Biographie für viele

[385] Das merkte man eigentlich schon auf der Schule. Seine Aufsätze waren nicht besser als die der anderen – aber sie waren so geschrieben, daß jeder neue Ordinarius zu fragen pflegte: »Wer hat Ihnen dabei geholfen? Selbständig arbeiten!« Aber er hatte sie ganz allein gemacht.

Er sonderte sich nicht eigentlich von den anderen ab – das konnte man nicht sagen. Er war immer mitten unter ihnen – aber er gehörte[385] niemals richtig zu ihnen, und sie fühlten das auch und ließen es ihn fühlen. Er war nicht einsam. Er lebte in zahlreicher Gesellschaft, sprach er mit den Schatten? Davon sagte er nichts.

Er bestand nun sein Examen: gleichmütig, wie er alles tat, fast aufreizend gleichmütig. Er bestand es schlecht und recht – aber es war etwas in seinen Antworten, das den alten weißhaarigen Schulrat aufhorchen machte – er hatte schon so viele durch seine Hände gehen sehen – dies war wieder einmal einer von jenen, die er nur widerwillig passieren ließ. Stille Revolutionäre. Oh, er hatte ein feines Gefühl dafür, der Herr Schulrat! Ja, also dann bestand er das Examen. Und war frei.

Eine Flamme lohte steil auf, zum Himmel. So hell, daß denen, die in diese Feuerzunge hineinsahen, fast die Augen schmerzten. Er wußte davon nichts. Er sah die Welt und erschrak. Das war sie? Das? Und er wütete, alles war ihm neu, alles grauenerregend, nichts selbstverständlich, alles zum ersten Male.

Wie konnten diese Reiter über dem Bodensee alle ruhig daherleben? Sahen sie nicht? Fühlten sie nicht? Er sah. Er fühlte. Und sagte das Seine und sagte es stark, denn er glaubte daran, und ihm war, als dürfe es so nicht sein, wie es da herging. Er rieb sich an der Welt, und Funken sprühten auf. Er verglich diese Welt mit einer nicht existierenden, mit seiner, mit einer anderen – und der Vergleich fiel nicht sehr heiter aus. Negierte er? Wie töricht war dieses Wort. Man sagt ja nicht einfach Nein – Negieren ist Vergleichen – Negieren heißt: Du bist nicht so, wie ich dich wünschte. Ich weiß um etwas anders . . .

Und er lernte, sein Chaos zu bändigen, und lernte die Form und wußte um die Wirkung seiner Sätze. Und glaubte noch immer.

Ja, das war damals. Und die Frauen –? Sie liebten ihn – nicht, wie man einen Helden liebt – sie liebten ihn, wie sie in guten Stunden ihren Vater geliebt hatten. Er wußte so viel von ihnen – sie brauchten nicht zu sprechen – er wußte, er wußte. Und durchschritt die Stationen des Lasters, über das er immer lachte, weil aus allen Löcherchen die kleine Bürgerlichkeit herausguckte, und die der Seelenfreundschaft und die der rustikalen Derbheit und liebte die Schlanken und die Kugeligen und die Rothaarigen und die Buben unter den Mädchen und die jungen Frauen.

Das war damals. Damals war er so das, was die Welt ›eine Hoffnung‹ nennt. Der Anfang war vielversprechend gewesen – und nun warteten die Leute, was nun kommen würde. Denn daß etwas kommen mußte, das stand ja fest.

Die Sache fing damit an, daß ihn sein Vater eines Tages in sein Arbeitszimmer rief und ihn fragte, was er denn nun eigentlich werden wolle. Und man müsse nun doch . . . wie? Ja, das sah er ein. Man müsse nun in der Tat . . . So begann es, und das war der Anfang. Damals hörte er zum ersten Male das Wort ›Konzession‹ in seinen Ohren sausen.

[386] Lange ist das her, dieses Damals. Wie lange – wartet, ich will nachrechnen, fünfzehn, achtzehn Jahre. Ja, achtzehn Jahre liegt diese erste Unterredung mit seinem Papa zurück. Merkwürdig, wie so die Zeit vergeht . . . Was ist heute? Heute?

Wie ist das gekommen? Ganz langsam muß das gegangen sein, daß man es so gar nicht gemerkt hat – es ist eine unendlich lange, schiefe Ebene gewesen. Ah, Sie dürfen nicht denken, daß er heruntergekommen sei – aber im Gegenteil. Ganz im Gegenteil. Der Mann ist heute etwas, er hat eine Stellung, er ist angesehen, er verdient, hat Frau und Kinder – ein anständiger Bürger.

Aber wie ist das gekommen? Aus der Flamme ist ein Herdfeuer geworden, ein stilles, nahrhaft wärmendes Herdfeuer, und das ist nun auch erloschen. Er schreibt und ist fleißig und wird gelesen und ist ein vorzüglicher Techniker. Herz? Empfindung? Rührung? Humor? Aber gern. Aber bitte, gern und gleich. Er liest auch wohl mitunter noch in seinen alten Büchern, ›an denen er einst die Kraft seiner Jugend geübt hatte‹. Er denkt auch wohl mitunter noch an die alten Tage – aber er mag nicht gerne an sie denken. Es ist so etwas wie Scham dabei. Aber das ist selten.

Er hat auch schon eingesehen, daß man sich nach der Decke strecken müsse, und daß man nicht damit weiter kommt, immer das Äußerste zu verlangen, Begnügsamkeit – wie hübsch das klingt. Begnügsamkeit . . . Und es geht doch auch so, nicht wahr, es geht doch auch so. Manchmal hört er die jungen Leute stürmen und poltern – wie er einst gestürmt und gepoltert hatte, und dann lächelt er und denkt: (Sie werden schon wieder klein beigeben). Aber ihm ist nicht sehr wohl bei diesem Lächeln . . .

Er hat seine Frau sehr lieb. Freilich: mit seinen Jugenddingen darf er ihr nicht kommen. Sie lehnt das still ab. Er hat sie sehr lieb – aber es geschieht wohl manchmal, des Nachts, daß er, wenn sie weich und ermattet an seiner Seite liegt, ins Dunkel sieht und immer weiter sieht, an ihr vorbei, ganz an ihr vorbei. Und während sie von den kleinen Haushaltungssorgen plaudert, kreisen da rote Ringe und drehen sich und erinnern, erinnern . . . Das ist nicht schön.

Und die Leute sagen: er macht seine Sache sehr gut. Er eckt nicht an, und versteht, sich mit jedermann zu stellen, und weiß mit der Zeit zu gehen, und bleibt obenauf, und ernährt seine Familie. Ja. Und vielleicht – wenn das mit A. klappt – vielleicht wird er dann aus der kleinen Vierzimmerwohnung in eine größere, in eine Sechszimmerwohnung ziehen. Er kann sich das jetzt ruhigen Gewissens leisten.

Und da hinten, weit hinten, liegt ein Jugendland in unvergleichlichem Glanz. Und leuchtet durch all die Jahre und kann nicht vergessen werden. Es ruht im Unterbewußtsein, oder, wie die Psychologen das nennen, es liegt tief unter der Oberfläche und kann und kann nicht[387] vergessen werden. Und wird doch jeden Tag vergessen, mit jedem gesprochenen Wort, mit jedem geschriebenen Satz. Und ist leuchtend und unauslöschlich da.

Und die Frauen sind da, die von damals – und die von heute, die er nie gesehen hat. Ihre Lust und ihr Menschentum, ihre Nacht und ihr Tag, Bett und Tisch. Und ihr Lachen. Freilich: sie können nicht alle so gut Kaffee kochen wie jene. –


Wer war das, da oben? Wer ist das? – Du? Sag: wer?

Irgend jemand. Irgend jemand.

Nein: nicht irgend jemand. Ich will euch sagen, wer es ist.

Ihr alle seid es.

So leben Tausende und Tausende dahin, und haben das Land ihrer Sehnsucht, das Land ihrer Jugend, verraten und vergessen. Man muß doch leben . . . Lebt ihr? Leben wir alle? Ist das ein Leben: essen und arbeiten, und beachtet werden, und Geld verdienen, und atmen, und Kinder haben, und eine Frau? War es das, was wir erstrebt haben? Wo ist sie? Sie hat reich geheiratet, nicht wahr, nach der Melodie:

Doch was am meisten ihn entsetzt,

Das allerschlimmste kam zuletzt.

Ein alter Esel fraß die ganze

Von ihm so heißgeliebte Pflanze.

Sie ist nicht mehr da. Und die Zeit ist vorbei, die Tage sind zerronnen, die Jugend dahin.

Aber die Bücher sind noch da, die Bücher und ihre Wahrheiten, ihre Zweifel und ihre krummen Wege, ihre Schmeicheleien und ihre Grausamkeiten. Sie sind da und haben alles überdauert. Und wir sind alt geworden und leben neben ihnen. Und – wenn wir ein bißchen wertvoll sind – schämen wir uns.

Es ist kein Glück dabei. Man sollte sich doch treu bleiben.


  • · Peter Panter
    Berliner Tageblatt, 29.07.1920.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 385-388.
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