Auf dem Nachttisch

[309] »Mach das Licht aus . . . «

Gewiß, Lieschen. Nur noch diese paar Bücher . . .

– »Was denn? Das alles heute nacht? Allmächtiger –«

Nur, wenn ich gar nicht einschlafen kann. Mir braust die Stadt noch im Schädel – und hier im Hotel . . . wer weiß, ob ich schlafen kann . . . Dreh dich herum. Ich lösche das Licht aus, wenn ich den ersten Sandmann fühle . . . Villon. François Villon.

›Die Balladen und lasterhaften Lieder des Herrn François Villon in deutscher Nachdichtung von Paul Zech‹ (erschienen bei Erich Lichtenstein in Weimar).

Nun, eine Nachdichtung ist das nicht. Es sind Gedichte in moderner Tonart, verfertigt nach sicherlich sorgfältiger Lektüre Villons. Zech hat keinen Stein auf dem andern gelassen, sondern er hat ein neues Hüttchen gebaut. Ist es schön?

[309] Mittelschön. Die Ungeheuern Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hatte, in allen Ehren: aber hier gibt es nur zwei Wege. Entweder man macht das wie Ammer und übersetzt so wörtlich wie nur möglich – oder aber man ist dem Villon kongenial und dichtet neu. Zech hat neu gedichtet . . . Herausgekommen ist statt eines genialen Landstreichers aus dem katholischen Mittelalter ein versoffener Burschenschafter protestantischer Provenienz. Beispiel:

›Ballade et oraison pour l'ame du bon feu Cotart‹ – darin fleht Villon den Noah, den Loth und was sonst noch gut und teuer ist, an, den in Gott seligen Herrn Cotart gut im Himmel aufzunehmen, der Mann habe doch immer so brav gesoffen. Villon:


Nobles seigneurs, ne souffrez empecher

L'ame du bon feu maistre Jehan Cotart.

Ammer:

Ihr edlen Herrn, erbarmt euch oben seiner,

des ach! so früh verstorbenen Jehan Cotart!


Das ist gut, weil darin noch der parodistische Orgelklang des Originals nachzittert; man sieht ordentlich, wie Villon den Hals einzieht, das Kinn herunterdrückt und einen Pfaffen macht. Zech:


Ach, nehmt ihn auf, in euerm Skatverein,

er war, weiß Gott, kein schwarzes Schwein.


Das ist ein Stilfehler. So spricht cand. med. Rietzke, Thuringiae – aber nicht Villon. Es ist ein Stilfehler, »la belle Heaulmière« mit »Klempnersfrau« zu übertragen. Jene war, wie Ammer schön sagt, eine »Helmschmiedgattin«, in welchem Wort das Romantische ohne Übertreibung gewahrt ist – ›Klempnersfrau‹ aber ist: Kellerstufen, kleiner Laden, Frau Piesecke, Großstadt-Proletariat. Nein, so geht das nicht.

Am besten sind Paul Zech jene Balladen geglückt, die viele französische Villon-Ausgaben nicht enthalten, weil man sie dort für apokryph hält. Die ›Kleine Ballade von der Mäusefrau‹ ist etwas Entzückendes, wenn auch in der Formulierung von 1930 – aber sie ist eben gut formuliert, ebenso gut wie die Liebesballaden; so möchte manche Frau geliebt sein. Für die meisten andern Verse kann ich mich nicht erwärmen. Im Literaturverzeichnis fehlt Gaston Paris; der dem Buch vorangesetzte Villon gleicht einem gut aussehenden Maler auf einem Kostümfest, und die Vorrede ist etwas ganz und gar Schreckliches.

Was haben die Leute nur immer? Wenn sie auf Villon zu sprechen kommen, dann werden die mildesten Spießer wild. Sie entdecken plötzlich, frisch der Untergrundbahn entstiegen, daß sie eigentlich[310] – hei! – ganz tolle Kerle seien, und die polizeilich gemeldetsten Schriftsteller toben sich da aus. Das rasselt nur so in der Vorrede. Kerle . . . Lumpanei . . . toll . . . Schubiaks . . . Weibsbild . . . es ist ein recht preußisches Satumalienfest, das da gefeiert wird. Ludwig Thoma hat einmal von Tacitus gesagt: »Er sah die Germanen wie eine berliner Schriftstellerin die Tiroler.« Und Villon mit Johannes R. Becher zu vergleichen, dazu gehört denn doch wohl ein nicht alltägliches Manko an Literaturgefühl. So bleibt nur die wunderschöne Eingangsstrophe haften, ein altfranzösischer Vers, von dem man nicht genau weiß, ob er von Villon stammt oder nicht. Von wem er aber auch stammt: dieser Ton kann nie vergehn.


Une fois me dictes ouy,

en foy de noble etgentil femme;

je vous certifie, ma Dame,

Qu'oncques ne fuz tant resjouy.

Vueillez le donc dire selong,

que vous estes benigne et doulche,

car ce doulx mot n'est pas si long

qu'il vous face mal en la bouche.

Soyez seure, si j'en jouy,

que ma lealle et craintive ame

gardera trop mieulx que nul ame

vostre honneur. Ave-vous ouy?

une fois me dictes: ouy.


Solange ein Mann ein Mann bleibt – »Mach das Licht aus!« . . . Wirklich: ich kann noch nicht schlafen. Jetzt habe ich mich wieder wachgelesen. Aber gleich, gleich.

Erich Kästner ›Ein Mann gibt Auskunft‹ (erschienen bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart und Berlin). Es sollte einmal jemand auf den Spuren des großen Literaturhistorikers Josef Nadler wandelnd das Sächsische in der deutschen Literatur untersuchen – aber ohne Grinsen. Man vergesse nicht, daß Richard Wagner, mit Grinsen, ein Sachse gewesen ist, und daß, sehr ernsthaft gesagt, Lessing aus Camenz stammt, und auch dieser Ort gehört zu Sachsen. Kästner ist aus Dresden. Nun, er hat gar nichts vom Bliemchen-Kaffee, aber wenn sich einer gegen seine Umgebung aufbäumt, dann fällt das in New York und in Dresden verschieden aus, weil die Umgebungen eben verschieden sind. Ich vermeine, manchmal in Kästner das Sächsische zu spüren – eine gewisse Enge der Opposition, eine kaum fühlbare, aber doch vernehmliche Kleinlichkeit, eine Art Geiz . . . Er weicht dem Olymp sehr geschickt aus – ich weiß nicht, wie sein Himmel aussieht. Vielleicht hat er keinen, weil er fürchtet, er sei dann[311] vom sächsischen Böcklin: von Klinger? Kästner ist ehrlich, sauber, nur scheint mir manchmal die Skala nicht sehr weit, und er macht es sich gewiß nicht leicht. Er hats aber leicht. Man vergleiche hierzu etwa so ein Gedicht wie ›Dem Revolutionär Jesus zum Geburtstag‹ . . . das ist reinlich und gut gemeint, doch da langt es nicht. Da pfeift einer, im Sturm, bei Windstärke 11 ein Liedchen.

Demgegenüber stehen nicht nur prachtvolle politische Satiren wie ›Die andere Möglichkeit‹, ein Gedicht, das ihm die deutschen Nationalisten heute noch nicht verziehen haben, weil es die Zeile enthält: »Wenn wir den Krieg gewonnen hätten« mit dem Schluß: »Zum Glück gewannen wir ihn nicht«. Oder ›Primaner in Uniform‹, ein famoser Hieb gegen die chauvinistischen Pauker.

Der Band führt darüber hinaus, ins Dichterische, in echte Lyrik. Da ist in ›Verzweiflung Nr. 1‹ ein kleiner Junge, der sein Einholegeld verliert. Er weint zu Hause, die Eltern trösten ihn, und da steht:


Sein Schmerz war größer als ihre Liebe


– also, das lasse ich mir gefallen. Oder das bezaubernde ›Gefährliche Lokal‹ mit dem morgensternschen Schluß »Als ich zurückkam, sah ich, daß ich schlief«. Und dann – mein Lieblingsgedicht –: ›Ein gutes Mädchen träumt‹. Das könnte von Hebbel konzipiert sein, wenn der es auch anders formuliert hätte. Sehr bezeichnend für Kästner, daß mit keiner Silbe etwas für jenes träumende Mädchen gesagt wird, die da träumt; der ihrige schickt sie immer wieder, immer, immer wieder treppauf, treppab: »Du hast das Buch vergessen.« Ich glaube: Kästner hat Angst vor dem Gefühl. Er ist nicht gefühllos; er hat Angst vor dem Gefühl, weil er es so oft in Form der schmierigsten Sentimentalität gesehen hat. Aber über den Leierkastenklängen gibt es ja doch ein: Ich liebe dich – es gehört nur eine ungeheure Kraft dazu, dergleichen hinzuschreiben. Und da sehe ich einen Bruch, einen Sprung, ist das sächsisch? Wir haben bei diesem Wort so dumme Assoziationen, die meine ich nicht. Langt es? Langt es nicht?

Was immer zu bejahen ist, ist seine völlige Ehrlichkeit. Wo er nicht weiß, da sagt er: Ich weiß nicht. Das Gedicht ›Kurt Schmidt, statt einer Ballade‹ haben ihm Proletarier übelgenommen, weil es mit einem Selbstmord endet – das Gedicht stand bei uns, und ich habe merkwürdige Briefe bekommen. Der ›Kurzgefaßte Lebenslauf‹ ist ehrlich; es ist auch ehrlich, in dem unsereinem aufs Fell geschriebenen Gedicht ›Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner?‹ zu sagen, daß wir ein Weltbild nicht aus dem Boden stampfen können und zunächst nur wissen: Also dieses da nicht. Alles das ist blitzsauber. Formal wird es immer besser; manchmal dürfte die Form etwas abwechslungsreicher sein. Kästner wird viel nachgeahmt; es gehört wenig dazu, ihn[312] nachzuahmen. Ich wünsche ihm ein leichtes Leben und eine schwere Kunst.

»Eins kann ich dir sagen: wenn du jetzt nicht das Licht ausmachst . . . dann stehe ich auf und lasse mir ein andres Zimmer geben.« O Gott, o Gott. Dies ist wirklich . . . »Was ist wirklich?« – Das ist wirklich eine wilde Ehe. Ich liege doch meinem Berufe ob! »Lieg ihm am Tage ob.« Gewisse Berufe werden nur nachts ausgeübt. »Ach, es ist schrecklich.« Zu denken, daß es Leute gibt, die dreißig Jahre lang in demselben Schlafzimmer . . .

Otto Roeld ›Malenski auf der Tour‹ (erschienen bei Erich Reiß in Berlin). Haben Sie ein Mitglied des ›Verbandes Reisender Kaufleute‹ unter Ihren Bekannten? Schenken Sie ihm das. Er wird natürlich sagen, es sei in Wirklichkeit alles ganz, aber ganz anders, denn der Kaufmann muß erst geboren werden, der zugibt, daß auch er zu schildern sei . . . es sei denn, daß man seinem Betriebe schmeichelt und vom ›Primat der Wirtschaft‹ spricht. Nun also zu Herrn Malenski, einem Bruder Gustav Hänflings (im Insel-Verlag). Eine sorgfältig ausgepinselte Idylle, ein bißchen Biedermeier: ein Kaufmann, auf Porzellan gemalt.

»Ja, er ist nicht wie andere Geschäftsreisende. Zwar stiegen Zweifel auf: – dieses ›Anderssein als die andern‹, das bildet sich jeder ein – nicht nur Geschäftsreisende – auch Beamte und Künstler, jeder glaubt, über der eigenen Situation zu stehen und im geheimen wertvoller zu sein, als seine Kollegen . . . «

Zu Hause stehen bei mir die Tatsachenromane bis an die Decke – ich kann das Zeug schon gar nicht mehr sehen. Warum kann ich dieses kleine Buch Roelds, das gewiß nicht, wie da angegeben steht, ein Roman ist, sondern eine kleine Geschichte . . . warum kann ich das auf einen Sitz zu Ende lesen? Weil der Mann den Ton hat; weil er die Kraft hat; weil er zwingt. Die Technik ist ein bißchen naiv, die Atmosphäre der großen Geschäfte ist nicht darin, aber die meisten Geschäfte auf der Welt sind recht klein – das Ganze ist gewiß kein schwerer Burgunder, aber der höchst gute Jahrgang eines bekömmlichen Apfelweins. Viele, viele kleine Einzelzüge, auf die es bei jedem Kunstwerk ankommt:

Der alte Reisende, der sich die Orderbücher aus den Tagen seines Glanzes aufgehoben hat; die Schilderung der einzelnen Kollegen, eine ausgesuchte Musterkollektion; die Reisenden-Späße . . . und dann eine kleine Szene, wie Malenski zwar im gewohnten Zug sitzt, aber nicht, um zu reisen, sondern nur, um zu reisen: er hat nämlich seine junge Frau bei sich und ist auf der Hochzeitsreise. Und da spricht ihn Herr Löwenbein an. Karten spielen? Nein, heute spielt Malenski nicht Karten. »Adele: ich stelle dir hier meinen Kollegen Herrn Löwenbein vor.« – »Ah, da gratuliere ich . . . « und wie Löwenbein nun loslegt,[313] das ist mit dem Ohr gestohlen. Zum Beispiel so: »Also verheiratet!« – Löwenbein neigt liebevoll lächelnd den Kopf zur Seite. – »Was ist eine Heirat? Ein Lotteriespiel! Was ist die Grundlage für eine gute Ehe? – der Charakter des Menschen! Ein Hustenbonbon gefällig, gnädige Frau? Seit langem leide ich an Verschleimungen. Alles habe ich schon versucht, nichts hat . . . « man lese das nach – es ist wirklich schön. Das ist ein lustiges, ein harmlos lustiges und ganz leise ein melancholisches Buch.

So sehen vielleicht die Kaufleute heute nicht mehr aus . . . Ich lösche das Licht gleich aus! ich schwöre, mit der linken Hand . . . dann mach die Augen zu . . . Ich knipse wirklich gleich aus . . . So sehen also diese Reisenden der letzten Generation nicht mehr aus. Wie sehen sie denn aus? So, wie sie George Grosz gezeichnet hat. ›Über alles die Liebe. 60 neue Zeichnungen‹ (erschienen bei Bruno Cassirer in Berlin). Wir wissen ja alle, wer George Grosz ist. Ob auch alle wissen, wieviel er kann? Das ist ganz erstaunlich. Wenn er einen Mann mit Anzug und dussligem Klemmer zeichnet, dann sind da: der Körper des Mannes, durch den Anzug hindurchleuchtend, na . . . leuchtend . . . , dessen ganzes Leben; man weiß sofort, welche Bücher der liest, wie er bei der Reichstagswahl gestimmt hat, seine Bekannten, seine Lokale . . . Grosz zeichnet die Aura des Menschen mit, genau das, was die wenigsten Schauspieler zu spielen verstehen. Es sind herrliche Blätter darin, wie: ›Hast du mich ein wenig gern?‹ und ›Zugvögel‹ (mit einem vanimftigen Judenjungen, blau rasiert und schweren Augendeckels), – das himmlische ›Nicht sein Geschmack‹: da geht einer mit einem kleinen Zündhütchen auf dem Kopf an einer Hure vorbei, und in seinem Riesenkinn, das er nach oben schiebt, steht: will nicht. Sie sieht ihm etwas enttäuscht nach . . . Dann auf Seite 65: ›Treibholz‹ – solchen Großstadtlyriker gibt es nicht, der dieses Mädchen besänge. Aber warum heißt Blatt 75 nicht mehr, wie es meines Wissens einmal geheißen hat, ›Presseball‹? Denn das ist es. Darauf übrigens für mein Gefühl ein kleiner Stilfehler, der einzige des schönen Bandes: dieser Herr Redakteur trägt kein eisernes Kreuz. Und wenn Grosz das gesehen hat, dann war die Wirklichkeit falsch – denn das gibt es. Immerhin: eine Bibel der kosmischen Liebe, der man das s ausgestrichen hat.

Der Hotelnachttisch ist so klein – da liegt noch viel auf dem Boden. Herauf mit dir . . . »Sag mal . . . « Lieschen – wenn du mich noch einmal störst, wirst du ausgestopft! »Ich dich stören? Das ist ja großartig! Du liest hier die halbe Nacht . . . « Gedenkst du noch der schönen Maientage, da die Liebe uns beseligt hat . . . ? »Jetzt singt er auch noch. Weck die Leute hier nicht auf!« Ja, wickel dich nur in deine Decken . . . Also da ist Wera Figner. Es ist die große Ausgabe, in der alle drei Teile des Werkes zusammen enthalten sind. ›Nacht über Rußland‹ (erschienen beim Malik-Verlag in Berlin). Bekannt – und[314] immer wieder ergreifend. Das sieht denn doch anders aus als unsre nationalistischen Märtyrer, die kaum welche sind. Was riskieren sie denn? Erst werden sie nicht verhaftet; und wenn sie verhaftet werden, reißen sie aus; und wenn sie nicht ausreißen, werden sie nicht verurteilt; und wenn sie verurteilt werden, werden sie begnadigt. Und dann bekommen sie eine Stelle bei irgend welchen Grundbesitzern oder Industriekerlen . . . Wera Figner war ein ganzer Mann. Das Buch solltet ihr euch alle aufbauen.

»Also, Peter – Ultimatum: Willst du jetzt schlafen?« – Ich will. Ich kann nicht. – »Warum kannst du nicht?« Weil ich jetzt ein ohnanständiges Buch beim Wickel habe . . . »Ferkel.« Lieschen, das sind keine Ausdrücke für eine junge Frau. Was weißt du überhaupt, was in mir als Mutter vorgeht . . . nein, das mußt du eigentlich sagen. Na, schlaf man.

D. H. Lawrence ›Lady Chatterley und ihr Liebhaber‹ (Subskriptionsausgabe bei E. P. Tal in Wien und Leipzig), Ich habe die Dame Lieschen belogen: dies ist durchaus kein unanständiges Buch.

Über den ganzen Lawrence kann ich nicht mitsprechen; ich kenne von ihm nur dieses eine Werk. Das Buch haben sie in England verbrannt, gevierteilt, geköpft, was weiß ich. Warum?

Lawrence schildert uns da eine englische Dame, die ihren Mann an den Krieg abgeben muß; was zurückkommt, ist kein Mann mehr, sondern ein Rollstuhl-Inhalt. Sie beginnt ein Verhältnis mit ihrem Förster; die Leute sind sehr wohlhabend. Vorher hat sie für kurze Zeit einen Emporkömmling von Schriftsteller geliebt. Und?

Und Lawrence erzählt alles: sämtliche Liebesszenen bis in die letzten körperlichen Einzelheiten. Pornographie? Nicht die Spur – es ist ein durch und durch sauberes, ein schamhaftes Buch, trotz allem. Man könnte sagen, Lawrence erzähle einfach da weiter, wo die andern ihre drei Punkte setzen, und das wäre richtig.

Es stellt sich hier nun etwas sehr Merkwürdiges heraus.

Es ist nämlich damit noch gar nichts getan. Lawrence setzt Gassenausdrücke, übrigens auch da, wo ich es für ganz und gar unmöglich halte, sie zu setzen. Gibt es wirklich eine englische Gesellschaft, in der Männer in Gegenwart der Hausfrau solche Worte sagen? Das habe ich nicht begriffen. Und auch die Liebenden exzellieren in diesem Jargon, was durchaus verständlich ist, und sie schreiben das in ernsten Briefen, was weniger verständlich ist. Aber, und das ist die Hauptsache: es kommt nichts dabei heraus.

Es langt nicht. Es wird nirgends gezwinkert, nirgends, das ist eine große Leistung – aber es langt nicht. Einmal treibt die Frau mit dem Förster jenen kleinen Fetischismus, der normal ist . . . die Szene wirkt nicht unappetitlich, sie wirkt ein wenig albern. Das sei so in Wirklichkeit? Dann fehlt hier aber viel. Und es ist sehr bezeichnend für[315] das künstlerische Unvermögen Lawrences, daß er jene Nacht, in der die Frau wirklich zur Frau wird, nicht beschreiben kann. Die ersten Sätze sind gut: »In der kurzen Sommernacht lernte sie so viel. Sie hatte gedacht, eine Frau würde dabei sterben vor Scham. Statt dessen starb die Scham« – aber dann wird es ganz banal, ganz trivial, ganz Leihbibliotheksroman. »So! Also so war das! Das war das Leben!« Du lieber Gott –

Kompliziert wird die Sache noch dadurch, daß der Übersetzer die Sprache des Försters, der im Original einen mittelenglischen Dialekt spricht, mit einer Art Gebirgsbayerisch wiedergegeben hat. Und in dieser Mundart nun erotische Eindeutigkeiten . . . es ist etwas Furchtbares. Ob das nun an dieser Sprache liegt oder an meinem Ohr . . . Neulich haben sie mir ein Buch über den bayerischen Dialekt zugeschickt. Ich habe es nicht besprochen; vielleicht habe ich für diesen Charme, Berlin anzuflegeln und gleichzeitig neckisch eine Besprechung zu erbitten, nicht das richtige Verständnis. Jedenfalls: die Partien des Försters habe ich nicht ohne eine leichte Übelkeit gelesen. Dazu kommt, daß Lawrence nicht viel von den sieben Arten der Liebe weiß; sein erotisches Repertoire ist noch kleiner als das der Natur.

Sein Grundgefühl stimmt nicht. Lawrence muß so etwas geahnt haben, denn im Vorwort versucht er, sich gegen den Puritanismus der alten Generation und den »flotten Jazz-Menschen der jungen Generation« zu sichern . . . er hätte lieber ein gutes Buch schreiben sollen. Wären diese ›Stellen‹ nicht: von dem Roman spräche niemand, weil er wenig belangvoll ist.

Wir können doch schließlich nicht dafür, daß sie in angelsächsischen Ländern die Sexualität etwas spät entdeckt haben . . . Vielleicht ist das Werk für England eine Tat oder wie man das nennt. Im Zeitalter der ausgebauten Sexualwissenschaften aber ist es gar keine; dort steht alles viel klarer, viel besser, viel durchsichtiger – und gestaltet ist hier wenig. Daß sich Amor die Augen zuhält, ist nicht nur ein kitschiges Ornament, wie jeder weiß, der etwas davon weiß. Ich habe Pornographien Toulouse-Lautrecs gesehen – sie waren langweilig. Daneben aber hing der Halbakt einer Frau, vor einer Waschschüssel, und ein Meer von Frau lag darin, Fleisch, Duft, Härchen, Körper und das ganze Mysterium der Liebe. Es kommt nicht darauf an, alles auszusprechen. Es kommt darauf an, alles zu wissen oder doch vieles. Was Lawrence über die Liebe weiß, das ihm Selbstverständliche, ist schrecklich selbstverständlich. Ja, ja . . . so werden die Kinder gemacht . . . das ist wahr. Die Pantomime freilich ist überall gleich; der Unterschied zwischen Romeo und Julia und einem Paar unter den Brücken von Paris steckt nicht im Anatomischen. Er steckt im Kopf. 450 Seiten und so viel Arbeit und so viel Wagemut . . . und so wenig Liebe.

»Das ist ein Scheidungsgrund. Liest hier säuische Bücher in der[316] Nacht, statt zu schlafen. Ach, es ist ja . . . « Nur noch ein Buch. Dann, Lieschen, mache ich bestimmt das Licht aus.

G. K. Chesterton ›Der unsterbliche Mensch‹ (erschienen bei Carl Schünemann in Bremen). Eine Katholikin schrieb mir dazu: »Chesterton, der, soviel ich weiß, Konvertit ist, versucht hier, mit den gleichen Mitteln, wie ihr das macht, und mit großer Kenntnis, den umgekehrten Feldzug zu führen, mit achselzuckender Leichtigkeit, so, wie ihr das macht, und so stellt er seine Gegner als Trottel hin. Nun seid ihr einmal dran.« Hm –

Ich habe Chesterton einst sehr geliebt. Seine witzigen Kriminalgeschichten beiseite, die heute noch höchst amüsant sind – was da in ›Ketzern‹ und ›Häretikern‹ gestanden hat, das war von keinem schlechten Vater. Seine Gesinnung hat sich auch gar nicht geändert. Aber der alte Knabe wird sauer. Er ist genau das, was er so vielen andern zu sein vorwirft: ein Literat in jenem übeln Nebensinne, den das Wort mit sich herumführt. Was Chesterton zum Beispiel über Rußland sagt, strotzt von Kenntnislosigkeit, und seine Diskussionen mit dem alten Shaw über Sozialismus waren ein Waschweiberkram, mit dem wir gar nichts anfangen können. Ach, sie sind ja so witzig und so englisch! und so irisch! und es ist überhaupt eine Freude. Und unterdes liegen die Arbeiter auf der Straße und dürfen sich an diesen feinen Geistern ergötzen.

Was er in diesem Buch treibt, ist . . . wie soll ich das nennen? Es ist wiener Kaffeehaus mit umgekehrtem Vorzeichen. Es wird bewiesen . . . Als ob man nicht alles, aber auch alles auf der Welt beweisen kann! Es sind einfach Dummheiten darin, die bei einem so klugen und gebildeten Menschen gradezu überraschen. So der Vergleich der Wahrheit mit einem Schlüssel, gelegentlich des Buddhismus . . . das ist eine blanke Albernheit, weil man mit solchen alten Kunstgriffen der Scholastik, die außerdem auch noch Trugschlüsse sind, nichts beginnen kann. Ich habe polternde Schriftsteller gern; der alte Johannes Scherr oder Schopenhauer, der – neben allem andern – manchmal auch dahergepoltert kam, sind mir teure Weggenossen. Und daß hier einer auf uns herumhackt, würde mich erst recht nicht stören. Aber es ist so eindeutig dumm; das Christus-Schach, das der da spielt, müßte, wie das ganze Buch, einen wirklich gläubigen Katholiken eigentlich entsetzen. Mich hat es entsetzt; ich bin viel frömmer als er, dieser schachernde Mystiker. Schreit da den Katholizismus aus wie ein paar alte Hosen . . . ! Er ziehe sich schleunigst neue an; diese sind durchgewetzt, und mißtönendes Geschrei macht sie auch nicht neuer. Seht doch, wie er fuchtelt! hört doch, wie er ›beweist‹, es gebe einen Gott – ungefähr so, wie der Kaufmann uns beweist, daß er an dieser Ware zusetzt. Ja doch. Du setzt zu. Du verlierst an allem, was du verkaufst. Und wovon leben Sie? »Na, Sonnabends habe ich doch geschlossen . . . !« Welch ein katholischer Jude! Leuchtet ihm die Religion? Gott[317] segne ihn. Wir andern sehen nur dies: Wo auch immer die Kirche politisch herrscht, jedesmal, wenn sie in den Schulen und auf den Universitäten regiert, dann – ja, was geschieht dann?

Dann, Lieschen, können wir getrost das Licht ausmachen.


  • · Peter Panter
    Die Weltbühne, 09.12.1930, Nr. 50, S. 859.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 8, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 309-318.
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