Giampietro

[163] Der riesige, lange Schädel mit der pergamentenen Haut schob sich durch die Tür: »Mein Fräulein!« – »Huch, aber Herr Baron!« kreischte sie aus einem Wäscheballen. »Mein Kind«, lehrte der an der Tür, »ich stehe dir hier als Mensch gegenüber. Nenne mich Raoul!« Und grinsend trat der ganze Kerl ins Zimmer: ein Winkelhaken, ein langes Laster, ein Kavallerist mit hängenden Armen und gebeugtem Rücken. Eine hagere Tatze trug Stock und Zylinder, auch die Handschuhe. Die wasserhellen Augen glänzten, der Unterkiefer wurde leicht vorgeschoben: ein lion, in dessen Höhle jemand gefallen war. Wehe ihr! Man ißt das Fleisch und wirft die Steine fort – so war es stets. Er würde es bestimmt nicht anders machen. Aber noch hielt man beim ersten Akt, noch lächelte dieser lange Mund, während es im Kopf geruhig meditierte: Wie faß ich sie? Und er faßte sie immer.

Aber das haben wir nie zu sehen bekommen. Früher ist er ja einer der Nachtmenschen bei Gorki gewesen; die Zuschauer versichern, daß er durch den dünnen Theaterboden des Asyls hindurchgebrochen sei, direkt in die Hölle. Und er war der Kammersänger: untergründig, verbogen, der Mann der höflichen Grobheiten. Und war Riccaut (vielleicht hat es nie einen andern Riccaut gegeben). Die helle Sauberkeit der Sorma schrak damals mit Recht zurück: dieser ausgekochte Hund stammte noch von den Chevaliers ab, die alles korrigieren – Fortuna, fremde Ehen und den Lauf der Welt. Ohne viel Vorteil, nur, weil es ihnen Spaß machte, sich durchzuschlängeln, wenn andre vergebens sich an den Türen die Fäuste wund klopften. Sie hatten geschmeidige Schultern, und schließlich: tous les gens d'esprit aiment le jeu à la fureur. Das durften wir noch erleben. Und dann . . .

Dann haben wir über ein Jahrzehnt hindurch bewundert, wie Daumier im Varieté den Schnellzeichner machte. Daß er es konnte, hat keinen verblüfft; daß er es so lange konnte, jeden. Zwischen kugeligen Komikern – wenn auch vom Range Thielschers – und geschnürten, hochblonden Personen agierte er, und man sah nur ihn, hörte immer nur diese knarrende, bedächtige Stimme, die durch alle Skalen der[163] Heiserkeit so arrogant sein konnte. Die Technik – Gott, wer hat die heute nicht! Obgleich selbst dergleichen bei ihm eigentümlich ausgebildet war: wie er den Oberkörper vorschnellte, den Refrain zusammenballte und die Takte dem Parkett ins Gesicht warf. Er holte mit allen Gliedmaßen zugleich aus und dann: los! Aber er konnte mehr. Man mochte in der ersten Reihe sitzen, schon das Gewebe seines Anzugstoffs erkennen, man mochte oft einsehen: so macht er dies, so jenes – es kamen doch immer Momente, wo sein dunkles Blut zu toben anfing. Jeder im ganzen Haus hat dann aufgehorcht, trotzdem kaum dreie wußten, was vorging. Was war das? Ein Tonfall vielleicht nur, ein drohendes Aufblitzen der sonst gleichgültigen Augen, ein Krampfen der Hand – und man fühlte im Rücken etwas Unbehagliches. Dabei hatte der da oben nichts gesagt, aber alles ahnen lassen.

Der Berliner – und vielleicht ists überall so – wandelt seine Genies gern in Talente um, weil die leichter zu begreifen sind. Hat das Genie noch irgendein Talent – schön. (Pallenberg hats kaum, und deswegen kann er sich bei uns so schwer einbürgern.) Giampietro war gut zu gebrauchen, weil er annähernd so aussah wie ein Gardeleutnant – und doch, wenn man ihrer hundert übereinanderfotografiert, bekommt man diesen Schädel nicht heraus, nicht diese Rasse noch dies Vollblut.

Er stieß stets mit dem Kopf an die niedrige Decke. Kein Witzwort jener Stücke vertrug seine Kraft, keine Situation seine Souveränität, keine Rolle seine Person. Die Leute lachten, weil er so lang war, und weil man ihn gleich wiedererkannte, und weil er ab und zu Cochonnerien zu sagen hatte. Er sagte sie in die Luft. Er hat nur einmal ein Widerspiel gehabt: die Massary. Das war die einzige, die ihn verstand und nicht sofort kapitulierte: sie waren aus derselben Familie. Er war ihr überlegen, aber das will etwas heißen. Er war ein Mann, kein Kommis; ein eleganter Abenteurer, kein Sumpfhuhn; und schließlich ein Mensch mit einem ganz feinen, fast unmerkbaren Duft: haut goût.

. . . Ich sitze traurig vor dem Flügel und greife leise einen Akkord: g, b, es . . . Das waren die Anfangstöne eines albernen Schmarrens, den er im vorigen Winter auf seine Weise vertieft hatte. In den Bars wimmertens die Geigen, die Phonographen schrieens in die Welt – man sah aber nur ihn, wie er noch dastand: den Zylinder in der Hand, den Kopf vorgebeugt, die ganze Gestalt wie immer ein wenig zusammengeknickt und die Arme federnd zur Seite gestreckt. Und wenn der dumme Refrain kam, mußte man wieder an Wedekind denken, den dieser Mensch hätte spielen sollen, an unerhörte Instinkte, an die gefährliche Summe von Trieb und Intelligenz – so dämonisch holte er wuchtige Wirkungen ganz von unten herauf, er winkte mit der Hand, die Lichter erloschen, es war nicht nur auf der Bühne dunkel, er suggerierte: Nacht!

G, b, es! G, b, es! Es hat nicht zu Ende klingen dürfen.[164]


  • · Ignaz Wrobel
    Die Schaubühne, 08.01.1914, Nr. 2, S. 43.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 1, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 163-165.
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