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[383] Der Feldherr stand da und sagte: »Laßt mich. Ich trage die Verantwortung. Vor der Geschichte werde ich dereinst . . . « Und da ließen sie ihn gewähren. Warum?
Geschichte: das war der ehrfürchtige Schauer des Gymnasialabiturienten, der den vermaledeiten Peloponnesischen Krieg lernen mußte, und den Siebenjährigen und den Dreißigjährigen. Und bei allem Arger blieb doch das Gefühl haften, daß das damals Historie gewesen sei, wahrhafte Geschichte. Aber jetzt, 1909, die Regierungszeit unsres Kaisers: das war ja nichts Rechtes, und da standen auch im Geschichtsbuch nur einige allgemeine patriotische Redensarten – Geschichte war das nicht.
So hatte man gelehrt: Geschichte – das waren glänzende Schlachten und in Wehr schimmernde Feldherren und Reichsdeputationshaupt-Schlüsse und große Konzile und Kongresse und all das. Puder und Blut – das war Geschichte. Und vielleicht noch der Krieg 70/71. Ja, der auch noch. Die Gegenwart: das war keine Geschichte.
Und nun der Weltkrieg . . . Und nun die große Zeit . . . Daher die ungeheure Begeisterung all jener, die da glaubten, die Weltgeschichte schreite ruckweis vorwärts, und die nichts davon wußten, daß sie im geheimnisvollen, leisen Weben tagaus, tagein langsam wirkt, unaufhörlich, unmerklich . . .
[383] Nun waren sie auch dabei! Nun – das war Historie. Jetzt hatten sie die Chance, auch einmal von ihren Enkeln auswendig gelernt zu werden, und Gnade Gott dem kleinen Moritz, der im Jahre 1984 nicht wissen würde, wer den Durchbruch bei Gorlice . . . Das war es. Mächtiger reckten sich die Heldenbrüste, heller strahlten die Augen – Geschichte! Geschichte!
Und als die große Zeit um war und kleiner und kleiner wurde: da erlebten wir einen Zank um die zukünftige Eintragung dieser Ereignisse in die künftigen Geschichtsbücher, und ein Feilschen hub an und ein Anklagen und Fälschen und Verteidigen – und der Mommsen des Jahres 1984 wirds schwer haben. Man erzählt von einem alten französischen Geschichtsschreiber, daß er sich einen Straßenkrawall, den er und seine Freunde vom Fenster aus gesehen hatten, von ihnen allen der Reihe nach schildern ließ. Und jeder schilderte ihn anders. Und da ging er hin und warf einen dicken Band seines neuen Werkes ins Feuer, weil er meinte: wie müßten nun erst seine Quellen beschaffen sein, diese alten Quellen, aus denen er geschöpft hatte –!
Klios Griffel kratzt. Objektiv ist sie auch nicht, weil ja niemand hienieden objektiv ist, und es hängt von tausenderlei Faktoren ab, was sie da auf ihre Schiefertafel malen wird, mit der wir sie immer abgebildet sehen – aber von der Wahrheit hängts wohl kaum ab. Man lese einmal die Darstellung der pariser Kommune in den deutschen Geschichtsbüchern und bei Kautsky, und man wird einen kleinen Begriff bekommen . . .
Und heute schreibt Klio mit der Schreibmaschine, es geht ganz schnell – was gestern geschehen ist, hat morgen bereits seinen authentischen, unumstößlichen Geschichtsschreiber: aber wahrer ists dadurch auch nicht geworden.
Klio! Lösch aus! Es ist falsch, was du schreibst . . . ! Nicht die Heimat hat ein Heer von hinten erdolcht, und Arco ist kein Volksheld edler Qualität. Sie aber malt unverdrossen und sagt: »Ich habe aus den Quellen geschöpft –!«
Und wenn sie nun selbst die Wahrheit schriebe? Wenn alles richtig wäre, was zukünftige Historiographen aufmalen – was dann? was dann?
Dann ist es noch so, und keine Schuld findet dadurch eine Sühne.
»Vor der Geschichte wird dieser Mann dastehen als einer, der . . . « Schreckliche Drohung! Vor der Geschichte? Gut. Und heute? Und heute sitzt er in seinem Schlößchen, hat einmal die Verantwortung getragen – so, wie man einmal einen Frack getragen hat, den man ja auch wieder ausziehen kann – und läßt sichs wohl sein. Vor der Geschichte? Und Hunderttausende sind verblutet, weil dieser eine es gewollt hat, und[384] Frauen wanden sich in Krämpfen und verfluchten seinen Namen, und er trug die Verantwortung. Vor der Geschichte.
Wen tröstet das? Wem hilft das? Ist uns damit geholfen, daß die Schulbuben im Jahre 2000 bestenfalls – was ich aber nicht glaube – lernen werden, die Militärs hätten Deutschland ins Unglück gestürzt und es darin ein Schlamm- und Blutbad nehmen lassen? Werden wir dadurch besser? Wird damit einer bestraft?
Wir haben gelernt. Wallenstein sei ein Verräter gewesen. (Nicht einmal das steht fest.) Nun – und wem schadet das etwas? Unmittelbare Nachkommen des Mannes, denen das die Heiratschance verdürbe, gibt es nicht mehr – und wir haben ein totes Faktum gelernt, das allenfalls Dichter zum Widerspruch reizt. Wir haben gelernt, Cicero sei ein braver Mann gewesen und Catilina ein schlechter. (Nicht einmal das steht fest.) Nun – und? Und vieles haben wir gar nicht gelernt oder doch sehr mangelhaft und vieles falsch – und das Richtige?
Und das Richtige ist uns bestenfalls ein wirksames Zitat. Hätten die Jakobiner mit den Bourbonen nicht abgerechnet –: unsre Schulkinder haben dem sechzehnten Ludwig nicht mehr sonderlich geschadet. Unser Bedauern mit den Inkas hilft nicht mehr viel – sie sind untergegangen, und Cortez steht vor der Geschichte da als einer, der . . . Ob es ihm Kopfschmerzen gemacht hat –?
Meine Lieben, das ist eine Phrase, das mit der Geschichte. Klio kritzelt: richten kann sie schon deshalb nicht, weil man mit einem Griffel nicht richten kann, wenn man kein Schwert hat – und vor allem, wenn der Delinquent bereits tot ist.
Bei uns ist das so: solange eine Unternehmung dauert, lehnen die Führer jeden guten Rat mit dem Hinweis auf ihre ›Verantwortung‹ ab – und wenns aus ist, dann gehen sie alle ruhig nach Hause, und niemand darf ihnen etwas tun. Denn man darf doch den ordentlichen Gerichten nicht vorgreifen . . . Den armen ordentlichen Gerichten, die außerordentlichen Ereignissen manchmal nicht gewachsen sind.
Laßt, laßt. Auf Klio ist kein Verlaß. Herrn Ludendorff ist es gleichgültig, was sie sagt – denn er wirds nicht mehr erleben.
Wir: wir wollen die Geschichte sein.