Ein deutscher Reichswehrminister

[136] Mer wollen keenen Berjerkrieg,

mer sinn ja alle eenig.

Bei uns, da heests: Tod oder Sieg!

Mer schweeren vor de Rebublieg

Un unsern guden Geenij –!

Leipziger Barrikadenlied 1849


Der deutsche Kriegsminister Geßler hat im Reichstag eine Rede für seinen Etat gehalten, die nach den Zeitungsmeldungen demokratischer Blätter »den allergrößten Eindruck« auf die Parteien gemacht hat.

Wer das Listenwahlsystem kennt, weiß, daß dazu nicht viel gehört. Es ist aber immerhin lehrreich, einmal zu betrachten, wer heute, nach diesen Erfahrungen der letzten zehn Jahre, Eindruck auf ein deutsches Parlament macht und womit er das macht.

»Die von mehreren Rednern beanstandete Fülle der Chargen führte der Minister auch auf den ganzen Aufbau des heutigen deutschen Heeres zurück.« Um grade diesen Aufbau handelt sichs. In der[136] Reichswehr entfällt auf je 21 Mann ein Vorgesetzter mit Offiziersqualifikation, sie ähnelt also in dieser Beziehung gewissen Negerarmeen in Liberia und Haiti, wo ein vielköpfiges Offizierkorps auf dem Soldaten herumregiert. Es gibt keine Armee der Welt, die ernsthaft einen solchen Aufbau verteidigen kann. Der deutsche Kriegsminister kann das auch nicht. Diese Offiziere dienen einem ganz bestimmten Zweck.

»Es handelt sich um rein soziale und kulturelle Dinge.« Eine Armee hat mit kulturellen Dingen überhaupt nichts zu tun. Sie ist – im besten Fall – ein notwendiges Übel und eine üble Notwendigkeit; keinesfalls ist der Kriegsminister irgend eines Landes berufen, den Zivilisten Mannestugenden, Kultur oder Ethik zu predigen.

»Das Wort, daß nur ein Verrückter in dieser Zeit an Krieg denken könne, sei von ihm geprägt worden. Auch der gegenwärtige Reichspräsident, der doch ein militärischer Fachmann sei, hat erklärt, daß Deutschland an einen Krieg gar nicht denken könne. Unter diesen Umständen sei Deutschland gern bereit, internationalen Sicherheitsvereinbarungen . . . « ›Unter diesen Umständen‹ enthüllt die ganze Zartheit eines Mannesherzens. Wir können leider die andern nicht totschlagen, könnten wirs, täten wirs; unter diesen (traurigen) Umständen aber sind wir gern bereit . . . Daß er die Mehrzahl seiner Landsleute als ›Verrückte‹ bezeichnet, ist nicht hübsch von ihm. Natürlich haben alle Angehörigen der vaterländischen Verbände an Krieg gedacht, ihre Geldgeber, die Freunde, Anhänger, Offiziersbräute. Und wie steht es mit dem, der an Rüstung zu künftigen Kriegen denkt? Kein Verrückter wahrscheinlich: ein Patriot. Seit dem Jahre 1915 entschuldigen sich deutsche Minister, wenns nicht gut geht, gern mit Hindenburg – auch dieser. Mit dessen Fachmannschaft ist es so eine Sache . . . Maximilian Harden hat hier neulich unangreifbares Material darüber beigebracht. Immerhin: einen geschlagenen General, und wie geschlagen! als Fachmann beizubringen und damit auch noch Erfolg zu haben –: man muß wohl an die Spree fahren, um das zu erleben.

»Der Reichswehrminister hat mit der Reichswehr dafür zu sorgen, daß Deutschland nicht zum Kampfplatz oder zur Etappe fremder Heere werde.« (Beifall.) Das kann der Reichswehrminister gar nicht. Ob Deutschland einmal der Kampfplatz fremder Heere wird oder nicht, hängt in erster Reihe von seiner Politik ab. Besonders in einem Zukunftskrieg, der ganz anders aussehen wird, als man diesem ›Fachmann‹ da zu erzählen für gut befunden hat.

Das Gerede von »geheimen deutschen Rüstungen ist lächerlich. Ein Volk, wie Deutschland, das einerseits viel zu arm ist, dessen Bewohner andertseits das Herz auf der Zunge tragen, ist für heimliche Rüstungen nicht geeignet.« Und da steht niemand auf und hält diesem mittleren Verwaltungsbeamten vor, wie gerüstet worden ist, wer gerüstet hat und[137] mit wessen Unterstützung das vor sich gegangen ist – niemand. Das Gerede vom Deutschland, das zu arm ist, ist lächerlich. Ein Land, das die schlechtesten Arbeitslöhne Mitteleuropas zahlt, dessen Finanzsanierung nur mit einem der allerübelsten Bankrotte ermöglicht worden ist, ein Land, dessen Industrie Milliarden von der Regierung und von einer gänzlich ruinierten Konsumentenschicht geschluckt hat, ist ungesund, schlecht ausbalanciert – aber nicht arm. Tragen die biedern Deutschen das Herz auf der Zunge? Vielleicht die Unzähligen, Verärgerten, Bezahlten, die Patrioten, die am Potsdamer Platz zu Berlin in das Hotel Bellevue zu den französischen Kommissionen kamen, die sich vor Denunziationen nicht zu retten wußten . . . Das mag sein. Nein, das Land ist für ›geheime‹ Rüstungen wirklich nicht geeignet. Aber es hat gerüstet. Und es wird weiter rüsten.

»Wir sind dazu gekommen, Zeitfreiwillige einzustellen, wegen der Unruhen, die damals in Thüringen und Sachsen ausgebrochen waren.« Herr Geßler, in dessen Verwaltungszeit Hans Paasche ermordet worden ist, braucht nicht zu wissen, wer in Sachsen und Thüringen den öffentlichen Frieden in der schlimmsten Weise gestört hat, wie und von wem da gehaust worden ist. Und schließlich gibt ihm die Nachgiebigkeit seiner Landsleute recht, die sich die Versetzung des Offiziers nach Weimar gefallen lassen, der den charakterlosesten politischen Fehler Fritz Eberts exekutieren half.

»Ich verweise in dieser Beziehung auf eine Schrift eines schweizerischen Generalstabsoffiziers, der alle auf ganz kurze Dienstzeit eingestellte Soldaten für militärisch wertlos erklärt.« Dann hat dieser Offizier den Weltkrieg verschlafen.

»Ich bin auch gar nicht gegen einen gesunden Pazifismus.« Es ist ziemlich gleichgültig, wogegen Herr Geßler ist und was er unter einem gesunden Pazifismus versteht. Wahrscheinlich einen solchen, der ebenbürtig dem Sozialismus dieser Sozialdemokraten, dem Republikanismus dieser Republikaner ist: wenns zum Klappen kommt, wird nachgegeben.

»Deutschland ist friedlich, braucht aber deshalb nicht defaitistisch zu sein.« Deutschland ist nicht friedlich, sondern vom ersten bis zum vorletzten Mann streng imperialistisch; die Hervorholung der dümmsten französischen Vokabel, von allen verständigen Franzosen heute verlacht, zeigt diesen echt teutschen Mann im eigenen Lichte.

»Die größte Heeresvorlage, die je einem Volk zugemutet worden ist, ist diejenige, die Herriot dem französischen Volke angesonnen hat.« Welch freundliche Besorgnis um den Steuerzahler aus Lyon! Aber die Franzosen, deren tiefe Friedlichkeit grade in allen mittleren und unteren Schichten einer, der kaum über Nürnberg und Berlin herausgekommen ist, nicht kennt, die Franzosen haben Angst! Man hat sie angegriffen – und sie haben den Krieg im Lande gehabt; sie kennen den Krieg. Der da kennt ihn nicht.

[138] »Er kommt auf eine Broschüre der Liga für Menschenrechte zu sprechen und erklärt, daß sie sehr schädlich für Deutschland sei, daß er aber in ihr keinen Landesverrat sehe.« Glück muß der Mensch haben. Und dann diese uralte, ausgeleierte Walze: »Das Verhängnisvolle sei, daß das in der Broschüre niedergelegte Material von der uns feindlichen Propaganda aufgegriffen werde und uns unendlichen Schaden bringe.«

Auf den Gedanken, daß sie wahr sein könne, kommt der Mann gar nicht. Es gibt doch nur zwei Möglichkeiten: entweder die Verfasser der Broschüre haben die Unwahrheit gesagt – dann soll man es ihnen nachweisen oder aber: der Inhalt ist wahr. Dann muß dieser Inhalt gesagt und veröffentlicht werden, auch dann, wenn er von irgendwelchen andern Imperialisten aufgegriffen werden kann. Daß ein Beamter nominell an der Spitze der Reichswehr steht, der das nicht versteht, der noch nicht eingesehen hat, daß dieses lächerliche Spiel der Geheimnistuerei eine Sache von vorvorgestern ist, beweist, daß Deutschland nichts gelernt hat.

»Auch den Vorwurf, daß die Reichswehr intime Beziehungen zu den sogenannten vaterländischen rechtsradikalen Verbänden unterhalte, wies der Minister zurück. Er erinnerte an den Fall Zeigner.« Wir erinnern an den Fall Stahlhelm, Werwolf, an hundert andere, in deren Tätigkeitsberichten das Wort »Reichswehr« immer wieder auftaucht. Intime Beziehungen? Aber sie haben ja längst Kinder.

»Man wirft mir vor, ich hätte zu viel monarchisch gesinnte Offiziere im Heer. Womit soll ich denn das Heer aufbauen?« Mit Republikanern, wenn denn schon aufgebaut werden muß. Die gabs nicht? Aber ihr hattet ja die Gewerkschaften, die sich im Jahre 1918, als die Sozialdemokratie ihren großen weltgeschichtlichen Augenblick verschlief und unentwegt wie hypnotisiert nach links stierte, der Republik Mann für Mann zur Verfügung gestellt hätten. Dann wäre eben euer Heer nicht militaristisch, sondern modern geworden. Weiß dieser Minister nicht, womit die Franzosen den Krieg gewonnen haben? Mit Foch? Nein: mit dem gesunden Menschenverstand der Zivilisten – gegen die Militärs.

»Ihr Mißtrauen nehme ich nicht sehr tragisch. Ich trage als Wehrminister das Los Trotzkis gern mit.« Daß ein deutscher Minister ein Mißtrauensvotum des Parlaments tragisch nehmen sollte, wäre auch übertrieben. Aber welch ein geistiges Niveau! Was weiß der ehemalige Oberbürgermeister von Trotzki, von russischen Verhältnissen, wie kann sich dieser Untergebene Seeckts mit einem Kopf und einer Persönlichkeit messen?!

»Die Republikaner müssen dafür sorgen, daß ihre Staatsform Gemütswerte erhält, wie sie die Monarchie unbestritten in sehr großem Ausmaße gehabt hat.«

Bis hierher war die Sache leicht komisch. Dies aber geht zu weit.

Weil sich in Deutschland kein demokratisches Blatt finden wird, das[139] den Mut und die Überzeugungstreue hat, dem Minister zu erwidern, weil die Sozialdemokraten vor lauter Taktik keinen Schritt gehen können, nachgeben, wo sie etwas erreichen könnten, Gemeinplätze schreien, wo es sich nicht lohnt, von Niederlage zu Niederlage taumeln, und es nicht einmal merken, weil ein Teil der Pazifistenführer ihnen in diesem edeln Beispiel folgen, hochbeglückt, wenn sie in Frankreich reden dürfen, während sie doch in Deutschland zu schweigen haben – deshalb mag hier gesagt werden:

Die deutsche Monarchie war schließlich unbestritten das am tiefsten stehende und seelenloseste Gebilde Europas. Seine Gemütswerte waren die Leierkastentöne eines besoffenen Feldwebels, der belgische Frauen gequält und abends das ›Elterngrab‹ gegrölt hat. Diese Gemütswerte waren in einem Ausmaß vorhanden, die etwa dem Umfang des kaiserlichen Mundwerks entsprachen, und sie und nur sie haben den besten Teil der deutschen Seele in Grund und Boden ruiniert. Es gibt keine Brücke – es gibt nur ein: Entweder-Oder.

Die Reichswehr hat Traditionskompanien, und sie hat einen Traditionsminister, damit eine Tradition nicht verloren geht, deren Unwert erwiesen ist. Davon weiß Herr Geßler nichts und kann nichts davon wissen. Eingeschlossen von Generalstabsjesuiten, deren höchste geistige Blüte die ›Pflaume‹ ist (so heißt das berliner Jargonwort für eine unfaßbare spottende Ungezogenheit), völlig infiziert von einer soi-disant Geistigkeit, die die letzte Klugheit in der Falschheit sieht – so hat jüngst jemand Herrn Geßler als Lob angekreidet, daß er auf die arglose Frage: »Wie denken Sie darüber, Herr Minister?« geantwortet habe: »Das wollte ich Sie gerade fragen –« eingefangen von einem Gesellschaftsbetrieb, dessen korrekten Stumpfsinn man kennen muß, um seine ganze Tiefe zu ermessen, ist dieser Mann nicht legitimiert, der deutschen Entwicklung die Wege zu weisen. Der nicht.

Vielleicht sieht er sich in seinen nächsten Ferien einmal in Frankreich um. Da wird er sehen, wie dieses durch und durch geistige Volk seine Offiziere grade noch gelten läßt, mit einem ganz leisen Anflug von Verachtung, »parce que ces gens-là ne sont pas très instruits!« Herr Geßler wird sichs übersetzen können, ob ers verstehen wird, ist eine andere Frage.

Die Sozialdemokraten haben Herrn Geßler das Gehalt verweigert. Sie haben gleich hinzugefügt: »Wir bewilligen aber den Etat der Reichswehr, um damit erkennen zu geben, daß wir sie für nötig halten und damit es im Ausland kein Mißverständnis gibt.« Keine Sorgen: es wird kein Mißverständnis geben. Die kindische Angst der sozialdemokratischen Führer, ja nicht etwa den Gegnern unliebsam aufzufallen, die kleinbürgerliche Sucht, es den aus Romanen und Salons angestaunten ›Diplomaten‹ gleich zu tun, ölig zu reden wie ein Attaché und unverbindliches Zeug zu schwätzen wie ein Gesandter und so die Auftraggeber[140] der Wahl zu betrügen – das sichert dieser Reichswehr den Bestand. Von dieser Seite her droht keine Gefahr. In Deutschland halten sich die einen für Realpolitiker, und die andern leben von diesem Irrtum. Herr Geßler auch.

An ihn habe ich mich hier nicht gewandt. Weil ich aber weiß, daß diese Zeilen im Ausland gelesen werden, so habe ich es für meine Pflicht gehalten, darzutun, daß es auch andere Deutsche gibt, als solche mit den Gemütswerten.

Der Pressestelle der Reichswehr aber empfehle ich, nunmehr den üblichen Prozeß in die Wege zu leiten. Ein System, das auf der Lüge aufgebaut ist, hat einen neuen Namen für die Wahrheit erfunden: Landesverrat.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Menschheit, 05.06.1925, Nr. 24, S. 161.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 136-141.
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