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[284] Die Uhr schlug vier. Vertattert fuhr der Herr Hoftraumhändler Symander vom Sofa auf. Was – vier Uhr? – »Anastasia«, sagte er in die Luft hinein. Er schlief noch halb. Mit kräftigem Schwung klopfte er sich auf den Bauch – das half immer und machte ihn ganz wach. »Anastasia«, rief er lauter. »Adalbertchen!« antwortete eine Stimme aus dem Nebenzimmer. »Es ist vier Uhr«, sagte Herr Symander gereizt, »fang an!« – Das Nebenzimmer kramte, rumpelte, schlug Türen auf und zu. Auch Herr Symander schritt nun hinaus, und das Ehepaar begab sich in die unterirdische Werkstatt.
»Was sagst du«, fragte er schon im Fahrstuhl, »zu dieser lächerlichen Gründung von meinem alten Sozius Gradnitzer: Träume-, Schäume- und Fata-Morganen-Aktiengesellschaft! Niemals bekommt er die Konzession! Außerdem ist das ein Unfug, den alten Fachmann mit seinem tüchtigen, eingearbeiteten Personal durch so einen modernen Kram zu ersetzen. Was sagst du?« – Anastasia sagte dasselbe.
Die Symanders hatten die Traumlieferung (Monopol) für den Bezirk Kösen–Naumburg–Halle. Industrie, Ackerbau, die Universität – es war immerhin eine ganze Menge zu tun. Im allgemeinen erledigte Herr Provisor Nikodemus van der Grachten die laufenden Aufträge; daß das Ehepaar die Arbeit heute selbst besorgte, hatte seinen Grund darin, daß Sonnabend war – die Leute trinken da allerhand, sie können ausschlafen – da muß der Chef schon selbst am Werke sein, wenns klappen soll. Sie gingen in die Werkstatt.
Die Werkstatt war ein ungeheurer, weiter und langer Raum mit vielem Gefach und Kisten und Kasten, Man durchschritt ihn aber nicht – sondern man stieg auf ein hohes Gerüst, auf dem eine große Kurbel angebracht war. Die Treppe hing ein wenig über dem Boden. Von da wurde einem der Raum unter den Füßen weggedreht; kam die gewünschte Stelle – sagen wir ›Mädchenträume‹ –, dann stellte man ab und stieg hinunter.
Augenblicklich stand das Ehepaar Symander oben und drehte die Kurbel – er im behäbigen schneeweißen Operationsmantel, sie – trotz ihrer Fülle ein wenig kokett – in einem knallgelben, schlafrockartigen Gewand mit großen schwarzen Punkten. »Halt!« sagte Herr Symander und hörte auf zu drehen. Dann kletterten sie nach unten.
Der Herr Hoftraumhändler nahm die Liste zur Hand. »Da hätten wir also zunächst den Traum für Amtsanwalt Schückebier«, sagte er. »Was nehmen wir denn da – nehmen wir denn da – –« Ei suchte in den Kisten. »Wie wäre es denn«, fragte seine Frau Anastasia, »mit einem schönen verwickelten Rechtsfall?« – »Nein«, entschied Herr Symander, »das hat er schon vorigen Sonnabend gehabt. – Aber hier – sieh mal –!« Er entnahm einer Kiste einen zitternden, farblosen[284] Gegenstand aus Gelee. (Träume färben sich erst des Nachts.) Es war ein lebensgroßer ›Grand mit Vieren‹, aus der Hand zu spielen. »Ich denke, das ist etwas für den Anfang«, sagte er. »Nachher vielleicht aus der Abteilung ›Schadenfreude‹ einen blamierten Kollegen und dazu eine kleine Gehaltszulage.« – »Gut«, sagte Frau Anastasia. »Weiter!« – Sie kurbelten eine ganze Weile.
Als die Abteilung ›Damenkonfektion und Verwandtes‹ herankam, machte Herr Symander halt. »Jetzt kommt«, sagte er, »etwas für Fräulein Adelaine Knöpfchen.« – »Der müssen wir etwas besonders Hübsches aussuchen«, sagte Frau Anastasia. »Sie hat sich voriges Mal bei der Traummaus so geängstigt!« – »Dann geh nur hin und such aus«, sagte Herr Symander. Und Frau Anastasia suchte aus. Ein wunderbares Kleid mit Handstickerei (von oben bis unten Handstickerei!) – wie ein duftiges Gewebe breitete sich die Pracht aus; durch das Muster schimmerte undeutlich ein feiner Kavalier mit hochgebürstetem Schnurrbart; er trug in leiser Ähnlichkeit die Züge des Herrn Kapellmeisters Diederich, – eines schönen Mannes. »Hast du nun bald genug für dein Teekind zusammengepackt?« sagte der Gatte oben ungeduldig. »Gemach – gemach«, beruhigte Frau Anastasia, »gleich bin ich fertig.« Und fügte noch eine extra süße Tanzweise und eine Handvoll Kerzenflimmer im Ballsaal dazu, und – ohne daß ihr Mann es merkte – einen schmalen goldenen Ring. »E. D.« stand darin. Und: »18. 4. 19.« So – das wäre das. »Weiter!« sagte Frau Anastasia. Und sie kurbelten.
»Halt an!« sagte der Gatte. »Diesmal laß mich herunter. Ich habe es einem zu besorgen.« – »Wem?« fragte die Gemahlin. »Dem cand. theol. Semmelmayer«, sagte Herr Symander. »Der Kerl kommt regelmäßig früh um vier Uhr nach Hause. Was ihm da bis zum Halse steht, weiß ich nicht – aber Wasser kann es nicht sein. Na, warte –!« Und wie auch die gutmütige Frau Symander bat, er klaubte und klebte und bastelte, und so schön es war, so schreckeinflößend war es. Der Träumer selbst, cand. theol. Semmelmayer, stand da und sollte die Leichenrede halten. Und voll des süßen Weines, wie er war, passierte es ihm, daß er also stecken blieb: »Wir stehen allhier an dem Grabe unseres geliebten – – –« und dann beugte er sich herunter und fragte: »Wie war doch der werte Name?« – Das fiel allgemein auf, und beschämt sollte er erwachen. Herr Symander ließ sich nichts abhandeln; es sei roh, sagte er, aber eine gute Lektion. »Weiter!« sagte Frau Anastasia. Und sie kurbelten.
Herr Symander sah in die Liste. »Was machen wir«, fragte er, »mit Egon Hagelheinrich, dem jugendlichen Dichter? – Eine hohe Honorarquittung? Ein ausverkauftes Haus, seiner jambischen ›Polytrapa, Königin von Ägypten‹ lauschend?« – »Du hast keine Einfälle, mein Lieber«, sagte Frau Symander. »Laß mich nur bauen!« – »Bau«,[285] murrte er. Und sie baute. Und als sie fertig war, mußte sogar ihr erfahrener Gatte zugeben, daß es etwas sehr Schönes geworden war. Die mangelhaft in Rosa gehüllte Muse hielt einen vergüldeten Lorbeerkranz über Egons blanken Dichterscheitel, schwebend freihändig hielt sie ihn; aufgeschlagene Schullesebücher und eine gut getroffene Gipsbüste deuteten auf unvergänglichen Ruhm. Außerdem war die Muse, das gute, dicke Mädchen, eingerichtet, von Zeit zu Zeit zu sagen: »Du Götterliebling!« – Es war ein besserer Traum. »Weiter!« sagte Frau Anastasia. Und sie kurbelten.
»Der Feldwebel Hemdenscheier – ich hätte schon etwas –«, sagte Herr Symander und ließ die Abteilung ›Militaria‹ herangleiten. »Das heißt, so wie die Soldaten da alle sind, können wir sie ihm unmöglich schicken. Einer hat kein Koppel, der andere hat schmutzige Ohren. – Er sperrt sie alle ein. Ordnung muß sein, und wenns im Traum ist! Hm – – wir werden ihm einen Auszug aus seinen Personalpapieren liefern und unter ›Führung‹ – warte mal – so: ›Über alles Lob erhaben. Mit Genehmigung des Soldatenrats (gez.) Kaiser Wilhelm.‹« – »Weiter!« sagte Frau Anastasia. Und sie kurbelten.
»Für Wrobeln«, sprach Herr Symander, »kann ich kaum noch etwas finden. Der Mensch hat eine geradezu ausschweifende Phantasie. Und zu allem Unglück bekommen wir jetzt nichts mehr aus Bukarest – Madame Hélène hatte sonst immer noch einige Bilder aus dem rumänischen Familienleben, das sich so in ihrem Haus abspielte. Tja – was machen wir denn da –? Anastasia«, sagte er, »geh einmal aufs Podium. Du brauchst nicht grade dabei zu sein!« – »Ich dächte, wir sind verheiratet, Adalbert«, sagte sie gekränkt. »Sind wir«, antwortete er. »Aber bei Wrobeln hört schließlich die Gemütlichkeit auf. Wenn der nicht nach Professor Freud in Wien träumt, er sei seinen Blutsverwandten in unzulässiger Weise nahegetreten, dann machts ihm keinen Spaß.« (Auf die neuen Traumdeuter war Herr Symander nicht gut zu sprechen. Er schickte ihnen nachts Figuren braver Bürgerkomödien auf den Hals, aber völlig entkleidet und freute sich königlich, wenn sie, überwältigt von der Fülle der Eindrücke, am nächsten Tage orakelten, daß es eine Lust war.) »Geh«, sagte er, »ich bitte dich!« – Sie ging. Emsig packte er ein Szenarium zusammen – sie konnte es sich nicht versagen, ein wenig über das Geländer nach unten zu gucken. Was – machte er denn – pfui! »Adalbert!« sagte sie streng. »Bitte – ich habe schon gesehen, was du da in der Schachtel hast, du brauchst gar nicht die Hand darüber zu halten! Woher weißt du denn so etwas, wie?« – Sie fragte mit seltsamer Betonung, die nichts Gutes verhieß. »Aus den Büchern, mein Kind – nur aus den Büchern!« beruhigte er. »So – nun noch eine kleine Spezialnudität – und fertig ist.« Liebevoll trat er einen Schritt zurück und kniff das rechte Auge zu. Aber sein Gesicht blieb tiefernst, denn seine Gattin beobachtete[286] ihn aufmerksam. »Adalbert«, sagte Frau Anastasia, »du bist ein – na, weiter!« – Und sie kurbelten.
»Ach – wie riecht das hier!« sagte Frau Symander, als sie in die nächste Abteilung herunterkletterten. »Das verstehst du nicht, mein Kind«, sagte er. »Das wird der Traum eines Politikers, und ohne Schwefelwasserstoff gehts da nicht. Puh – ja, Geschäft ist Geschäft!« Das Traumbild wurde in Eile erledigt, schön wurde es, roch aber nicht gut. Ein Aufruf an das deutsche Volk, in dem – – »Weiter!« sagte Frau Anastasia. Und sie kurbelten.
»Und für wen ist das?« fragte sie, als sich Herr Symander erneut an die Arbeit machte. »Ich weiß nicht, wie er heißt«, sagte der Hoftraumhändler, »ich muß die eine Liste vorhin liegen gelassen haben, es war ein Kerl mit einem so komischen Namen – –.«
Und dieser Traum war ganz neu, und also mußte er probiert werden.
Frau Anastasia löschte die Lampen aus – es wurde pechschwarz. Die graue Traumwelle breitete sich in der Finsternis aus – dann ward es licht: eine weite Landschaft. Es war Herbst, die Farben leuchteten kräftig und klar. Ein frischer Wind rauschte in den Kronen der Bäume – sonst war es ganz still. Und eine schöne Altstimme sagte: »Gib mir deine Hand. Denn was so lange gewesen ist, das ist wahr und gräbt sich tief ein. Wenn wir aber als Alte im Lehnstuhl sitzen – dann wollen wir immer noch glauben, vier Jahreszeiten wären besser gewesen als die eine: unser Herbst.« – Das Ganze verschwand, und ein glockentiefer Ton hallte und klang in der Finsternis.
Licht flammte auf. »Alterchen«, sagte Frau Anastasia, »Alterchen – für wen war das?« – »Ihr Frauen«, sagte er, »seid immer auf Personen begierig; als ob das nicht gleich wäre. Es ist eben für irgend jemanden . . . «
Dann wurden die anderen Träume fertiggestellt. Träume mit allem Komfort: Träume mit Albdrücken, fliegende Träume, Zahlenträume – und schließlich die Serienträume, die von Haus zu Haus ziehen – denn man kann nicht jedem Menschen jede Nacht einen besonderen Traum liefern – das alles war fertige Ware, die nicht viel Mühe machte. Unterdessen war es sechs Uhr geworden. Sie fuhren hinauf in die Expedition.
Der Kalfaktor und Expedient Fritz Bumke lehnte an einer Schrankkante und rieb sich wohlig den Rücken. »Wenn ick mir det so bedenke«, sagte er, »wat hast du eijentlich vom Lehm? Nischt hast du dervon. Du lebst, newa, keiner jibt dir was davor, und du hast bloß die Unkosten. Diß mit die Weiber – ick habe imma jefunden, am Tage is es nischt mit sie. Bleibt – – na prost!« – Und sah auf zu den Sternen. Die kleine Flasche ließ den Stöpsel nicht wieder hinein. Fritze betrachtete dies als eine Schicksalsfügung und tat ihr den Gefallen. Die Tür ging auf.[287]
»Bumke«, sagte Herr Symander eilig, »das muß hier gleich weg. Die Kisten sind fertig gepackt, Sie wissen ja, alles wie gewöhnlich. Also los –!« – »Jawoll, Herr Hoflieferant –!« sagte Fritze. Der Tonfall –? Herr Symander sah seinen Expedienten an. »Ich möchte nur wissen«, sagte er zu seiner Frau auf portugiesisch, »woher der Kerl den vielen Fusel hat! Hier in der Nähe ist doch keine Kneipe?« – »Wat heißt hier franzeesisch«, murrte Herr Bumke. »Det ick besoffen bin, weiß ick alleene!« – »Sagten Sie was, Bumke?« erkundigte sich Herr Symander. – »Also die Tuhre wie jewöhnlich – jawoll, Herr Hoflieferant!« – Und machte seinen Kratzfuß, auch vor der Frau Hoflieferantin, nahm seine beiden Kisten unter den Arm, und die Mütze keck auf einem Ohr und heftig schluckend – so schaukelte Fritz Bumke hinaus.
Das war Sonnabend abend. Am Sonntag früh gegen zehn war im Büro des Herrn Symander ein derartiger Spektakel, daß die Wände wackelten. »Ich schlage den Kerl tot!« schrie Herr Symander. – »Aber Herr Hoftraumhändler!« sagte der lange Provisor van der Grachten und ließ geruhig seinen kalten Rauch aus der langen, langen Tonpfeife in die Luft klettern. »Aber Adalbert!« sagte seine Gattin. »Du wirst doch nicht!« – »Ich schlage ihn in lauter einzelne Stücke, den Haderlump, den versoffenen! Alle Träume hat er mir vertauscht – die Jungfrau träumt von Politik, der Dichter vom Skat und der Kompaniefeldwebel von Spitzenkleidern – ja, ist denn die Welt aus den Fugen? Wo kämen wir denn da hin? – Hier – Beschwerden über Beschwerden: ›Ach – was habe ich heute für dummes Zeug geträumt !‹ Und: ›Mein Kopf, mein Kopf!‹ – Und: › . . . sehen wir uns genötigt, nun doch in Zukunft für die Errichtung der Träume-, Schäume- und Fata-Morganen-Aktiengesellschaft einzutreten.‹ – Die ernsten Träume sind richtig angekommen, – aber was ein bißchen bewegt war – das hat das Luder alles falsch abgegeben! Und die Rechnung stimmt überhaupt nicht! Ich zähle und zähle – da fehlt ein Traum! – Ich schlage ihn tot, den Berliner, den verdammten –! Wenn ich ihn finde – –!«
Keine Sorge, Leser, er findet ihn noch nicht. Er findet ihn wahrscheinlich erst abends, wenn er wieder den Fahrstuhl benutzen muß, um in die Werkstatt zu gelangen. Denn in eben diesem Elevator liegt Fritze Bumke – den Geräuschen in seinem Innern lauschend und selig lächelnd. Vor die Tür hat er seine Stiefel gestellt, wie sich das für einen ordentlichen Mann gehört. Seine rechte Hand tastet in der Luft streichelnd eine kugelige Rundung ab . . . Still – er spricht! –
»Blau wien Ritter!« spricht er. »Aber wat mir heute nacht jeträumt hat – vaflucht juchhe –! Ein paar janz dolle Nummern warn det – – Und ein Weib –! Junge . . . Junge . . . ! Ein Weib, sage ick dir – prost!« –
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Grabbe zeigt Hannibal nicht als großen Helden, der im sinnhaften Verlauf der Geschichte eine höhere Bestimmung erfüllt, sondern als einfachen Menschen, der Gegenstand der Geschehnisse ist und ihnen schließlich zum Opfer fällt. »Der Dichter ist vorzugsweise verpflichtet, den wahren Geist der Geschichte zu enträtseln. Solange er diesen nicht verletzt, kommt es bei ihm auf eine wörtliche historische Treue nicht an.« C.D.G.
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Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
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