|
[104] Karl Etlinger, der Schauspieler, erzählte einmal von den Mühsalen des Komikers, und wie der mit Kollegen, Publikum und Stimmung zu kämpfen habe – wieviel Widrigkeiten zu überwinden seien, bevor die Leute lachten, und wie schwer das sei: Menschen zum Lachen zu bringen. Und wie wenig ihm selber zum Lachen zumute sei. Und dann sagte er: »So kann man doch nicht Komiker sein!« Und fügte hinzu: »Aber so ist man Komiker.«
An dieses Wort habe ich denken müssen, als ich die meisterliche Monographie Alfred Polgars über Max Pallenberg las. (Sie ist, in der Serie: ›Der Schauspieler‹, die Herbert Ihering herausgibt, bei Erich Reiß erschienen.) O fortunate adulescens qui Homerum praeconem[104] tuae virtutis inveneris! Es finden sich immer zwei richtige: Hektor und Homer, Possart und Paul Goldmann, Pallenberg und Polgar.
Es ist mir kein zweiter Fall von so tiefer Blutsverwandtschaft bekannt. Es ist, als ob der Bruder vom Bruder aussagt, wie er beschaffen ist. Und es ist viel mehr als eine Schilderung oder gar ›das Anlegen der kritischen Sonde‹, wie es jeder Theaterberichterstatter des ›Budapester Morgengeheuls‹ im Schlaf fertig bekommt. (Und das ist dann auch danach.) Dieser Pallenberg hat einen Kameraden.
Eine Probe gebe den Ton an:
»Das Unvergeßlichste aber ist der Hut, den dieser Bürger auf seinem Kopf schaukelt. Pallenbergs Spiel holt aus der Komik dieses Huts aller Hüte Komik. Die Tatsache ›Hut‹ ward entzaubert, die konventionelle Geltung fiel ab von ihr, und ihre ganze Lächerlichkeit lag bloß. Laufen die Menschen wirklich so herum, mit einem gehöhlten Ding aus Stroh oder Stoff auf dem Schädel? So was ›tragen‹ sie? So was haben sie in Reihen daheim auf dem Kastenbord? So was herzustellen sind Hände und Maschinen specialiter tätig? Sehet bei Pallenberg, was ein Hut für ein unfaßbar lächerliches Ding ist? Und wie lächerlich ein Rock ist! Und ein Paar Stiefel! Und ein Regenschirm! Und ein Schächtelchen mit kleinen dünnen Hölzern, die man anreibt, damit sie brennen oder nicht brennen. Und ein Sessel mit einer Fläche eigens für den Popo!«
Und dann wird diese fast Mauthnersche Kritik der Welt, diese Zerfaserung der alltäglichsten Dinge, diese gespielte Fremdheit, die man empfindet, wenn man ein bekanntes Wort viele Male vor sich hin sagt, bis es weit, weit fortgerückt ist . . . diese Pallenbergsche Analyse wird ausgedehnt auf die Existenz des Menschen!
»Und ein Mund mit einem Zungenklöppel drin, der etwas bim-bamt, was die andern in Wut oder Heiterkeit versetzt! Und ein Essender, wie er in ein eignes auf- und zuklappbares Gesichtsloch hineinstopft und -schüttet! Und ein Herz, das ein paar Jahrzehnte lang auf-zu-auf-zu macht bis es, unter großem Geschrei und heftiger Augenwasser-Sekretion Umherstehender, endlich seine blöde Beschäftigung einstellt, worauf der abgespielte Mechanismus samt Gehäuse in einen Kasten gelegt und wie ein Schatz vergraben wird. Sehet bei Pallenberg, wie höllen-abgrundtief lächerlich es ist, ein Mensch zu sein, so zu sein, da zu sein, zu sein!«
Soweit Jonathan-Polgar geb. Swift, und es klingt anders als das glorifizierende ›Wir sind‹ junger Herren, die – der merkwürdige Fall jüdischer Katholiken – die Welt mit einer Liebe umfassen, nicht ohne dabei leichte Schleimspuren farbloser Feuilletons zu hinterlassen . . . Aber von diesen gewerfelten Mustern wollten wir ja nicht reden.[105]
Nein, diese kleine Monographie gibt mehr Aufschluß über die Schauspielkunst, mehr über diese, über solche geniale Schauspielkunst als viele dicke Bücher, die man nicht lesen mag. Ein Satz – und Pallenberg steht im Hemde (worüber wiederum zu lachen wäre):
»Er ist der Bajazzo, der sich durch das Pathetische hindurchgeschlichen hat und hinter die feindlichen Linien gekommen ist.«
Das ist es: die Überwindung des Pathos.
Es steht ein prachtvoller Absatz über Pallenbergs Sprachkunst in dem Buche, über diese Sprachkunst, die tausend Nachahmer und keinen gefunden hat, und Polgar ist der erste Analytiker seiner Art, der weise genug ist, offen auf jenes große X hinzuweisen, das sich nach Schopenhauer uneingestanden in allen Büchern findet: da gehts nicht mehr weiter. Man pflegt das gern ›elementar‹ zu nennen – aber allein wichtig ist ja das Selbstverständliche, das, worüber keiner mehr nachdenkt, weil es ihm ›natürlich‹ erscheint.
Polgar hat die Berühmtheit Pallenbergs nicht gebraucht und nicht benutzt. Er hat ihn erkannt, als ihn in Wien wenige, und als wir Berliner ihn gar nicht kannten. Ich besinne mich auf einen alten Aufsatz von ihm in der ›Schaubühne‹ aus dem Jahre 1911, wo schon damals die Grundlinien dieses genialen Lach- und Giftnickels klar aufgezeigt waren.
Und nach der prachtvollsten Analyse, die wohl ein deutscher Schauspieler solchen Formats von einem deutschen Schriftsteller solchen Formats gefunden haben mag, weiß Polgar doch, daß es alles nichts hilft. Sie werden beide dahingehen: Hektor und sein Homer. Und Bilder, Bücher, Filme und Grammophonplatten werden das nicht wiedergeben können, was dieser einzige Mensch auf der deutschen Bühne gewesen ist – wie man dann sagen muß. Eine leuchtende Erinnerung wird den Namen umgeben. Die Erinnerung an einen, der die Leute lachen machen konnte, daß ihnen die Gänsehaut über den Buckel lief. Noch ist er am Leben! Laßt ihn das Wort nicht hören! ›Warum Gänsehaut?‹ Weh mir – er wird auch mit diesem Wortspielen.
Und ich traute mich nicht, ihm die Grabrede zu halten, weil die Leiche noch unter dem Holze zu klopfen begänne, der Urnendeckel wackelte, erstens, weil Felix Hollaender aus Zerstreutheit einen Tropenhelm statt eines Zylinders aufgesetzt haben wird, und zweitens, weil heute abend der Nachfolger die Rolle spielen wird, die er einmal gehabt hat. Wie recht hat er, und wie verständlich ist das!
Die Grabrede ist nicht nötig. Noch haben wir ihn in der Vollkraft seines Genies. Und haben wir ihn einmal nicht mehr: dann bleibt zur Erinnerung an ihn dieses Buch.