Wie altern die –?

[288] Wie die heutige Generation in der Karikatur aussieht, wissen wir von den harten Spiegelbildern von Grosz bis Sternheim, und leider gibt es noch keinen deutschen Sittenroman wie den amerikanischen ›Babbitt‹[288] von Sinclair Lewis. Wie sie ist, wäre also nicht ganz unbekannt. Aber wie wird sie sein –?

Großpapa mit dem Bart, in dem die Vöglein nisten, Großpapa, dess' Knie die Enkelkinder treu umspielen, Großmama mit der Haube, das gute alte Paar – das wird im Kino rührend dargestellt. Die lieben betagten Leute kommen in allen Filmen wild vor – in Staaken und Tempelhof, in Weißensee und Babelsberg. Nur im Leben sind sie immer seltener und seltener anzutreffen.

Ich will von der Generation, die den Krieg durchspekuliert hat, alles gern glauben – aber daß sie idyllisch altern wird, das geht mir nicht ein. Man lasse Revue passieren:

Kalte Geschäfte und heiße Geschäfte; gesteigerter Eigentumssinn; Angst vor Revolution und erleichtertes Aufatmen; wüste Jahre der Inflation; starkes Gefühl für die Macht des Geldes: die Welt ein Schaufenster; Hetzjagd und keine Zeit, keine Zeit, Liebe in Eile, Erholung in Eile, Bildung in Eile; Krachs, Bekanntschaften an Stelle von Freunde?; die Großstadt, nicht Amerika und schon nicht mehr Berlin – ewiges Treiben.

Frauen aus einer bestimmten Schublade (ja nicht: die Frau – aber viele Frauen):

Snobismus der Mode und bösartiger Klatsch; Medisance bis zur Tödlichkeit; wenig Kinder; Erotik des Kostümballs; Versachlichung gewisser Beziehungen; Lärm; Eile; Telefon; ein Heim wie eine Menschensdiachtel.

Wie altern die –?

Denn eines Tages wird es doch aus sein: vorbei mit den tobenden Geschäften – vorbei mit den erregten Diskussionen am Schalterfenster der Bank; vorbei mit Konferenzen und Börsentrubel – auch Sanatorien sind ein angemessener Aufenthalt. »Papa wird alt.« Was nun –?

Denn eines Tages wird es doch aus sein: vorbei mit den flirrenden Ballabenden – vorbei mit den Blicken aus dem Augenwinkel, die auf einmal so farblos geworden sind – vorbei mit heimlichen Nachmittagsausgängen und sehr späten Nächten . . . »Mama wird alt.« Was nun –?

Zunächst werden sie es herausschieben – bis zur letzten Unmöglichkeit. Alte Herren mit den Sakkos, die noch stramm auf Taille sitzen, mit dem Strohhütchen, mit den Einsatzstiefeln – ja, aber es ist nicht mehr das Alte, erst wirken sie lächerlich, und dann kommt eines Tages der Augenblick, da glauben sie es sich selbst nicht mehr – und dann ist es aus.

In Paris, sagen die Damen, fängt die Frau mit vierzig Jahren erst an – was ist denn das, ein junges Mädchen! Das ist überhaupt nichts. Wir sind die Erfahrung, das Wissen, die Routine und die Männerkenntnis! Aber da kommt dann etwas, das ist stärker als Schminke und die Friseurin und die Maniküre – stärker als sie alle zusammen. Und dann ist es aus.

[289] Ich glaube: diese Generation liefert keine gütigen alten Leute. Resignieren? Sie und resignieren? Sanft im Alter verdämmern –? Nein, dann schon lieber ein kurzes, schmerzloses Ende – nur das nicht, nur nicht untätig in der Ecke sitzen! Mein Gott, nicht mehr herumwirtschaften können! Unmöglich.

Die Aktivität im großen ist dahin, aber noch gibt es ja einen Ersatz – für viele.

Was das Geschäft nicht mehr hergibt, was die Erotik nicht mehr gibt: Aufregung, Enttäuschung, Niederlage und Sieg; Bekräftigung des Lebensgefühls und Rauschen in den Adern, Krampf und Kampf und Erlösung, so oder so –: das ist für viele alte Leute die Familie.

In diesem Mikrokosmos kann man sich noch einmal ohne große körperliche Anstrengung austoben, kann kämpfen, siegen, unterliegen, wieder ansetzen, sich hochrappeln, drohen, am Leben sein – noch bin ich vorhanden, meine Herrschaften! Viel Vergnügen.

Aber die Familienbande – nach Karl Kraus eines der tiefsten Worte der Sprache – sind gelockert, die Sippe ist auseinandergefallen, die Zusammenhänge sind dünn geworden, schlaff . . . »Hast du eigentlich die Adresse von Tante Anna?« – Man muß sich auf Tante Anna erst besinnen – und dieses Königreich für die alten Leute schmilzt zusehends zusammen . . .

Wie werden sie altern? – Was werden sie tun, wenn sie nicht mehr ihr Leben führen können, dieses harte, stets ein wenig gehetzte, niemals zur Ruhe kommende Leben –? Ein Mensch kann vor Alter mit dem Kopf wackeln – aber Maschinen -^? Wie werden sie altern –?

Erinnerungen hervorholen? Aber es ist ja lächerlich: es gibt keine Erinnerungen, man hat niemals Zeit gehabt, sie zu befestigen, sollen wir vielleicht alte Haarlocken sammeln, he? In der Ecke sitzen und auf die neue Zeit schimpfen? Das wäre ein Eingeständnis: daß wir nicht mehr dazu gehören. Wir gehören noch dazu. Immer gehören wir dazu.

Es ist unvorstellbar. Wenn nicht die Krankheit des Alters ein tiefes Wort spricht, bleibt es unvorstellbar. Und es wird bitter sein.

Die Härte, mit der die junge Generation über die alte hinweggeht, ist gewachsen – da ist nichts zu verzeihen und zu begreifen – es hat keiner um Erlaubnis gefragt. Jetzt sind sie dran. Aber wie sind sie dran –! Nicht immer hat sanfte Liebe die Alternden umgeben – das ist in den Bilderbüchern so. Doch das verächtliche Achselzucken, mit dem Sohn und Tochter über die Ratschläge des Alten hinweggehen, die eindeutige Handbewegung, mit der er beiseite geschoben wird . . . er darf froh sein, wenn er aufs Altenteil gesetzt wird – denn er kann keine Geschäfte mehr machen. Laß ihn reden – er kann keine Geschäfte mehr machen.

Du bist groß in deiner Güte, lieber Gott. Viele werden alt und wissen es nicht. Viele sind schon so alt – und wissen es nicht. Du[290] umgibst ihre Augen mit einem sanften Schleier, sie schwatzen noch fröhlich mit, nehmen noch an allem Teil, »so läuft ein Rad noch, dessen Antrieb längst gehemmt ist« – wie tragikomisch nehmen sie sich aus! Neulich sah ich einen großen internationalen Klaviervirtuosen – er war altmodisch gealtert: sein Kopf, den er noch vor dem Kriege so hoch getragen, war ihm in die Schultern gesunken, und der Rücken hatte sich gerundet . . . So altert man heute nicht mehr. Sie sind alle kräftig dabei, und wenn sie die alten Signale hören, dann spitzen sie die Ohren, die alten Grauschimmel, und treten noch einmal an . . . Welch eine leise Lächerlichkeit weht durch diese Parade . . .

Bis sie verlöschen werden. »Das möchte ich«, mit Fontane, »das möchte ich noch erleben.« Ich habe keine Phantasie, es mir vorzustellen. Abgehastet werden sie zu ihrer eigenen Beerdigung kommen, nervös, gehetzt, überbeschäftigt. Sie werden kommen – wenn sie Zeit haben.

Aber was wird vorher sein –? Wie werden sie altern –?


  • · Peter Panter
    Vossische Zeitung, 20.12.1925.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 288-291.
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