Meditation

[482] Möchtest du, mein Goldkind, einen Knaben?

Hier im Buche steht, daß man bestimmt

sie so kriegen kann, wie man sie haben

will, wenn mans methodisch unternimmt.


Gott, ein Junge hat ja viel auf Erden.

Er wird mannbar und Regierungsrat.

Geht es schief, dann kann er Richter werden

oder gutgesinnter Demokrat.


Halt! Tus nicht! Du nimmst da eine Nährpflicht

auf dich ohne jeden Hoffnungsstrahl.

Bald hat Deutschland seine alte Wehrpflicht,

und dann wird er Menschenmaterial.


Oder möchtest du eine Knabine –?

Abdenitten? Immer so dewest?

Sucht ein Bankdirektor nach Titine,

erntest du doch, was du heute säest.


Halt! Tus nicht! Mit fünfundfünfzig Jahren

da verknallt sie sich in den Chauffeur.

Scheidung, Krach, Tragödie . . . wir ersparen

ihr und ihm wohl lieber das Malheur.


Ja, was nun? Ich bleibe gern im Ruhstand.

Kriege keine! Laß sie lieber da!

Laß es ruhig bei dem alten Zustand!

Und bleib kinderlos!

Wie dein Papa!


  • · Theobald Tiger
    Die Weltbühne, 16.10.1924, Nr. 42, S. 587.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 3, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 482.
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