Harmonika

[310] Drüben am Waldesrand sitzen durchaus keine zwei Dohlen – sondern da spielt ein Mann Schifferklavier. Er spielt es auf dänisch, aber ich höre es auf deutsch. Du Leier asten der Erinnerung!

Die Harmonika, besonders die Mundharmonika, erinnert mich immer an den Krieg. Ihr Geblase hat so etwas Dußlig-Trauriges; der Spieler putzt sich gewissermaßen musikalisch die Zähne und paßt gar nicht auf, was da aus ihnen beiden herausquillt, aus seiner melodischen Zahnbürste und aus ihm. Da spielt er nun so –

Ich sehe das alles wieder vor mir:

Den grauverhängten Himmel, die stille, stumme und tote Landschaft – ein Wald, der den Atem anhielt; eine Wiese, die ausgegangen war und eine kümmerliche Stellvertreterin dort belassen hatte; Wege, die nur mißmutig und getreten Wege waren . . . so sah das aus auf dem östlichen Kriegsschauplatz. ›Das Betreten des Kriegsschauplatzes ist Offizieren streng verboten‹ – aber diese Tafel wollte der Kompaniehandwerker nicht malen, das wäre ja noch schöner.[310] Ja, und durch diese Unlandschaft zog sich das quecksilberne schwere Band des Harmonikagesangs.

So bliesen sie, genau, genau wie der da drüben. Die Töne waren leer, Stumpfsinn war darin, Langeweile und jenes grenzenlose Gefühl: Was sollen wir eigentlich hier? Warum ist das alles? So klagt eine Larve unterm Wagenrad: man hört sie nicht, sie gibt dem fahrenden Wagen nichts Wesentliches hinzu. Nur ihren Tod. Frei? Ein Soldat hatte niemals frei. Wenn grade kein Appell war und kein Sturmangriff und keine Halsbindenrevision und kein Postenschieben und kein Essensempfang und kein Parademarsch, dann döste er so herum und spielte manchmal Mundharmonika. »Wir waren einmal Menschen«, sang der kleine Holzbalken mit dem Metallgebiß, »wir sind es zur Zeit nicht mehr. Tralala – Gestern abend hat es Marmelade gegeben, und heute abend wird es auch wieder Marmelade geben – tralala –.« Die Augen des Spielenden blickten starr und stumpf, wie die eines Tieres, das frißt, oder die eines Mannes, der in fließendes Wasser sieht . . . Diese Augen sahen nichts mehr.

So ein Krieg war das. Aufgebaut auf der Eselsgeduld eines überdrillten Volkes, das längst vergessen hatte, wozu es auf der Welt war, fortgeführt nach dem Gesetz der Trägheit (»Warum soll ich sterben, Herr von Tirpitz?« – »Weil andre gestern gestorben sind, Esel! Marsch!« – »Ia!«), geschoben von Jahr zu Jahr, endlos, sinnlos, leer wie die Musik einer Mundharmonika.

Drüben am Waldesrand . . . Spiel weiter, guter Mann! Man hörts doch immer wieder gern.


  • · Kaspar Hauser
    Die Weltbühne, 13.09.1927, Nr. 37, S. 425.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 5, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 310-311.
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