Erinnerung

[141] »Leg die Hände an die Hosennaht – wie du es gelernt hast!«

Deutsches Rechtsprechungsorgan

zu einem zwölfjährigen Kinde


Dorfrichter Adam:

»– – – – – – – – –!«

Kleist: ›Der zerbrochene Krug‹


Das ist jetzt gut und gern seine zwei Jahre her, da standen wir, der Herausgeber der ›Weltbühne‹ und ich, vor Gericht. Die Sache lag nicht gut –: wir waren im Unrecht.

In einem Aufsatz über das deutsche Militär hatte ich zwei Namen durcheinandergeworfen und eine Mißhandlung, die nach dem Reichstagsbericht ein Offizier begangen haben sollte, seinem Kommandeur in die Reiterstiefel geschoben. Aus einer Fülle von Zeitungsausschnitten, Broschüren, Heften, Aufzeichnungen, Büchern diese Arbeit diktierend, hatte ich die Namen verwechselt, zweifellos eine Nachlässigkeit begangen – ich war schuldig. Die Presseabteilung der Reichswehr fragte nicht vorher bei der ›Weltbühne‹ an, verlangte auch keine Berichtigung, sondern ergriff mit Freuden die Gelegenheit, die sich bot. Als ich von dem Verfahren erfuhr, tat ich folgendes:

Ich veröffentlichte eine Berichtigung; ich schickte diese Berichtigung an den zu Unrecht beleidigten Obersten und entschuldigte mich bei ihm; ich sandte die Berichtigung und eine Kopie des Entschuldigungsbriefes an die Reichswehr. Der Oberst antwortete nicht, die Reichswehr nahm die Klage nicht zurück, und ich war das letzte Mal loyal zu den Preußen gewesen.

Als wir nach Moabit hinausfuhren, waren wir auf unsre Verurteilung[141] gefaßt. Wir dachten uns: Der Richter wird uns anhören, die Berichtigung zur Kenntnis nehmen, den vorgeladenen Obersten vernehmen, feststellen, daß hier ein Irrtum vorgekommen, und uns dennoch die Verantwortung aufbürden. Hier war eine Fahrlässigkeit geschehen – ich hatte den Nacken hinzuhalten.


Vor der Tür des Verhandlungszimmers stand der Gerichtsdiener. Er sah nach der Uhr, es war fünf Minuten vor Beginn unserer Sache. »Ihr Anwalt noch nich da?« fragte er uns. Nein, der war noch nicht da. »Na, is ejal!« sagte der Engel des Gerichts. »Der kann Ihnen ooch nich helfen!« Der Mann war Kummer und Elend gewöhnt, er mußte seine Pappenheimer kennen. Er kannte sie.

Aufruf, Eintritt, Anklagebank.

Auf dem Platz des Vorsitzenden saß ein Greis, mit unangenehm grünlichen Augen, die Hände fielen mir auf, weiche, mißgestaltete, kellerkartoffelweiße Greisenfinger. Wir kramten in unsern Papieren, die wir mitgebracht hatten, der Anwalt war inzwischen erschienen. Im Zuhörerraum saß mein Leibspitzel: fürchterlich, wie immer, anzusehen, in Räuberzivil, mit einer außeretatsmäßigen Dame. Der Anklagebeschluß wurde verlesen.

Der Vorsitzende Greis hob das Haupt. »Sie sind also . . . « Er stellte die Personalfragen, wir antworteten. Dann begann das Verhör.

Nein, es begann gar nicht. Dieser Richter redete ohne Aufhören anderthalb Stunden. Ich hatte so etwas noch nie in Moabit gesehen: ich kannte den ironischen Richter, den bösen Richter, den gleichgültigen Richter (dieser kam am häufigsten vor), den gereizten Richter, den ritterlichen Richter (dieser am seltensten) – hier war der redende Richter. Er redete, redete und redete. Zu Beginn seiner Rede, die abwechselnd ein Plädoyer, ein politischer Leitartikel und ein Monolog war, rügte er die Handhaltung des Herausgebers. Der hatte, weil er seit einer Scharlacherkrankung in der Kindheit auf einem Ohr schwerhörig ist, und weil der alte Mann nicht sehr deutlich sprach, die Hand am Ohr. Das schien durch die Strafprozeßordnung verboten. Er verbot es. Hierauf ließ er uns vor die Anklagebank treten – als ob es eine Schande wäre, auf einer deutschen Anklagebank zu erscheinen! – und rügte nun der Reihe nach: Blickrichtung, Gesichtsausdruck und, am schärfsten, daß ich hier und da Stichworte seiner Riesenrede notierte. Ich: »In einem Presseprozeß wird es sich wohl nicht ganz vermeiden lassen, Notizen zu machen.« Er: »Ich weiß, was Sie damit sagen wollen. Dies ist aber kein Presseprozeß – dies ist ein ganz gewöhnlicher Beleidigungsprozeß!« Es war weder das eine noch das andre, sondern ein Strafprozeß. Nein es war kein Strafprozeß. Es war eine Richterrede.

Es war ganz klar, worauf der Mann hinauswollte: auf eine Ordnungsstrafe. Durch unsere Unempfindlichkeit gereizt, provozierte er[142] unaufhörlich, ohne Ermatten, stichelte, schlug, kritisierte, nadelte mit mäßig stilisierten Bosheiten. Hätte da ein Proletarier gestanden, mürbe gemacht durch Untersuchungshaft, hätte da einer gestanden, der den Rummel nicht kannte –: er hätte sich sicherlich zu irgendeiner guten und treffenden Bemerkung hinreißen lassen. Das wäre eine Freude gewesen . . . ! Wir konnten dem Mann diese Freude leider nicht machen.

Der Vor- und Nachredner ließ nun den inkriminierten Artikel von mir vor Gericht verlesen. Das ist immer ein ganz besonderer Spaß. Ich habe schon viele Artikel von mir vor Gericht verlesen hören: immer bewunderte ich bei den Rezitatoren den Schmelz der Diktion, den vollendeten Stumpfsinn, mit dem sie über wichtige und unwichtige Stellen stolperten und vor allem den stets erneuten Anlauf, den sie vor einem Fremdwort nahmen. Die Augen kugeln langsam aus dem Kopf: was wär denn jetzt dös? hö – ruck! »Die . . . die psich . . . psich . . . Psichanaliese . . . « – da wären wir glücklich drüber weg. So auch dieses Mal.

Als der Protokollbarde geendet hatte, holte der Vorsitzende tief Atem und begann. Er sagte einen Artikel auf, der ungefähr dreimal so lang war wie der, den wir soeben gehört hatten, einen Artikel, der deutlich kundtat, daß der Mann auf den ›Berliner Lokalanzeiger‹ abonniert war, und daß die Zeitung ihre Leser nicht überschätzen soll. Er sprach und sprach und sprach. Ich habe längst wieder vergessen, was er uns alles erzählte – behalten habe ich nur noch: daß wir nicht berechtigt wären, über so große Männer wie Ludendorff zu urteilen, das werde in hundert Jahren die Geschichte für uns tun, wir stünden den Ereignissen viel zu nahe, um über sie aussagen zu können. (Ich beschloß, fortan nur noch Artikel über die viehischen Roheiten der Hexenrichter zu verfassen.) Und er redete und redete. Der Herausgeber sah mich an, ich sah den Herausgeber an, unsre Augen wurden vom Nichtzuhören trübe, er redete und redete.

Einmal horchte ich auf. Da kam etwas von einer Berichtigung vor, die wir ja allerdings veröffentlicht hätten – aber die zähle nicht. Der Anwalt wollte etwas sagen, es gelang ihm nicht. Einer der Beisitzer wagte eine schüchterne Frage, gleich verschlang sie der Redestrom des unermüdlichen Greises. Nur einer schwieg fast völlig: das war der Staatanwalt, der still und bescheiden alte Akten aufarbeitete. Er wußte: Hier brauche ich nichts zu sagen, nichts Belastendes und nichts Angreifendes – dafür habe ich meinen Vorsitzenden. Der arbeitete in der Tat für drei: für sich und für zwei Staatsanwälte.

Ich habe für diese Art Amtshandlungen ein schlechtes Gedächtnis. Gott weiß, wie die Sache ausging – kurz: wir wurden vertagt. Vorher war der Oberst erschienen, der Vorsitzende war von öliger Höflichkeit, er sprich noch sechs bis acht Druckseiten, dann schloß er die Verhandlung.

Als wir in der Anklagebank unsre Mäntel zusammensuchten, fragte[143] mich der Herausgeber leise nach einer Korrektur, die für die nächste Nummer noch ausstand. Der Greis rief herüber: »Ich hoffe, da wird nichts über mich gesprochen!« Wir sahen ihn nicht einmal an.

An dem Vormittag muß er sich einen Wolf geredet haben.


Wenn man in Deutschland etwas gegen die Justiz sagt, kommt gewöhnlich ein Hörer oder ein Leser und spricht: »Jawoll. Das ist ganz richtig. Da habe ich zum Beispiel einen Prozeß um die Erbschaft meiner Tante, und da ham sie mir doch . . . « Persönliche Klagen haben meist etwas Verdächtiges.

Aber dieses ist keine persönliche Klage. In der Sache selbst fühlten wir uns schuldig, vor allem ich fühlte mich schuldig, doppelt: weil ich einen unschuldigen Mann beschimpft hatte, und weil ich dem Herausgeber Geld und – was für ihn viel schlimmer ist – Zeit gekostet hatte. Er hat es mir nie vorgeworfen. Nein, zur Sache habe ich nichts zu bemerken.

Aber alles zur Person.

So etwas richtet nun vielleicht schon seit dreißig Jahren – so wehrlos werden die Angeklagten gemacht, die gar nicht dazu kommen, sich überhaupt zu besinnen, wozu sie eigentlich an Gerichtsstelle erschienen sind. Während die Hauptverhandlung ja grade dazu dienen soll, den Sachverhalt erst aufzuklären, dem Angeklagten Gelegenheit zur Äußerung und Rechtfertigung zu geben – war hier alles fix und fertig. Welch umständliches Verfahren! Wieder fiel mir das von mir so oft vorgeschlagene Postkartensystem ein. Die Kammer schreibt dem Angeklagten eine Postkarte, ungefähr folgenden Inhalts:

»Sehr geehrter Herr, wir haben Sie heute wegen Diebstahls zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Hochachtend Die Strafkammer.« Da weiß man doch. Der andre Modus lohnt kaum das Fahrgeld.

Nachdem wir aber dies erlebt haben, zum so und so vielten Mal erlebt haben, nachdem wir Jahre und Jahre hindurch die soi-disant Verhandlungen in Moabit mitangesehen haben, Verhandlungen, in denen kaum ein Unschuldiger verurteilt wurde, aber Hunderttausende von Schuldigen zu hart, falsch, unter verkehrten Begründungen, unter Zugrundelegung von Sittengesetzen, die es nur in einer bestimmten Klasse gibt, und auch da nur sonntags – nachdem wir Hunderte von Fehlurteilen in politischen Strafprozessen miterlebt haben, und während wir vor unserm geistigen Auge sehen, wie diese Zeilen von einem jungen Staatsanwaltschaftsvertreter gelesen werden mit geputztem Monokel und äußerster Anspannung der Geisteskräfte, müssen wir doch sagen –:

Diese deutsche Justiz scheint uns nicht ganz die richtige zu sein.


  • [144] · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 16.06.1925, Nr. 24, S. 889.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 141-145.
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