Wenn die Flocken fallen . . .

[222] Grübelnd ging ich heut in meinen Laden.

Und ich dachte mir: Es kann nichts schaden –

Mach mal Inventur!

Oh, Matthias, wird das Leben aber teuer!

Jetzt kommt, Gott behüte, eine Umsatzsteuer –

Wer bezahlt die nur?

Und ich frag mich: Mitten in Berlin?

Kann der Mensch da Steuern hinterziehn?

Eben wars noch trocken.

Plötzlich schneit es dichte, dichte Flocken . . .

Und mir fällt beim Wandern eine nach der andern

leise auf den Hut.

Denk im Schneegeriesel:

Ich bin doch ein Stiesel –

weil die ganze Welt dergleichen tut!


Welch ein gutes Kind ist Eveline!

Trägt das Kind mit Recht die Unschuldsmiene?

Oder täusch ich mich?

Nein, sie läuft doch als verlobte Braut rum,

und der brave Ehrenmann, er schaut drum

weg und schämet sich.

Und er fragt sich: Mitten in Berlin?

Nah ich solchem Mädchen auf den Knien –?

Eben wars noch trocken.

Plötzlich schneit es dichte, dichte Flocken . . .

Und mir fällt beim Wandern

eine nach der andern

leise auf den Hut.

Denk im Schneegeriesel:

Ich bin doch ein Stiesel –

weil die ganze Welt dergleichen tut!


Als in München neulich Kommunisten

schoben scheußlich-schauervolle Kisten,

nannte man das: Mord.[222]

Aber läßt bei uns, ganz kalt und steinhart,

dreißig Mann erschießen Oberst Reinhard –

tönt kein Wort.

Und ich frag mich: Mitten in Berlin –

Wann, o Gustav, wann belangst du ihn?

Eben wars noch trocken.

Plötzlich schneit es dichte, dichte Flocken . . .

Und mir fällt beim Wandern

eine nach der andern

leis auf den Schapoh.

Denk im Schneegeriesel:

Ich bin doch ein Stiesel –

In der Republik, da ists mal so –


  • · Theobald Tiger
    Ulk, 12.12.1919, Nr. 50.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 222-223.
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