Der grüne Frack

[331] Die Aufnahme Paléologues in die Académie Française


Aufblenden. Ein alter, versoffener Mann mit roter Schwammnase erbietet sich, meinen Platz vor den Türen, wo das Volk nach Einlaß ficht, so lange freizuhalten, bis es los geht. Dafür verlangt er den Tagelohn eines Arbeiters, und ich handele so schlecht, daß man sich von der Differenz Villen bauen kann – er bekommt sein Geld. Davon kann er vier Tage in einem Bett schlafen. Ich gehe inzwischen vom Institut mit seiner runden Kuppel fort und kaufe, was der Mensch braucht: Schnürsenkel, bunte Bleistifte, eine Grammophonplatte, ein paar Bücher des Herrn Paléologue, der heute in die Académie aufgenommen werden soll, und Fruchtsalz. Fünf Minuten vor eins bin ich wieder da – mein Mann steht ganz vorn an der Tür, und hinter ihm eine lange Kette von Menschen. Autos fahren vor, der stille Platz ist gar nicht mehr wiederzuerkennen. Türen auf – hinein.

Das ist eine Kapelle des ehemaligen Collège Mazarin, in dem bei feierlichen Gelegenheiten alle fünf Akademien mit einemmal thronen: die Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, die Académie des Sciences, die Académie des Beaux-Arts, die der Sciences Morales et Politiques und endlich die eigentliche, die große: die Académie[331] Française. Braunes Tageslicht, hohe Kuppel, sehr einfach im Stil – kreuzförmig angeordnete Tribünen, in der Mitte ein kleiner Zirkus, davon die Hälfte mit eingeladenen Gästen angefüllt, und da stehen die halbrunden Bänke für die Unsterblichen. Es ist gesteckt voll.

André Maurois ist da (im Publikum), ein feiner Kopf, der Mann hat die vortreffliche Biographie Disraelis geschrieben und sieht aus, als sei er Seidenwarenhändler, und er ist es; François Croisset, der Mitarbeiter des seligen de Flers; und da, in Purpur, sitzt der Kardinal Dubois, wir werden gleich sehen, warum. Bassermann könnte diese Rolle ganz gut spielen . . . Und der römische Botschafter, Herr Beaumarchais, und viele, viele andere – und an Frauen, was nur gut und teuer ist . . . alle warten. Immer wieder erstaunlich am französischen Publikum ist seine Mischung von Subtilität und Kindlichkeit – als sich Leute, die zu spät kommen, auf die grünen Plüschbänke setzen wollen, lacht die Kinderklasse – wie man überhaupt den Eindruck hat, als würden hier Schulprämien an die Primusse einer Anstalt verteilt. Aber das ist nur ein Glockenton im Orchester.

Trommelwirbel – die Unsterblichen kommen herein.

Der Vorsitzende dieser Feier, der Justizminister Louis Barthou – der Kanzler der Académie, der Herzog de la Force, der ständige Sekretär, Herr Doumic – dann die andern: Paléologue, Poincaré, Hanotaux – nicht alle tragen den traditionellen Frack, dessen Stickerei übrigens wenig kleidsam ist: nur Paléologue, Hanotaux, Abel Hermant (vom ›Temps‹) und einige andere. Millerand erkenne ich und – ohne Frack – den Marschall Lyautey – und nun sitzen sie alle, und ohne lange Förmlichkeiten eröffnet Barthou die Sitzung. Herr Paléologue hat das Wort.

Wenn man wissen will, wie Frankreich von innen aussieht, kann man sich verschiedener Methoden bedienen: die Kenntnis der französischen Familie ist erforderlich, deren gute Qualitäten die Fremden meistens nicht kennen; man kann auch in eine Klassiker-Aufführung der Comédie Française gehen – oder aber in die Académie. Hier ist reines und, trotz allem, großes Frankreich.

Ich muß gestehen, seit Jahren keine so elegante, klassische und vollendete Rede gehört zu haben wie die Paléologues – weder vor den Gerichten, noch in Versammlungen, und in der Politik schon gar nicht. Es ist eine Rede im ciceronischen Stil – klar, durchgefeilt, bis ins letzte logisch, eine reine Freude, was die Form angeht.

Es ist Tradition in der Académie, daß der neue Mann seinen Vorgänger, auf dessen Stuhl er sitzt, zu preisen hat. Erfüllt er diese Formalität nicht, so ist er trotz erfolgter Wahl nicht offizielles Mitglied der Académie. So haben zum Beispiel Clemenceau und Porto-Riche diese Reden niemals gehalten – sie sind zwar gewählt, aber sie sind eigentlich keine Akademiker.

[332] Die Aufgabe Paléologues ist nicht allzu schwer: sein Vorgänger ist der Diplomat Charles Jonnart gewesen, dessen Wahl eine der letzten Nachkriegswahlen gewesen ist – so sind ja auch die Marschälle Foch und Joffre Mitglieder der Akademie. Jonnart . . . nun, wir werden hören.

Paléologue erhebt sich. Ein scharfer, gut profilierter Kopf, Monokel an schwarzem, breitem Bande, das gedruckte Manuskript in der Hand. Aber er liest nicht nur ab – am nächsten Tag werden alle Zeitungen hervorheben, daß er leichte Gesten gemacht habe – ja, er habe gerade so getan, als spreche er wirklich frei – das ist ein Novum! Von seinem Publikum und seiner Rede kann man in der Tat sagen, was er selbst von einem kleinen Frühstück sagt, das Gambetta dem jungen Charles Jonnart gegeben hat: »Nombreuse compagnie – chère délicate«.

Jonnart hat viel gesehen und hat viele hohe Posten innegehabt – wenngleichen bei seiner Wahl die mokante kleine pariser Presse nach den Werken Jonnarts fragte, welche Frage übrigens nicht richtig gestellt wurde: denn in der Académie sitzen nicht nur Literaten. Jonnart war Generalgouverneur von Algier; er war es, der den damaligen Regimentschef der vierzehnten Husaren, Lyautey, nach Afrika berief, wobei das Wort gefallen ist: »Den Eingeborenen muß man die Kraft zeigen, damit man sie nachher nicht anzuwenden braucht.« Jonnart war ›Directeur des affaires politiques‹ – und der Charme, mit dem Paléologue die Diplomatie vor einem Publikum, das an sie glaubt wie an ein Dogma, zugleich lobt und scheinbar preisgibt, indem er zärtlich übertreibt, ironisch liebkost, harmlos zupackt, um gleich wieder loszulassen – das ist meisterhaft. Und nun wird die Rede eminent politisch.

Die Vorkriegszeiten werden lebendig; die Besorgnisse Jonnarts; der Kaiser – wenn doch alle Deutschen wüßten, was dieser Mann dem Ruf seines Landes geschadet hat! – und inmitten der perlenden, glitzernden Worte des Redners muß ich aufhorchen. »Heine«, sagt er, – Haß? – nein! Er sagt: Heinrich Heine . . . ! Und zitiert eine jener merkwürdigen, fast visionären Prophezeiungen, wie sie dieser Jahrhundertkerl in seinen pariser Jahren so oft geschrieben hat – eine, in der er die kommenden Völkerkatastrophen voraussieht und den Franzosen zuruft, »daß unter den Göttern des Olymp eine Göttin war, die stets – auch während der Feste – den Helm aufbehielt: Pallas Athene«. Und dann ein echt Heinescher Zusatz: »Es war die Göttin der Weisheit.«

Nun spricht der Redner vom Krieg. Jonnart war »unbeugsam zu den letzten Opfern entschlossen . . . « Ich höre das nicht gerne. Zu den Opfern – wessen? Wen wollte er opfern? Wen wollten sie alle opfern? Aber es ist sehr einfach: den Sergeanten Grischa, den Soldat Suhren und die unbekannten Soldaten aller Armeen –!

Jonnart ging nach Griechenland, wo er die Absetzung des deutschfreundlichen[333] Königs Konstantin herbeiführen half. Es ist merkwürdig, wie der Republikaner Paléologue in einer republikanischen Académie so hübsch für die Monarchen eintritt – immerhin darf man aus diesem Paradox keine falschen Schlußforderungen ziehen – Frankreich wird in absehbarer Zeit keine Monarchie werden, und die Politik wird zwar in der Académie besprochen, aber dort nicht gemacht. Jonnart also sprach, als es in Griechenland nicht recht vorwärts gehen wollte, den schönen Satz: »Meine Heimatstadt Arras ist von den Deutschen ohne jeden militärischen Grund zerstört worden. Wenn Sie hier nicht nachgeben, dann mache ich, so schwer mir das ankommt, aus Athen ein zweites Arras!« Was den ›Temps‹ zu geradezu verzweifelten Kapriolen veranlaßt hat: das, Bauer, sei ganz etwas anderes – und man hätte auch nicht auf das historische Athen, sondern auf Neu-Athen geschossen, und was man so sagt, wenn sich Rabbi und Mönch zanken.

Paléologue ist dann, wie bekannt, lange in Rußland gewesen – darüber ist in seinen Memoiren manches Gute zu lesen. Und nun bekommt der Kardinal von Paris, Monseigneur Dubois, seine Zuckerchen. Es ist die klare und radikale Widerrufung der Ideen Waldeck-Rousseaus: falsch die Trennung von Kirche und Staat; falsch, keinen Gesandten beim Vatikan gehabt zu haben, was sich im Kriege bitter gerächt hätte – die deutschfreundliche Haltung Roms wird so zart wie möglich vor die Soutanen gelegt; Irrtum auf Irrtum aus dem Jahre 1905 – und Lobgesang auf Herrn Millerand, der das Malheur korrigiert habe. Und mit Freude und Wohlgefallen hören es die Priester vor allem – auch Monseigneur Baudrillart, der mit seinem roten Käppchen unter den Akademikern sitzt. Das schließt mit einem starken Appell an den Pariotismus – und der Schlußbeifall ist beinah so stark wie der Applaus an der Stelle, wo Herr Paléologue von der Diplomatie gesagt hat: »Meine Herren, ich sage es Ihnen ganz leise, damit es mein Nachbar zur Rechten nicht hört: es ist nicht leicht, ein Amt anzutreten, das vorher Herr Poincaré innegehabt hat.« Der weißhaarige Nachbar zur Rechten rührt sich nicht – aber eine Demonstration für ihn, Poincaré, setzt ein, die zeigt, wie fest verwurzelt dieser Mann mit den maßgebenden Kräften seines Landes ist.

Herr Barthou antwortet. Das ist ein kleines Männchen, bebartet, mit nervösen Händen – derselbe Mann, den neulich einmal Daudet in der widerwärtigsten Weise mit Schmutz bewerten hat, übrigens erfolglos. Das ist nun eine ganz andere Art der Rede.

Auch dies ist eminent französisch: eine flirrende Ironie, sehr leicht, sehr leise – mitunter etwas angesäuert, man fühlt, daß die wahren Gegner nicht im Saale sind. Unter der Kuppel sitzen nur Freunde, so scheints – auch hier die große Verbeugung vor der Kirche, der Kardinal Dubois-Bassermann bewegt ununterbrochen seine in roten Handschuhen steckenden Hände und kommt aus dem Applaudieren gar[334] nicht heraus. Dann: die traditionelle Lebensbeschreibung Paléologues.

Achtundvierzig Jahre in der ›Carrière‹; Posten auf der ganzen Welt: in Afrika, in Peking, in Rußland, in London, in Paris, in der Abteilung der ›Affaires réservées‹ des Auswärtigen – und auch hier wieder ein bezaubernder Spott über sich selbst und das Metier. Wer sich nicht selbst zum besten halten kann . . .

Paléologue hat die internationale Literatur von nah gesehen: er hat noch Turgenjew gekannt, Ernest Renan (der Kardinal verzieht keine Miene), Pierre Loti, auch hat er selbst geschrieben, und während Herr Barthou seinen Stil lobt, erinnere ich mich, wie ein Direktor des französischen Strafvollzuges mir eines Tages einen ministeriellen Erlaß zeigte, der, mit der Maschine geschrieben, ganz und gar mit der Feder überarbeitet war. »Er hält so auf den Stil«, sagte der Direktor anerkennend. »Wissen Sie: Il est de l'Académie.« Und dann spricht Barthou wieder von der Politik.

Am schlimmsten bekommt es Ferdinand von Bulgarien ab – hier war die einzige Stelle, an der ich das Maß überschritten fand. »Dieser degenerierte Bourbone ist im Grunde nur ein Harems-Asiat; er hat sich in der Zeit und im Ton geirrt. In ganz Europa nicht – nicht einmal in Deutschland – hat es einen Souverän gegeben, der . . . « Zu böse.

Das beruhigt sich wieder. Nun ist von den Werken Paléologues die Rede: von seinen Studien über chinesische Kunst; von seinen Romanen – ich weiß, wie offiziell das alles ist und daß die junge Generation Frankreichs anderes zu tun hat, als gerade diese Romane zu lesen – aber hier wird eine Flamme bewahrt. Zweihundert Jahre lang, von Richelieu angezündet, brennt hier die helle Flamme des französischen Geistes – hier, in der Académie.

»Ein Diplomat, der kein Psychologe ist«, sagt Herr Barthou, »ist seiner Mission nicht wert.« Ach, ich erinnere mich, in diesen letzten Jahren Diplomaten gesehen zu haben, die gar nicht das von Barthou zitierte Pascalsche Wort beherzigten, die gar nicht wußten, wie ihr Verhandlungspartner innen aussah und die sich so über ihre Bedeutung und ihre Wichtigkeit zum Schaden ihres Landes täuschten . . . Das ist ein weites Feld. »Sie«, sagt Barthou zu Paléologue, »sind nie ein Briefträger gewesen.« Und rühmt, daß Paléologue auch niemals nur in seinem Arbeitszimmer gesessen habe, sondern daß er sich bemüht habe, aus dem engen Zirkel diplomatischer Geselligkeit herauszukommen – und das ist abermals ein weites Feld. Erinnerungen häufen sich auf Erinnerungen . . . eine Welt steigt auf, eine blutige Welt. Wie Paléologue den Zusammenbruch Rußlands zwei Jahre vorher vorausgesagt habe, während die französischen Sozialisten noch Propagandareisen nach Petersburg machten . . . Barthou schließt mit einer entzückenden Wendung, die auf die Verteilung der Preise anspielt, die die Académie Française jährlich zu verteilen hat, was nicht ohne einen[335] ganzen Salat von Intrigen abgeht: »Bleiben Sie auch hier Diplomat!« sagt er. »Sie werden es brauchen!«

So wenig, sagen die Zeitungen am nächsten Tage, ist hier noch nie von Literatur gesprochen worden. Und so leicht und plaudernd hat noch lange kein Akademiker gesprochen wie Paléologue.

Kalk ist unsterblich und Feuer ist unsterblich – beides ist hier zu finden. Neben allem leicht Angestaubten aber, neben einer instinktiv errichteten Tradition wird hier die Flamme bewahrt. Beneidenswertes Land, wo nicht jeder für sich allein von vorn anfangen muß.

Bänkerücken; Rauschen des Volkes; Geplauder; Stimmengewirr; gemischtes Zwielicht aus trübem Tag und hellen Lampen unter der Kuppel. Die Motoren der Wagen draußen springen an; die Menge zerstreut sich. Abblenden.


  • · Peter Panter
    Vossische Zeitung, 09.12.1928.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 6, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 331-336.
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