Der Mantel

[221] Gegenüber von mir, in der Elektrischen Bahn, sitzt eine Frau mit einem dicken, feldgrauen Mantel. Das Tuch ist an manchen Stellen merkwürdig dunkel, an manchen heller – es ist kein sehr feiner Mantel mehr. Und wie sie da so sitzt, muß ich auf einmal daran denken, was dieser Mantel schon alles gesehen hat.

Lieber, alter Mantel! Wo bist du überall gewesen? In Flandern hat er dich getragen, durch Lehm und Dreck, in grauen Regentagen und in den langen, dunkeln Nächten, wenn er Posten schob – in Polen vielleicht und in Rumänien. Du tratest mit dem Stück Mensch, das da in dich eingewickelt war, zum Appell an, und du marschiertest in Reih und Glied mit tausend anderen Mänteln an Seiner Majestät vorüber, und der freute sich, wie viele Mäntel doch seine Armee hätte. Die Menschen sah er nicht . . . Du wurdest gebürstet und geklopft, und wie ein Anhängsel begleitete dich in deinen Feldzügen ein kleines, unglückseliges Menschenkind, das sich so nach Hause sehnte und nach Ruhe, und das endlich, endlich wieder bei Muttern sitzen wollte. Was da in dich eingewickelt war, Mantel, das war nicht faul und nicht träge, und die Front hat es auch nicht erdolcht. Aber es war ein Mensch . . .

Du hattest es gut, lieber Mantel. Du fühltest nichts, warst also gewissermaßen das Ideal eines Soldaten. Und es kam ja auch schließlich, wenn man es recht bedenkt, bei dieser Armee viel mehr auf den Mantel an, als auf das, was drinnen war. In der Kammer wurdet ihr Mäntel gepflegt und gehegt und ausgezählt und sorgsam behütet. Die Menschen waren billig, billig wie die hingeschlachteten Jungen von Langemarck . . .

Lieber alter Mantel! Was hast du schon alles gesehen! Brutalitäten und Not und Hunger und Blut und Todeszuckungen und Offiziere in hellen, bequemen Kraftwagen und Paraden und Lügen, Lügen, Lügen . . . Du bist weit in der Welt herumgekommen, und jetzt trägt dich seine Frau oder seine Schwester, und sie versucht, sich in deinem dünnen, fadenscheinig gewordenen Stoff zu wärmen. Kriegsjahre, diese Kriegsjahre zählen siebenfach – schier dreißig Jahre bist du alt. Ruh dich aus, du hast genug erlebt. Hast gesehen, wie ein Volk zugrunde ging, weil[221] vierzehn Millionen Mäntel draußen waren und kein Kopf. Aber wozu braucht der alte Preuße einen Kopf? . . .

Leb wohl! lieber alter Mantel.


  • · iwr.
    Berliner Volkszeitung, 14.12.1919.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 221-222.
Lizenz:
Kategorien: