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[10] In Aix auf der Chaussee schien die Sonne. Der kleine Taschenkalender zeigte auf Winter, aber das Land lag in dem hellen Licht eines Vorfrühlingstages – reingefegt die Wege, strahlende Wärme, die meisten Bäume kahl, aber mit einem hellen, grünlichen Schimmer um die Spitzen. Der Himmel war weißlich-blau, es spritzte nur so von Licht.
Die Provence ist keine französische Provinz wie die anderen. Der Boden scheint nicht aus Erde gefügt; es wunderte einen nicht, wenn[10] er plötzlich zu atmen anhübe wie ein unendlicher Leib. Das Land blüht einem entgegen, willig und weich streckt es sich gegen den Himmel. Große Wälder sind selten; aber überall sind kleine Büsche und Baumgruppen aufgebaut, mitunter auch ist eine ganze Strecke Landes bewaldet weich, abgerundet, fast immer wie ein verwilderter Park. Hell strahlte die Sonne, im November. Nichts von November.
Ein paar Stunden nach Osten, in Nimes, ist tiefer grauer Herbst. Das ist nun schon nicht mehr die Provence. Die Wolken liegen ganz tief auf der Stadt, ein schneidender Regenwind heult um die Ecken. Und als die Sonne wieder hervorkommt, beleuchtet sie einen bunten, fröhlichen Herbsttag, klar, kräftig, mit frischem Hauch bis tief in die Lungen erfrischend. Die alte römische Arena bleibt liegen, wo sie liegt, auch die alte Pforte des Augustus – heute ist Mittelalter. Haben Sie einmal die zahllosen kleinen Bilderchen von Doré zu Balzacs ›Contes Drolatiques‹ gesehen? Diese Hunderte von kleinen Holzschnittchen, auf denen würdige Äbte ihren Bauch durch die Landschaft schieben und die stolzen Ritterfräulein mit den hohen spitzen Hüten aussehen wie die Medizinflaschen mit weißen Rezepten dran? Wo die kleinen Ritter zu Tausenden einen steilen Abhang herunterkegeln und ein anonymes Schwert, aus einer Mauer herausschlagend, den getreuen Knappen in zwei bis drei Teile zerspaltet? Auf denen sind fast immer Burgen zu sehen, Burgen mit Zinnen, einer Zugbrücke und dicken, bauchigen Festungstürmen, geradezu gemütlichen Befestigungen . . . So ein Mittelalter war das.
Und so ein Mittelalter steht noch heute.
Aigues-Mortes, eine ganz kleine Stadt, die zwischen Nimes und dem Meer liegt, hat ihre Stadtmauer und alle Befestigungen wohl erhalten. Gewiß hat die Dekoration heute jeden Sinn verloren; denn drin liegt nichts anderes als draußen – aber unmittelbar vor der Mauer ist doch ein freier Raum, auf einer Seite sogar offnes Feld – und so entsteht denn die Fiktion, man habe es hier wirklich noch mit einer mauerbehüteten Stadt zu tun. (So, in dieser Form: Mauern, Zugbrücke und tiefer Graben – so denken heute noch viele Staatsmänner.) Die Festungstürme sind ganz dick, es gibt sechzehn Stück, mit richtigen Zinnen und Kugelspuren und allem Komfort. Die Mauern haben einen Durchmesser von drei Metern und gehen um die ganze Stadt, insgesamt fast zwei Kilometer; auf ihnen bin ich herumgegangen und habe auf das graue, schwach rötliche Dachgewirr der alten Häuser gesehen. Überal sind Pechnasen angebracht, diese alten Vertiefungen, von denen man Pech und geschmolzenes Blei und Steine und was man sonst noch so auf Fremde wirft, herunterstürzen konnte . . . Hier und da in einer verschwiegenen Ecke auch etwas, was man früher ›Privé‹ nannte. Vor den Mauern liegt, aber geschützt zu erreichen, der dicke Turm, die Tour de Constance, so genannt nach einer historischen Constanza. Er ist[11] beinahe siebenhundert Jahre alt und scheint mit jedem Jahr dicker geworden zu sein – seine Mauern sind sechs Meter stark. Sie sind so dick, daß man unten, im Wachraum, die Fensteröffnungen, die in den Mauern liegen, zu Zellen ausgebaut hat. In diesen Zellen saßen Gefangene. Denn der Turm war einmal Staatsgefängnis, und er hat viele Hugenotten in seinen Mauern leiden sehen. Und auf einer Wand im Saal eines der oberen Stockwerke haben die Protestanten ihre Namen geschrieben, alle mit einem W – das bezeichnete zwei verschlungene V und hieß: Vae victis! Und auf einem Stein ist noch in dünner Schrift zu lesen: ›résister‹ . . .
Und einmal sind siebzehn Mann entwichen; Tag für Tag haben sie Steine gelockert und weggeschlagen, und während die einen das taten, sangen die anderen mit lauter Stimme Choräle, damit die Wachen nichts hörten . . . Und ein tiefer Keller ist da, in dem man Frauen sterben ließ – es ist alles wie bei Doré – nur wahr.
Durch den goldenen Herbsttag gehe ich ans Meer. Man muß zwei Stunden durch die Ebene gehen, am Kanal du Midi entlang, und blickt man hinter sich, so zeichnet sich die kräftige Silhouette der alten Festung am Himmel ab, wie damals. Aber man muß den Eisenbahndamm wegdenken.
Und in Avignon ist noch Herbst, in Avignon, wo die Päpste hausten, als sie Rom nicht gefielen und Rom ihnen nicht. Und wo sich Konkurrenzpäpste auftaten und einmal drei gegeneinander regierten. Die Stadt hat eine Dependance: das ist Villeneuve les Avignon – längs der Rhône liegen hüben und drüben diese alten Schlösser und gehören so dazu und schämen sich so gar nicht, altmodisch zu sein, als seien sie gestern gebaut. Man hat mit Maßen restauriert; ganz können das ja die Architekten nicht lassen, und wenn sie – wie das manchmal zu sehen ist – ›wiederherstellen‹, dann wird einem himmelangst und man denkt an den Bodo Ebhardt, der auftragsgemäß das Königlich Preußische Mittelalter wieder hervorzuzaubern hatte. Ganz so schlimm ist es hier nun nicht, und wenn man davon absieht, daß ebenso nötige wie blecherne kleine Anstalten so häufig den Aspekt ganzer großer Gebäude ruinieren (Achtung, Setzer!) – dann präsentiert sich das Land im Süden Frankreichs doch mit einer Fülle von gut erhaltenen und gepflegten Baudenkmälern.
Das Palais der Päpste in Avignon ist so eines. Jahrhunderte wurde daran herumgebaut, abgerissen, wieder aufgerichtet, gebrannt, eingerissen und zusammengekittet – das Ganze steht wie ein Trutzstein in der Stadt. Neben dem Palais eine Kirche, mit einer goldenen Mutter Gottes auf der Spitze, die segnend und schützend die Hände über ihr Haus breitet. Aber hinten, auf ihrem Rücken, läuft der eiserne Draht eines Blitzableiters. Sicherheitshalber.
Herbst ist in Avignon, es saust in den Bäumen, und wenn man die[12] beiden großen Rhônebrücken passiert, so wird man fast in den strudelnden Fluß geweht, der rasch dahinfließt. Der Tag leuchtet, viele Bäume haben ihr stumpfes Grün aus dem Sommer behalten, viele haben flammendes Gelb und Hellbraun und betonen die Bläue des Himmels. Und wenn das blendende Licht um alle Konturen zittert, fühlt man: Wie schön mag dieses Land erst im Sommer sein! Welche Weichheit, welche Zärtlichkeit der Farben, welche Lieblichkeit! Man kann in der Provence die Kunstdenkmäler systematisch untersuchen, auf Stilreinheit, Baualter und Grundriß; man kann den Olivenhandel statistisch und tabellarisch darstellen, daß es nur so saust von Zahlen – man kann aber auch in diesem wunderschönen Lande spazieren gehen.
Abschied vom Frühling und Abschied vom Herbst. Der Zug fährt durch blaues Grau, dann durch Nacht. Der große Bahnhof taucht auf, mit einer leuchtenden Turmuhr. Ein rötlicher Glanzkreis schimmert um die elektrischen Lampen, die Reisenden nehmen den Raglan fester um – es ist kalt.
Ich sehe noch einmal die Strecke zurück, auf der ich gekommen bin, dankbar und glücklich. In den Augen ist noch der Schimmer des Lichts, in den Gliedern noch die Erinnerung an Glanz und Wärme. Zwischen Paris und Nizza liegt mehr Schönheit, als eure Amüsierweisheit sich träumen läßt! Noch einen Gruß in Gedanken . . . Da rufen die Zeitungshändler, da rollen die Taxis, da flirrt das Licht der Métrostationen, da liegt – winterlich, in den bunten Abendlichtern – Paris.
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