114] Eine Kleinigkeit, eine Belanglosigkeit, gewiß. Aber doch wieder eine einfache Beobachtung des täglichen Lebens, die zeigt, wie hier der einzelne gar nicht erst wagt, zu sagen: »Hallo! Hier bin ich!« – Sondern er bekommt einen roten Kopf, duckt sich und sucht den Fahrschein.
Und das ist eine Misere des deutschen Lebens.