Märchen

[261] Ihr habt gehört die Kunde

Vom Fräulein, welches tief

In eines Waldes Grunde

Manch hundert Jahre schlief.

Den Namen der Wunderbaren

Vernahmt ihr aber nie,

Ich hab ihn jüngst erfahren:

Die deutsche Poesie.


Zwo mächt'ge Feen nahten

Dem schönen Fürstenkind,

An seine Wiege traten

Sie mit dem Angebind.

Die erste sprach behende:

»Ja, lächle nur auf mich!

Ich gebe dir frühes Ende

Von einer Spindel Stich.«


Die andre sprach dagegen:

»Ja, lächle nur auf mich!

Ich gebe dir meinen Segen,

Der heilt den Todesstich;

Der wird dich so bewahren,

Daß süßer Schlaf dich deckt,

Bis nach vierhundert Jahren

Ein Königssohn dich weckt.«


Da ward ins Reich erlassen

Ein feierlich Gebot,

Verkündet in allen Straßen,

Der Tod darauf gedroht:

Wo jemand Spindeln hätte,

Die sollte man liefern ein

Und sie an offner Stätte

Verbrennen insgemein.


Nicht nach gewohnter Sitte

Erzog man dieses Kind

In dumpfer Kammern Mitte[261]

Noch sonst, wo Spindeln sind;

Nein! in den Rosengärten,

In Wäldern, frisch und kühl,

Mit lustigen Gefährten

Bei freiem, kühnem Spiel.


Und als es kam zu Jahren,

Ward es die schönste Frau,

Mit langen, goldnen Haaren,

Mit Augen dunkelblau,

In Gang, Gebärde züchtig,

In Reden treu und schlicht,

In aller Arbeit tüchtig,

Nur mit der Spindel nicht.


Viel stolze Ritter gingen

Der Holden Dienste nach,

Heinrich von Ofterdingen,

Wolfram von Eschenbach.

Sie gingen in Stahl und Eisen,

Goldharfen in der Hand;

Die Fürstin war zu preisen,

Die solche Diener fand.


Mit Degen und mit Speere

Waren sie stets bereit,

Den Frauen gaben sie Ehre

Und sangen widerstreit.

Sie sangen von Gottesminne,

Von kühner Helden Mut,

Von lindem Liebessinne,

Von süßer Maienblut.


Von alter Städte Mauern

Der Widerhall erklang,

Die Bürger und die Bauern

Erhuben frischen Sang.

Der Senne hat gesungen,

Der über den Wolken wacht,

Ein Lied ist aufgeklungen

Tief aus des Bergmanns Schacht.
[262]

In einer Mainacht blinkten

Die Sterne wunderschön,

Der Fürstin war, als winkten

Sie ihr zu Turmes Höhn;

Sie stieg hinauf zum Dache,

Die Zarte ganz allein,

Da fiel aus einem Gemache

Ein trüber Lampenschein.


Ein Weiblein, grau von Haaren,

Dort an dem Rocken spann,

Sie hatte wohl nichts erfahren

Vom strengen Spindelbann.

Die Fürstin, die noch nimmer

Gesehen solche Kunst,

Sie trat in Weibleins Zimmer:

»Wer bist du, mit Vergunst?«


»Man nennt mich, schönes Liebchen!

Die Stubenpoesie;

Denn aus dem trauten Stübchen

Verirrt ich mich noch nie.

Ich sitz am lieben Platze

Beim Rocken, wandellos,

Meine alte, blinde Katze

Die spinnt auf meinem Schoß.


Lange, lange Lehrgedichte,

Die spinn ich recht mit Fleiß,

Flächsene Heldengedichte,

Die haspl ich schnellerweis.

Mein Kater maut Tragödie,

Mein Rad hat lyrischen Schwung,

Meine Spindel spielt Komödie

Mit Tanzbelustigung.«


Die Fürstin tät erbleichen,

Als man von Spindeln sprach,

Sie wollte flugs entweichen,

Die Spindel sprang ihr nach;

Und an der morschen Schwelle,[263]

Da fiel das Fräulein jach,

Die Spindel auf der Stelle

Sie in die Ferse stach.


Was war das für ein Schrecken,

Als man sie morgens traf!

Sie war nicht mehr zu wecken,

Sie schlief den Zauberschlaf.

Ein Lager ward bereitet

Im hohen Rittersaal,

Goldstoffe drauf gebreitet

Und Rosen ohne Zahl.


So schlief sie in der Halle,

Die Fürstin, reich geschmückt.

Bald hatte die andern alle

Der gleiche Schlaf berückt.

Die Sänger, schon in Träumen,

Rührten die Saiten bang,

Bis in des Schlosses Räumen

Der letzte Laut verklang.


Die Alte spann noch immer

Im stillen Kämmerlein,

Es woben in jedem Zimmer

Die Spinnen, groß und klein.

Die Hecken und Ranken woben

Sich um den Fürstenbau,

Und um den Himmel oben,

Da spann sich Nebelgrau. –


Wohl nach vierhundert Jahren,

Da ritt des Königs Sohn

Mit seinen Jägerscharen

Ins Waldgebirg davon:

»Was ragen doch da innen

Ob all dem hohen Wald

Für graue Türm und Zinnen

Von seltsamer Gestalt?«


Am Wege stund gerade

Ein alter Spindelmann:[264]

»Erlauchter Prinz, um Gnade!

Hört meine Warnung an!

Romantische Menschenfresser

Hausen auf jenem Schloß,

Die mit barbarischem Messer

Abschlachten klein und groß.«


Der Königssohn verwegen

Tät mit drei Jägern ziehn,

Sie hieben mit den Degen

Sich Bahn zum Schlosse hin.

Gesenket war die Brücke,

Geöffnet war das Tor,

Daraus im Augenblicke

Ein Hirschlein sprang hervor.


Denn in des Hofes Räumen,

Da war es wieder Wald,

Da sangen in den Bäumen

Die Vögel mannigfalt.

Die Jäger ohn Verweilen,

Sie drangen mutig hin,

Wo eine Tür mit Säulen

Aus dem Gebüsch erschien.


Zween Riesen schlafend lagen

Wohl vor dem Säulentor,

Sie hielten, ins Kreuz geschlagen,

Die Hellebarden vor,

Darüber rüstig schritten

Die Jäger allzumal,

Sie gingen mit kecken Tritten

Zu einem großen Saal.


Da lehnten in hohen Nischen

Geschmückter Frauen viel,

Gewappnete Ritter dazwischen

Mit goldnem Saitenspiel.

Hohmächtige Gestalten,

Geschloßnen Auges, stumm,

Grabbildern gleich zu halten

Aus grauem Altertum.
[265]

Und mitten ward erblicket

Ein Lager, reich von Gold,

Da ruhte, wohlgeschmücket,

Eine Jungfrau wunderhold.

Die Süße war umfangen

Mit frischen Rosen dicht,

Und auch von Mund und Wangen

Schien zartes Rosenlicht.


Der Königssohn, zu wissen,

Ob Leben in dem Bild,

Tät seine Lippen schließen

An ihren Mund so mild.

Er hat es bald empfunden

Am Odem, süß und warm,

Und als sie ihn umwunden,

Noch schlummernd, mit dem Arm.


Sie streifte die goldnen Locken

Aus ihrem Angesicht,

Sie hob, so süß erschrocken,

Ihr blaues Augenlicht.

Und in den Nischen allen

Erwachen Ritter und Frau,

Die alten Lieder hallen

Im weiten Fürstenbau.


Ein Morgen, rot und golden,

Hat uns den Mai gebracht;

Da trat mit seiner Holden

Der Prinz aus Waldesnacht.

Es schreiten die alten Meister

In hehrem, stolzem Gang

Wie riesenhafte Geister

Mit fremdem Wundersang.


Die Täler, schlummertrunken,

Weckt der Gesänge Lust;

Wer einen Jugendfunken

Noch hegt in seiner Brust,

Der jubelt, tief gerühret:[266]

»Dank dieser goldnen Früh,

Die uns zurückgeführet

Dich, deutsche Poesie


Die Alte sitzt noch immer

In ihrem Kämmerlein;

Das Dach zerfiel in Trümmer,

Der Regen drang herein.

Sie zieht noch kaum den Faden,

Gelähmt hat sie der Schlag;

Gott schenk ihr Ruh in Gnaden

Bis über den jüngsten Tag!
[267]

Quelle:
Ludwig Uhland: Werke. Band 1, München 1980, S. 261-268.
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