[195] Die Reise des Delphin war bis jetzt sehr glücklich und mit staunenswerther Schnelligkeit von Statten gegangen, es war dies das erste Schiff, das sich in Sicht zeigte und von der Wache signalisirt wurde.
Der Delphin befand sich gerade unter 32°15' Br. und 57°43' L. westl. von dem Meridian von Greenwich, er hatte also bereits drei Fünftel seiner Fahrt zurückgelegt. Seit achtundvierzig Stunden bedeckte ein Nebel, der jetzt zu steigen begann, die Wasser des Oceans; wenn der Delphin auch einerseits von diesem Nebel begünstigt, das heißt verborgen wurde, so hinderte derselbe ihn andererseits, das Meer auf eine weite Fläche hin zu beobachten, und er konnte, um sich so auszudrücken, Bord an Bord mit Schiffen fahren, die er allen Grund hatte zu meiden.
Dieser letztere Fall war nun eingetroffen, denn das signalisirte Schiff befand sich in einer Entfernung von kaum drei Meilen1 vor dem Winde.
Als James Playfair die Kreuzhölzer erreicht hatte, bemerkte er auf einer lichten Stelle deutlich eine große, nordstaatliche Corvette, die mit vollem Dampfe arbeitete und auf den Delphin zusteuerte, um ihm den Weg abzuschneiden.
Nachdem der Kapitän das Schiff sorgfältig beobachtet hatte, stieg er wieder auf's Verdeck herab und ließ seinen Obersteuermann kommen.
»Was halten Sie von diesem Schiff, Herr Mathew? begann er.
– Ich kann nichts anderes annehmen, Herr Kapitän, als daß es ein Dampfer der nordstaatlichen Marine ist, der unsere Absichten beargwöhnt.
– Ueber seine Nationalität ist allerdings kein Zweifel mehr möglich da, sehen Sie!«
Wirklich wurde soeben an der Gaffel auf der Corvette die Sternflagge der Vereinigten Staaten von Nordamerika aufgezogen, und ihre Echtheit mit einem Kanonenschuß verificirt.[195]
»Das ist so viel wie eine Einladung, unsere Farben zu zeigen, sagte Mr. Mathew. Das können wir ja thun, wir brauchen uns ihrer nicht zu schämen.
– Aber zu welchem Zweck, Mr. Mathew? Unsere Flagge würde uns nicht decken und die Leute keinen Augenblick davon abhalten, uns ihren Besuch abzustatten. Nein, ich halte es für besser, darauf zuzufahren.
– Und wir müssen eilen, versetzte Mr. Mathew; wenn mich meine Augen nicht trügen, habe ich diese Corvette schon in der Umgegend von Liverpool bemerkt, wo sie sich aufhielt, um den Bau einiger Fahrzeuge zu überwachen. Ich will nicht Mathew heißen, wenn auf dem Gemälde seines ›Taffrail‹2 nicht ›Der Irokese‹ steht.
– War es ein guter Segler?
– Mit einer der Besten von der ganzen nordstaatlichen Marine?
– Wie viel Kanonen führt er?
– Acht.
– Oho!
– Verlassen Sie sich darauf, Kapitän, erwiderte Mathew mit ernsthaftem Ton; von den acht Kanonen gehen zwei auf Angeln, die eine, ein Sechzigpfünder, steht auf der Schanze, die andere, ein Hundertpfünder, auf dem Verdeck? beide gezogen.
– Teufel! rief James Playfair, es sind Parrotts; sie tragen drei Meilen weit!
– Drei Meilen und weiter, Kapitän.
– Nun, Herr Mathew, ob es nun Hundertpfünder oder Vierpfünder sind, ob sie drei Meilen oder fünfhundert Ellen weit tragen, wenn wir schnell genug fahren, um ihren Kugeln zu entgehen, kann uns das gleichgiltig lassen. Wir wollen diesem Irokesen zeigen, was ein Dampfer vermag, der eigens zum Schnellfahren gebaut ist. Lassen Sie die Feuer schüren.«
Der Obersteuermann übermittelte sofort dem Ingenieur3 die Befehle des Kapitäns und bald wirbelten schwarze Rauchsäulen über den Schornsteinen des Steamers.
Diese Symptome schienen dem Geschmack der Corvette nicht zu behagen, denn sie gab dem Delphin ein Zeichen back zu legen. Aber James Playfair[196] kümmerte sich um diese Anweisung äußerst wenig und änderte die Richtung seines Schiffes nicht im Geringsten.
»Jetzt wollen wir sehen, wozu sich der Irokese entschließen wird, er hätte die schönste Gelegenheit, seinen Hundertpfünder zu versuchen und zu erproben, wie weit er trägt. Allen Dampf beigesetzt!
– Gut! meinte Mr. Mathew, wir werden bald schöne Grüße bekommen.«
Als der Kapitän auf das Deckzimmer zurückkam, sah er Miß Halliburli, die ruhig neben dem Geländer saß.
»Miß Jenny, wandte er sich an sie, wir werden sehr wahrscheinlich von der Corvette, die Sie dort vor dem Winde sehen, verfolgt werden, und da sie sich uns voraussichtlich mit Kanonenschüssen verständlich machen wird, erlaube ich mir, Ihnen meinen Arm zu bieten, um Sie in Ihre Cajüte zurückzuführen.
– Ich sage Ihnen meinen besten Dank, Herr Playfair, antwortete das junge Mädchen, indem es ruhig zu dem Kapitän aufblickte, aber ein Kanonenschuß macht mich nicht erzittern.
– Die Sache kann aber trotz der Entfernung gefährlich werden, Miß.
– O! ich bin nicht zu dem furchtsamen Mädchen erzogen worden, für das Sie mich zu halten scheinen, wir werden in Amerika an Alles gewöhnt, und ich versichere Ihnen, daß ich bei den Kugeln des Irokesen ruhig und ohne Furcht bleiben werde.
– Sind Sie muthig, Miß Jenny.
– Wenn Sie das zugeben, werden Sie mir auch gestatten, hier bei Ihnen zu bleiben; nicht wahr, Herr Playfair?
– Es liegt mir fern, Ihnen Etwas zu verweigern, Miß Halliburli«, erwiderte der Kapitän, als er die ruhige Sicherheit des jungen Mädchens sah.
Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als aus den Verschanzungen der nordstaatlichen Corvette ein weißer Dampf aufstieg, aber bevor das Krachen bis zum Delphin herüberschallte, schoß ein cylindro-konisches Projectil, das sich mit wirbelnder Geschwindigkeit um sich selbst drehte, auf den Steamer zu. Man konnte das Geschoß auf seiner Bahn verfolgen, da es sich mit relativer Langsamkeit fortbewegte, denn die Projectile kommen weniger rasch aus der Mündung gezogener Kanonen, als aus jeder anderen mit glattem Rohr.[197]
Als das Projectil nur noch in einer Entfernung von zwanzig Klaftern4 stand, senkte sich seine Flugbahn sehr merklich, und es streifte die Wogen, indem es auf seinem Wege eine Reihe kleiner Wasserfälle bildete; dann gerieth es in neuen Schwung, sprang wieder bis zu einer gewissen Höhe empor, ging über den Delphin fort, indem es den Steuerbordarm der Fockraa durchschnitt, fiel dreißig Klafter5 jenseits des Schiffes wieder herab und versank in den Fluthen.
»Teufel! rief James Playfair, vorwärts! vorwärts! die zweite Kugel wird nicht lange auf sich warten lassen.
– Nun, es bedarf schon einer gewissen Zeit, um solch ein Geschützstück wieder zu laden, bemerkte Mr. Mathew.
– Das ist wahrhaftig interessant mit anzusehen, meinte Crockston, der wie ein ganz unbetheiligter Zuschauer mit übereinandergeschlagenen Armen der Scene beiwohnte. Und dabei muß man sich nun sagen, daß unsere Freunde uns mit solchen Zusendungen beehren.
– Ah! Du bist es! rief James Playfair, indem er den Amerikaner vom Kopf bis zu den Füßen maß.
– Ja, freilich, Herr Kapitän, erwiderte der Amerikaner, ohne sich im Geringsten aus dem Concept bringen zu lassen; ich will mir auch mit ansehen, wie die braven Nördlinger schießen. Nicht übel, wahrhaftig, gar nicht übel!«
Die Antwort des Kapitäns wäre wohl ziemlich unverblümt ausgefallen, aber eben jetzt wurde seine Aufmerksamkeit abgelenkt, denn ein zweites Projectil schlug quer durch die Steuerbord-Wölbung in's Meer.
»Ausgezeichnet! rief James Playfair; wir haben schon zwei Kabellängen vor dem Irokesen voraus. Deine Freunde fahren wie auf einer Boje, Meister Crockston, hörst Du?
– Das kann ich nicht bestreiten, versetzte der Amerikaner, und zum ersten Mal in meinem Leben ist mir das sehr angenehm.«
Eine dritte Kugel blieb weit hinter den beiden ersten zurück, und in weniger als zehn Minuten war der Delphin außer Schußweite der Kanonen auf dem Corvettendampfer.
»Das wiegt alle ›Patent-logs‹ der Welt auf, Herr Mathew, sagte James Playfair mit großer Befriedigung. Dank diesen Kugeln wissen wir nun, was[198] wir an Schnelligkeit leisten können. Lassen Sie jetzt die Feuer im Hintertheil mäßigen, wir wollen Feuerungs-Material nicht unnöthig verschwenden.
– Sie haben ein gutes Schiff unter Ihrem Commando, wandte sich jetzt Miß Halliburli an den jungen Kapitän.
– Ja, Miß Jenny, der Delphin legt mit Bequemlichkeit seine siebenzehn Knoten zurück, und noch ehe sich heute der Tag zu Ende neigt, werden wir diese Corvette der Nordstaaten aus dem Gesicht verloren haben.«
James Playfair übertrieb nicht, als er so die nautischen Vorzüge seines Fahrzeuges rühmte; die Sonne war noch nicht untergegangen, als die Mastspitzen des amerikanischen Schiffes hinter dem Horizont verschwanden.
Miß Halliburli's Benehmen bei diesem Zwischenfall hatte dem Kapitän ihren Charakter von einer ganz andern Seite gezeigt, auch war das Eis der kühlen Zurückhaltung mit der Stunde gemeinsamer Gefahr dahingeschmolzen, und der Verkehr zwischen Kapitän Playfair und seiner jungen Reisegefährtin gestaltete sich von nun an bei Weitem zwangloser und angenehmer, ihre Unterhaltungen wurden immer häufiger und von längerer Dauer.
Jenny Halliburli zeigte sich dem jungen Kapitän mehr und mehr als ein ruhiges, kraftvolles Mädchen, das verständig nachdachte, nach Art der Amerikaner freimüthig ihre Gedanken aussprach, sich so ziemlich über Alles, was ihr zugänglich war, ihre eigene Ansicht bildete und diese mit einer Ueberzeugung zur Geltung brachte und vertheidigte, die James Playfair in manchen Beziehungen unwillkürlich beeinflußte.
Die junge Dame war ihrem Vaterlande mit großer Liebe ergeben und verfocht begeisterungsvoll die Idee der Union, sowie ihre Ueberzeugung in Bezug auf den amerikanischen Krieg.
Es geschah bei solchen Gelegenheiten mehrmals, daß James Playfair ihr nicht sogleich zu entgegnen wußte, denn oft fanden sich die Ansichten des »Geschäftsmannes« in argem Dilemma; Jenny griff sie oft mit schonungslosem Nachdruck an und wollte auf keinen Compromiß eingehen. Anfangs discutirte James sehr eifrig und versuchte die Conföderirten gegen die Nordstaatlichen zu vertheidigen und zu beweisen, daß das Recht auf Seite der Secessionisten sei; auch versicherte er, daß Leute, die freiwillig eine Vereinigung eingegangen seien, sich auch ebenso wieder trennen könnten. Das Fräulein aber wollte in diesem Punkte nicht nachgeben; sie bewies, daß die Sklavenfrage in diesem Kampf der Amerikaner des Nordens gegen die des[199] Südens als die Hauptsache zu betrachten sei, daß es sich weit mehr um die Principien der Sittlichkeit und Humanität, als um die der Politik handle, und James mußte ihre Behauptungen zugeben, ohne die seinigen aufrecht halten zu können.
Uebrigens begnügte er sich bei diesen Erörterungen meistens damit, zuzuhören; ob er hiebei mehr von den Beweisgründen Miß Jenny's hingerissen wurde oder von dem Zauber ihrer Rede und ihres Wesens, mag dahingestellt[200] bleiben; schließlich aber mußte er anerkennen, daß die Sklavenfrage im Kriege der Vereinigten Staaten ein hauptsächliches Moment sei, und daß sie als ein letzter Ueberrest barbarischer Zeiten gelöst werden müsse.
Indessen, wie schon erwähnt, die politische Meinung des Kapitäns war ihm nicht von großem Belang, und vielleicht hätte er noch weit ernstere Ideen Argumenten geopfert, die in so fesselnder Form vorgetragen wurden; er gab also seine Ansichten auf diesem Gebiet leicht auf. Aber hiermit war[201] es noch nicht genug; Miß Jenny griff direct seine nächsten Interessen an und opponirte gegen die Handelsbestimmung des Delphin, in Bezug auf die Kriegsmunition, die er den Conföderirten zuführte.
»Ja, Herr James, erklärte Miß Halliburli eines Tages, die Dankbarkeit gegen Sie kann mich nicht daran hindern, offen und freimüthig meine Meinung auszusprechen, im Gegentheil: gerade weil Sie ein tüchtiger Seemann und gewandter Kaufmann sind, und weil das Haus Playfair seiner Ehrenhaftigkeit wegen weit und breit berühmt ist, bedaure ich um so mehr, daß es mit dieser Operation gegen seine Principien verstößt.
– Wie! rief James, Sie behaupten, daß das Hans Playfair kein Recht hätte, bei dieser Gelegenheit seine Handelsinteressen wahrzunehmen?
– Gewiß behaupte ich das; der Delphin führt den Unglücklichen, die in offener Empörung gegen die geordnete Regierung des Landes begriffen sind, Kriegsmunition zu, und das heißt so viel, als einer schlechten Sache Waffen leihen.
– Nun, Miß Jenny, ich will nicht weiter mit Ihnen über das Recht der Conföderirten disputiren, aber meine Entgegnung ist, daß ich Geschäftsmann bin und mich als solcher von den Interessen meines Hauses leiten lasse, ich suche überall Gewinn, wo er sich bietet.
– Das gerade ist sehr tadelnswerth, Herr James, fiel das junge Mädchen ein; der Gewinn entschuldigt nicht. In diesem Augenblick, wo Sie den Leuten des Südens die Mittel liefern, einen verbrecherischen Krieg fortzusetzen, sind Sie ebenso strafbar, als wenn Sie den Chinesen Opium lieferten, der sie zu Thieren erniedrigt.
– Nein, Miß Jenny, dies Mal sind Sie aber wirklich zu schroff, und ich kann nicht zugeben ...
– Was ich sage, ist vollkommen richtig, Herr Kapitän, und wenn Sie die Sache objectiv ansehen, und über die Folgen Ihrer Handlungsweise nachdenken wollten, für die Sie in den Augen jedes Urtheilsfähigen verantwortlich sind, so werden Sie mir auch in diesem Punkte Recht geben müssen.«
James Playfair stand bei diesen Worten des jungen Mädchens ärgerlich und ein wenig consternirt da. Er verabschiedete sich ohne ein weiteres Wort, denn er wußte auf solche Beweisgründe Nichts zu erwidern, und schmollte eine halbe Stunde, wenn es hoch kam, ein Stündchen, um dann wieder zu Fräulein Jenny zurückzukehren und sich ihren Beweisgründen und ihrem liebenswürdigen Lächeln von Neuem auf Gnade und Ungnade zu ergeben.[202]
Kurz, obgleich Kapitän James Playfair es sich selber nicht eingestand, war seine Unabhängigkeit dahin, und man konnte ihn nicht mehr »den Herrn nächst Gott« an Bord seines Schiffes nennen.
Auch die Angelegenheiten Mr. Halliburli's schienen sich zu Crockston's großem Jubel äußerst günstig zu gestalten, der Kapitän war augenscheinlich entschlossen, Alles in's Werk zu setzen, was zur Befreiung von Miß Jenny's Vaters dienen konnte, und sollte auch der Delphin darüber Ladung und Mannschaft auf's Spiel setzen und der Zorn des würdigen Onkels Vincent heraufbeschworen werden.
1 5556 Meter, etwas über 5 1/2 Kilometer.
2 Name für das Hintertheil der amerikanischen Schiffe.
3 Titel für den Maschinisten der englischen Marine.
4 37 1/2 Meter.
5 56 1/4 Meter.
Buchempfehlung
Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
106 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro