Verbotene Filme

[115] Herrn Professor Karl Brunner


O du gesegnetes Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten! O du sein gesegneter § 10 II 17: »Die nötigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der dem Publiko oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizei,« Das ist ein Sätzchen! Jeden Bürger, der mit dem Kasernenton kollidiert, jeden verprügelten Streiker, jedes Opfer stiller Polizeiwachtstuben – sie alle weist ein dicker Zeigefinger auf jene Vorschrift. Die ist aus Gummi und umfaßt wie eine Zelle die Gehirne unterer und oberer Subalterner. Versammlungsverbote, Polizeischikanen gegen alte Zeitungsfrauen, Theaterzensur –: § 10 II 17.

Aber einmal müssen wir ihn segnen und lobpreisen, den Kautschukparagraphen, auf daß er lange lebe auf Erden. Denn siehe, er zeugte die Filmzensur.


Wenn eine Filmfabrik einen Film fertiggestellt hat, oder eine Vertriebsstelle einen englischen oder französischen Film einführen will, dann schickt sie einen Vertreter mit der Zelluloidrolle ins Berliner Polizeipräsidium, und dort wird zensiert. (Das beruht auf einem Abkommen zwischen Filmindustrie und Verwaltung, die sich eigentlich nur an die Theater halten darf, aber allen Beteiligten den langweiligen Regreßweg: Kinotheater – Verleiher – Fabrikant erspart.) Die Kompetenz dieser Zensurbehörde erstreckt sich nur über Preußen; die einzelne Ortspolizeibehörde darf aber entgegengesetzte Entscheidungen fällen.

Hier also – in den beiden Vorführungsräumen, die bald nicht mehr ausreichen – wird werktäglich von zehn bis drei Uhr von einer preußischen Verwaltungsbehörde eine Tätigkeit ausgeübt, die man ihr sonst nicht nachsagen kann: Kulturarbeit. Fehlte diese Zensur – nicht auszudenken wäre es.

Also von zehn bis drei sitzen die armen Polizeiräte da, und lassen ununterbrochen an sich vorüberziehen: ›Aus Liebe zum Mordbrenner‹,[115] ›In den Tagen Napoleons‹ (aktuell), ›Das letzte Blockhaus‹, ›Nat Pinkerton oder Die schwarze Kaste‹ – Kiste vermutlich, diese Aufschriften sind stets verdruckt. Von zehn bis drei. Der Raum ist mittelgroß, nur erhellt von der kleinen grünbeschirmten Lampe am Aktentisch. Die Beamten, deren Augen nicht besser werden, halten sich mühsam wach und fluchen ihrem Geschick, der Apparat surrt – zehntausend Meter täglich – und hier wird klarer als je, wie dies ganze Gezappel auf der Leinwand mit Kunst nichts zu tun hat. Wie mit altem Plunder und minderwertigem Menschenmaterial etwas vorgetäuscht wird, das selbst bei guter Darstellung kalt läßt. Wie dreißig Filmmeter lang eine Kiste zugenagelt wird, Leute ein Mittagsmahl einnehmen. Wie man geht. Wie man läuft. Aber das wäre nur zu ertragen, wenn die Gesten dieser Tätigkeit parodiert würden (was eigentlich nur Prince und Linder können), wenn gezeigt würde: Seht, so ulkig seid ihr, wenn ihr euerm Tagwerk nachgeht! Nichts davon. Statt dessen: Dramas. Ein säckscher Erklärer, den eine Firma hierhersandte, liest die Texte vor, die der Beamte mit den eingereichten Akten vergleicht. Das zerschtörte Lähmsglick; Lort Därbi fordert die Duellisten auf, nachzugähm; Ein Fest in den Tulljérjen – »Tülriin«, verbessert der Polizeirat, und wie sie sich so gegenseitig das Zeug vorlesen, denkt man an ein lateinisches Pensum, das mühselig und stöhnend zu Ende gebracht werden muß. Bei dem großen Hindianermassacka wird der Sachse gesprächig. Er taut auf. Er mag sich nicht gern aus dem Film etwas herausschneiden lassen und erzählt allerlei. Schon, damit der Herr Rat nicht so aufpassen. »Nämlich, diese Hintianer, die gehen nu ein. Ja. Sie können die moderne Modernisierung nich so vertragen. Sie..,« – »Nanu, nanu«, sagt der Rat, »was ist denn das?« Auf der Leinwand ist gerade die ›schleichende Hand‹ dabei, ihre Streitaxt wirbelnd im Schädel eines Weißen zu begraben, »Ja«, begütigt der Sachse, »'s is äm en unguldiwiertes Volk.« Aber es hilft ihm nichts; auf der gelben Kontrollkarte, die jedem Film beiliegen muß, wird diese Stelle beanstandet. Schneidet sie die Firma nicht freiwillig heraus, wird der ganze Film verboten. (Dagegen gibt es Klage im Verwaltungsstreitverfahren oder die Beschwerde, die beide im Oberverwaltungsgericht als der letzten Instanz münden.) Gar nicht beleidigt schiebt der Mann ab; denn was er hier ausschneidet, wird er (mit Gott!) zu Hause wieder zusammenfügen. Deswegen sitzen hier zwei dicke, kurzstirnige Herren, Kriminalbeamte, die zur Anzeige bringen, was sie an Verbotenem sehen. Und so jagt ein Film den andern. In der Ecke steht ein bescheidener Mann, ein Schauspieler, der sich hier noch einmal bespiegeln will, und es ist auch alles so langweilig, daß sie ihm nichts streichen. Ein kleiner Herr kommt herein: er wünscht eine Titeländerung. ›Hujo, der Bandit‹ ist ihm nicht genug – ›Im Sinnestaumel‹ will er dafür haben. Genehmigt. Ach, wenn es doch wenigstens ein Sinnestaumel wäre! Aber es ist keiner.

[116] Der Polizeirat mit der (symbolischen) Schere sitzt am Tisch und muß aufpassen. Er macht wundervolle Bemerkungen. Er ist klug und vernünftig (wie denn überhaupt bei uns die Geheimräte ebenso liberal und tolerant sind, wie die Subalternen grob und unfähig). Breit und gemütlich ruft er so allerhand dazwischen, Glossen, die noch beim übelsten Theaterpathos zu verwerfen wären – hier sind sie richtig. Vor diesen Kindern, die pausbäckig und langwimperig aussehen wie eine Reklame von Sunlight-Seife; vor diesen Automobilschiebern, die vorgeben, Detektive zu sein; vor diesen Sioux' – id est: der Naturmensch Voigt und Käsewillem mit die Locken . . . hier muß man kapitulieren, sich übergeben. Diese Beamten kennen die Struktur jedes Films – ihnen kann man nichts mehr vormachen.

Und hier, aber nur hier, sind die Maximen am Platz, wonach zensiert wird. Wollte man in der Literatur keine strafbare Handlung, keine offene Gewalttätigkeit durchlassen, so müßte man mit Ausnahme der Heimburg alles verbieten.

Hier ist klare Berechnung auf Sensation. Diese Menschen haben Filme herstellen lassen, von denen wir dank der Zensur nichts ahnen. Alle in den landläufigen Filmen angedeuteten Grausamkeiten existieren ausgeführt. Sie werden gestrichen – aber hier wird jeder Mord, jeder Überfall langwierig und exakt vorgeführt. Es gibt einen (gestellten) Fliegerabsturz, dessen Ekelhaftigkeit seinesgleichen sucht. In brennenden Sparren wälzt sich ein blutender Klumpen – das Ding ist vorzüglich gemacht – eine Frau wirft sich verzweifelt über den Sterbenden, schreit, sie kommen mit der Tragbahre. Und das mit einer pedantischen Genauigkeit, die durch nichts gerechtfertigt ist als durch die Sucht, Geld zu machen, auf Kosten gequälter oder angeregter Nerven, je nachdem es sich um den Westen oder Osten einer Stadt handelt. (Als wieder einmal die Leichen dutzendweise herumlagen, und der Beamte murrte, sagte einer der anwesenden Filmisten: »Geschäft ist Geschäft.« Gewiß, und Schweinerei ist Schweinerei.) Nervenkitzel, auf Hintertreppenart – es ist ihnen alles gleich. Ein Mann liegt auf einer Säge, festgebunden auf Baumstämmen, immer näher rutscht er an die Zähne, immer näher; das dauert wenigstens zwei Minuten. Da sind die Krankenhausfilme mit Vivisektion, Serumseinspritzungen und Elendsgestalten im Bett. Da gibt es eine Augenoperation: der Kranke wird in ein weißes Tuch gehüllt, das nur ein Auge frei läßt; dann erscheint das Auge, riesengroß, die Lider von zwei Klammern auseinandergezerrt, und eine Spritze pikt langsam in das Weiße. So.

Hier ist der bürgerlich abwägende Normalbeamte am Platz. Hier kann kunstwidrig und trocken die Handlung des Intriganten gestrichen werden, »weil er ein gemeiner Kerl ist«. Hier ja. Weil das Pack vor nichts zurückschreckt. Weil sie bei dem Sturz des Fliegers von der Siegessäule behaglich kurbelten und nicht ruhten, als bis sie auch die[117] widerliche Bergung der Leiche hatten. (Der Film liegt noch auf dem Präsidium.) Weil ihnen alles gleich ist, wenn es ums Geld geht; weil sie im Dreck wühlen, damit das zittrig-neugierige Publikum Einblick in wohlverhüllte Dinge bekomme. Sie haben »an Ort und Stelle« das Leben Jesu gefilmt, und sie würden auch heute noch eine Hinrichtung aufnehmen.

Daß da manches zum Opfer fällt, was ganz lustig ist – macht nichts. Ein reizender amerikanischer Damendarsteller, der noch im Korsett Zigarren rauchte, fiel – weil er ›auf perverser Grundlage‹ beruhe. Nun, diese Art Filme haben selten den Schick, den dieser Jüngling entwickelte, als er seine Röcke hochnahm, und trippelnd zu laufen begann, wie ein Weib. Meist haben wir nicht viel verloren. Und die andern, beschlagnahmten, die ich sah, waren wie üblich. Zum Abgewöhnen. Gewiß: Mißgriffe kommen vor. Ein Boxerfilm ging durch, auf dem die Kämpfer sportswidrig mit bloßen Fäusten, ohne Handschuhe aufeinander losprügelten – von derselben Verwaltung werden dem berliner Boxmeister Edwards die größten Schwierigkeiten in den Weg gelegt. Immerhin: im großen ganzen ist es gut, daß in Zweifelsfällen gestrichen wird.


Aber ein andres ist eine Gefahr. Im selben Gebäude, ein paar Stockwerke höher, wohnt die Theaterzensur. Hier werden, immer noch, aus politischen, verwaltungstechnischen, unkünstlerischen Gründen, Kunstwerke umgebracht. Die Filmisten rennen gegen ihre Zensur mit unsern Gründen Sturm. Dieser Kampf schadet uns. Das will freie Hand haben, um Geld zu scheffeln, das kreischt aufgeregt von der Freiheit der Kunst und rempelt alle paar Nummern seiner Fachpresse Beamte an, die mehr Geschmack, Verstand und Anstandsgefühl haben, als die ganze Gesellschaft.

Die Filmzensur ist nötig. Weil Kinder eine starke Hand nötig haben. Und weil für eine Schulklasse von Rüpeln der Stock gerade gut genug ist.

Die Erwachsenen aber täten gut, die Kinder immer mehr von sich abzuschütteln und jede Zusammengehörigkeit auch im Schein zu vermeiden. Hier gibt es keinen Kompromiß. Hie Kunst! Hie Kino!


  • · Kurt Tucholsky
    Die Schaubühne, 02.10.1913, Nr. 40, S. 949.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 1, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 115-118.
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