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[396] Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps.
Deutsches Soldatenwort
»Vous m'excusez, monsieur, que je vous d'érange . . . «
Eine französische Bettlerin
Worin besteht der Zauber von Paris? In der Architektur? In der silbrigen Luft? In der Mode? In den Frauen? Im Sekt? In all dem zusammen? Nein.
Das, was die einzige Atmosphäre dieser Stadt ausmacht, ist ihre Menschlichkeit.
Wenn man aus Deutschland kommt, versteht man es erst gar nicht. Wir sind doch gewöhnt, daß ein Gasbeamter ein Gasbeamter ist und weiter nichts – daß ein Gerichtsdiener Gerichtsdiener, ein Schaffner Schaffner und ein Billettverkäufer Billettverkäufer ist. Wenn sie wirklich die starre Maske des ›Dienstes‹ ein wenig lüften, so geschieht das meistens, um Unhöflichkeiten zu sagen. Herr Triebecke hat sich eine bunte Mütze aufgesetzt, und Herr Triebecke ist völlig verschwunden: vorhanden ist nur noch einer, der ›seinen Dienst macht‹. Ja, die freiwillige Einordnung in jede Kollektivität, in der man sich geborgen fühlt, geht so weit, daß man in deutschen Diskussionen oft zu hören bekommt: »Ich als Schleswig-Holsteiner«, »Ich als mittlerer Beamter« und sogar: »Ich als Vater . . . « Nur, einfach: ›Ich‹, ich als Mensch – das ist selten.
Es ist sehr bequem so. Aber hinter den Bergen wohnen auch Leute, und sie denken darin ganz anders. Es ist sehr preußisch gedacht, wenn man sich nach. dem Ausschluß der starren Dienstauffassung gleich das Chaos vorstellt. Entweder – oder. »Na, soll vielleicht der Weichensteller im Dienst Zeitungen lesen?« – Nein. Aber er soll ein Mensch sein, der Weichen stellt, und kein Beamter, der – an besonders hohen Feiertagen – auch ›mal Mensch‹ ist.
[396] Paris hat Herz. Das geradezu lächerliche Zerrbild, das der Völkische sich und andern von Franzosen an die Wand malt, ist nicht einmal eine Karikatur – es ist blanker Unsinn. Es ist objektiv so falsch wie etwa eine Schilderung der Eskimos, die besagte: »Der Eskimo ist ein stiller Privatgelehrter, der sein Leben in den kleinen überhitzten Kollegräumen seiner Universität verbringt.« Der Franzose ist kein Spiegelaffe – der Franzose ist ein Mensch. Und lebt sein Leben mit einer leichten Freude, mit einer Innigkeit, mit einer herzlichen Liebe zur Natur und den anderen Menschen, die wir fast vergessen haben.
Es ist mir bekannt, daß unsere entsetzlichen wirtschaftlichen Zustände da herangezogen werden. Das ist nicht ganz richtig. Ich habe das Berlin vor dem Kriege sehr genau gekannt – es konnte sich auch damals mit Paris nicht vergleichen. Ich will Ihnen ein paar Beispiele geben:
Die pariser Métro ist stippevoll. In der zweiten Klasse quetschen sich die Leute wie die Heringe – wir Berliner kennen das. Sie hören fast nie ein böses Wort. Es mag wohl hier oder da einmal vorkommen, daß eine ganz leise, ganz höfliche Diskussion anhebt . . . Aber die körperliche Berührung gilt hier nicht als eine Beleidigung, die – unter Rittern – nur mit Blut abgewaschen werden kann, sondern es drängen und pressen sich gewissermaßen Mitglieder einer Familie. Man ist nicht gerade übermäßig vergnügt, so zu stehen – aber man nimmt es hin. Auch ist man nicht so von Offensivgeist durchtränkt wie in Deutschland. Ich besinne mich, kurz vor meiner Abfahrt in einem Charlottenburger Bäckerladen gewesen zu sein – es war in einer sehr feinen Gegend, am Reichskanzlerplatz – und da war alles aufeinander böse: die Kunden, der Meister, die Bäckerjungen und die Hörnchen. Ohne jeden Grund übrigens. Das habe ich hier noch nie gefunden. In der Elektrischen, draußen im Südosten der Stadt, gab neulich eine dicke Frau mit vielen Markttaschen dem Schaffner eine Handvoll Kirschen – und niemand fand etwas dabei, es war die natürlichste Sache von der Welt. Und das war kein Trinkgeld oder seine Ersparnis – es war einfach Nettigkeit, die der Schaffner auch ganz richtig auffaßte: er freute sich, weil die Kirschen so schön rot waren, steckte sie ein, und alle Passagiere hätten sicherlich ebenso wie die dicke Frau gehandelt. Natürlich. Und es ist eben nicht jene übertünchte Höflichkeit, hinter der weiß Gott welche Bestie steckt, gezähmt durch die gedrechselten Formen französischer Tradition. Das ist nicht wahr. Denn es ist sehr bezeichnend, daß gerade der kleine Mann, der Handwerker, die Gemüsefrau, der Arbeiter – daß gerade sie fast immer höflich, herzlich und natürlich sind. Und das Familiäre guckt überall hindurch – man begegnet selten der absolut abweisenden Härte.
Obgleich es die sicherlich auch gibt. Denn es wäre grundverkehrt, nun die Franzosen zu Idealmenschen zu stempeln, und ich mag diese[397] deutschen Literaten und Reisenden gar nicht, die hier in jedem Aschbecher ein ›echt französisches Dokument alter Tradition‹ sehen. (Besonders die Kunsthändler sollte man in dieser Beziehung einzeln und sorgfältig totschießen.) Ich finde den Typus dieser bedingungslos begeisterten Franzosenlecker genau so übel wie die vorpommerschen Landrichter, die von Frankreich zwar nichts wissen, aber furchtbar darauf schimpfen. Man muß die Dinge auch einmal abseits von der Ruhr und abseits von Picasso sehen können.
Und da sieht Paris so aus:
Der Franzose ist ein bürgerlicher Mensch. Ein Mensch, der, weil es so viele Fremde in Paris gibt, sehr höflich und nett mit aller Welt ist, aber im Grunde sehr abgeschlossen und sehr zurückhaltend lebt. Es gibt in allem Ausnahmen. Es gibt auch hier Postbeamte, die vor lauter Beamtenhochmut nicht antworten, wenn man sie außerhalb ihrer Dienststunden etwas fragt – aber sie sind nicht der Typus. Es gibt auch hier sicherlich Mißgriffe, Irrtümer, menschliche Niederträchtigkeiten . . . Ich bin keine Frau und weiß nicht, inwieweit eine alleinstehende Dame in einem Arbeiterviertel geschützt ist. Mein Eindruck ist, daß ihr unter normalen Verhältnissen kein Mensch etwas tun wird – ich habe hier noch nie beobachtet, daß man eine anständige Frau auf der Straße belästigt hätte. Was aber viel, viel wichtiger als alles dieses ist:
Die Leute sind nicht nur höflich, sie sind herzlich. Fragen Sie um Rat – Sie werden ihn fast immer, auch von wildfremden Leuten, bekommen. Ich bin in Vierteln, die ich nie gesehen hatte, in die Läden gegangen, habe eine Kleinigkeit gekauft und die Leute nach den dortigen Wohnungsverhältnissen gefragt – sie haben mir immer ausführlich, der Wahrheit gemäß und entgegenkommend geantwortet. Was sie nicht ›nötig‹ hatten – nein, gewiß nicht. Aber hier ist, primär, ein Mensch zum andern erst einmal höflich – und nur, wenn es einen Zwischenfall gibt, weicht das. Zwei, drei, vier Mal ist es mir begegnet, daß ein kleiner Ladenbesitzer nicht das Gewünschte führte. Immer – ohne jede Ausnahme – hat man mir freundlich Bescheid gesagt, wo ich die Ware sonst kaufen könnte – mitunter kam der Mann oder die Frau selbst mit heraus und zeigte mir Richtung und Weg.
Dazu kommt ein andres. Der Pariser führt sein Leben, ganz ehrlich, so, wie es ist, wie er es sich leisten kann. Nicht darüber und nicht darunter. Ein Freund erzählte mir, daß ihm im Zuge nach Paris der Sohn eines reichen Seidenfabrikanten Auskünfte über die Lokale in Paris erteilt hätte. Über manche wußte er nicht Bescheid. »Ça – c'est pour les gens du monde.« Dazu zählte er sich nicht. Die Gens du monde waren für ihn nicht höher und nicht tiefer – aber anders. Und aus dieser menschlichen Natürlichkeit, die soundso oft zu erkennen gibt: Dazu haben wir kein Geld – entspringt eine viel größere Ehrlichkeit im Verkehr. In den allermeisten Fällen kann man darauf schwören, daß[398] das sichtbare gesellschaftliche Milieu auch der wirklichen Vermögenslage entspricht – denn es gibt keinen, für den man ein andres vorzutäuschen hätte. Sie leben ihr Leben ohne Anführungsstriche – sie verteilen ihre Ausgaben anders als wir, geben zum Beispiel für die Wohnung prozentual mehr Geld aus – aber das tun alle, und so gleicht sich das aus.
Und auch in den Familien findet man hier einen viel natürlicheren Ton als bei uns. Ich spreche nicht von den großen Salons, in denen sehr reiche, sehr bekannte Leute von Welt verkehren – sondern gerade von Frau Machin und Madame Chose. Da ist alles viel natürlicher, viel freier – nicht gespreizt und nicht feierlich oder prätentiös aufgemacht. Es ist eine Stadt der Menschlichkeit.
Und man fühlt in Paris nach einiger Zeit, wenn man gemerkt hat, daß einem keiner an den Nerven zerrt, daß alles glatt und angenehm vonstatten geht, daß das Dasein gleitet und nicht hakt – man empfindet, wie einfach im Grunde das Leben ist. Was wollen wir denn alle Großes? Gesundheit; die Mittel, die nötig sind, um in unserer Klasse zu leben; keine übermäßigen menschlichen Katastrophen in der Liebe oder mit den Kindern – schließlich, so erheblich sind unsere Ansprüche gar nicht. Und anfangs empfand ich das pariser Glück immer als etwas Negatives: keine Nervosität und keine unhöflichen Menschen in der Untergrundbahn und keine endlosen Schwierigkeiten, wenn ich einmal nachts nach Hause fahren wollte, und keine Rempeleien in Lokalen.
Heute weiß ich, was es ist: Es ist die einfache, leichte und natürliche Menschlichkeit des Parisers.
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