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[231] »Wissen Sie was? Bringen Sie mir 'n Schnitzel –!«
Ich habe ja geschwänzt, aber als langer Leser der ›Vossischen Zeitung‹ habe ich gelernt, daß es in Berlin eine »Ausstellung für Ernährung« gegeben hat. Sie soll sehr gut und instruktiv gewesen sein. Lasset uns, milde wie die Milch der gutartigen Kokosnuß, betrachten, wie die Praxis aussieht.
Was mir an der deutschen Speisekarte der Gasthäuser auffällt, ist ihr Unzweckmäßigkeit. Ob in Deutschland gut oder schlecht gegessen wird, ist wohl nur nach Landstrichen zu sagen, nach den ›Geschmäckern‹, nach dem Geschlecht, dem Beruf, dem Geldbeutel des Urteilenden – hier handelt es sich um Grundsätzliches, gerade um das, was die Ernährungsausstellung wenigstens stellenweise gut und gescheit[231] gepredigt hat: Eßt vernünftig! Es ist aber sehr, sehr schwer, in einem deutschen Restaurant vernünftig zu essen.
Erster Fehler: Es gibt viel zu viel Fleisch. Man braucht gar kein Lebensreformer oder Vegetarier zu sein, um das zu empfinden – jeder aufgeklärte Arzt empfiehlt dem scharf arbeitenden Menschen zum mindesten gemischte Kost. Bekommt er die in dem gewöhnlichen Restaurant? Also nicht im vegetarischen, nicht im besonders teuern, nicht in der berühmten Ausnahme, die es in jeder Stadt gibt – nein, im Restaurant Seeschlößchen? Bekommt er da eine gemischte Kost? Er bekommt sie mitnichten. Denn:
Zweiter Fehler: Die Gemüse sind nicht gut zubereitet und fast niemals frisch. Daß das Essen in den meisten Restaurants so schmeckt, als sei es abgestanden, liegt daran, daß es abgestanden ist. Die kulinarisch verderbliche Forderung des Deutschen, zwischen elf Uhr vormittags und vier Uhr nachmittags Mittag zu essen, wann es ihm paßt, hat zur Folge, daß das Essen halbfertig gemacht wird, sehr lange über Dampf steht . . . und was dann herauskommt, sind diese ausgelaugten Sachen, die auf dem Teller leise vor sich hin weinen. Draußen, in der Natur, haben sie noch vor Lebensfreude und Vitamin geknallt; nun sind es armselige Gummistrünke, die schöne Namen führen, ›Blumenkohl‹ oder ›grüne Bohnen‹ – aber es sind Gummistrünke. Preisfrage: wo bleibt eigentlich das frische deutsche Gemüse –? (»Da müssen Sie mal zu meiner Mutter kommen, Herr Panter, die kocht Ihnen ein Leipziger Allerlei . . . « – »Liebe gnädige Frau, es ist so nett von Ihnen . . . Aber alle Leute können doch nicht bei Ihrer Mama essen!«)
Dritter Fehler: Die Portionen sind zu groß. Ich weiß schon, daß die ›Leute das verlangen‹ – aber ich weiß auch, daß es bereits eine Menge Esser gibt, die immerhin so etwas wie Eßkultur besitzen und die lieber viererlei verschiedene Kleinigkeiten essen an Stelle dieser Enak-Speisen. Denn wenn man ein Filetsteak bestellt, dann kommt ein Trum von Fleisch und Ei und Gemüsen und gebackenem Brot und das alles mit einemmal, wie ein mit Tschinellen garnierter Paukenschlag; und wenn man ›Gulasch‹ sagt, dann kommt immerzu gar nichts wie Gulasch, eine ganze Badewanne voll, und sagt man ›Eierkuchen‹, dann kommt ein Bettvorleger . . . nein, die Portionen sind wirklich zu groß!
Vierter Fehler: Es gibt nicht genug Sommerspeisen und nicht genügend frisches Obst. Sich im heißen Sommer ein gedünstetes, faustgroßes Stück Fleisch in den Magen zu jagen, halte ich für eine immense Rücksichtslosigkeit gegen ebendenselben; eine Weile läßt sich das ja jeder Magen gefallen, aber eines Tages . . . nun, wir wollen uns nicht bange machen. Es gibt, besonders im Sommer, in den Restaurants viel zu wenig leichte Speisen – viel zu wenig gedünstetes Obst, viel zu wenig gutes, frisches Obst – denn was es gibt, das taugt meist nicht, und hier sind nun die Portionen wiederum viel zu klein: da steht so ein kleines[232] Kompott-Schälchen, und da liegt ein Löffelchen auf dem Tellerchen, und da liegen drei Pfläumchen . . . nein, die Portionen sind wirklich zu klein!
Ich habe an keiner Stelle meines Beschwerdebüchleins von den Preisen gesprochen, obgleich das ein weites Feld ist. Aber ganz abgesehen vom Geld: selbst für Geld bekommt man fast niemals das zu essen, was man nach vernünftigen und hygienischen Ratschlägen essen sollte. Man bekommt es in Deutschland; in Familien, die wissen, was das heißt: kochen, essen, rationell leben; man bekommt es in Heimen, manchmal in Pensionen, in Vegetarierhäusern . . . aber man bekommt es fast niemals da, wo man es am allernötigsten braucht und erwartet: in Bahnhofrestaurants, in Hotels und in den Speisewagen, dieser untersten Stufe der deutschen bürgerlichen Ernährung. (Hier wird die Milch der guten Denkungsart sauer. Es ist aber auch zu schrecklich!) Nun, muß das sein –?
Es sei mir erlaubt, noch ein Glas Kokosmilch auf das Wohl der geehrten Gäste zu erheben.
Der verwickelte Apparat des öffentlichen Lebens macht es immer schwerer, Kritik an eben diesem Leben zu üben. Von Polemik sehe ich ganz ab – das ist eine andere Sache. Aber sag heute einmal, daß dir dort die Beleuchtung nicht gefällt oder dort nicht das Essen; sag, du habest Wünsche in bezug auf die elektrischen Kronen, die man dir verkauft, oder du hieltest eine andere Regelung des Hebammenwesens für richtig . . . sage es so freundlich, so bescheiden, so leise wie du nur kannst – was geschieht dann?
Dann springt dir ein Syndikus auf den Kopf. Nämlich der Syndikus des betreffenden Verbandes.
Und es darf immerhin einmal gesagt werden, daß die Beteiligten gewöhnlich am wenigsten wissen, was die Unbeteiligten wollen – Fortschritt kommt fast immer von außen. Wir aber haben einen neuen Moloch aufgerichtet: den ›Fachmann‹, der Laie darf sich nur wundern, und im übrigen hat er den Mund zu halten. Es besagt aber noch gar nichts für einen Beruf, daß er organisiert ist, denn das sind sie heute alle – und so lange keiner beleidigt wird, soll er aus den Vorschlägen, die ihm der Konsument macht, lernen und nicht die Herren Syndici fuchteln lassen. Jeder ist halb so wichtig, wie er glaubt – und das Schwergewicht wird immer mehr verschoben: »ce cochon de payant« sagen die Franzosen sehr gut, etwa: »Der Dumme, der bezahlt – was ist er denn schon groß? Nur ein Kunde!« Die Kunden aber, die das Geld erst in die Berufe bringen, sollten sich öfter auf ihre Macht besinnen und mit sanfter Stärke durchsetzen, was die Routine ihnen nicht geben will.
Es ist ein Elend mit der Speisekarte.[233]