[229] André Vasling hatte mit den beiden norwegischen Matrosen Freundschaft geschlossen, und auch Aupic nahm an ihrem Bunde Theil, hielt sich mit ihnen von der übrigen Mannschaft entfernt und tadelte wie sie laut alle neuerdings getroffenen Maßregeln; aber Ludwig Cornbutte, der von seinem Vater wieder den Oberbefehl über die Brigg erhalten hatte, und der somit Herr an Bord war, verstand in diesem Punkt keinen Scherz; er sprach sich, trotz Marien's Bitten, glimpflich mit den Leuten zu verfahren, sehr entschieden dahin aus, daß er in jeder Beziehung den strengsten Gehorsam verlange.
Nichtsdestoweniger gelang es zwei Tage später den Norwegern, sich einer Kiste mit gesalzenem Fleisch zu bemächtigen, und als Ludwig Cornbutte die sofortige Rückgabe derselben verlangte, machte Aupic gemeinschaftliche Sache mit den Kerlen, und André Vasling gab sogar zu verstehen, daß die eingeführte Ernährungsweise nicht länger fortdauern dürfe.
Cornbutte suchte den Unglücklichen nun zu beweisen, daß die getroffenen Maßregeln nur das gemeinsame Interesse im Auge hatten; aber das war vergebens, die Leute hatten das gar wohl gewußt und nur einen Vorwand zur Auflehnung gesucht. Die beiden Norweger zogen nun ihre Messer, aber[229] Penellan ließ sich dadurch nicht zurückschrecken, ging auf sie los und entriß ihnen mit Misonne's und Turquiette's Hilfe die Fleischkiste, ohne daß André Vasling und Aupic, da sie sahen, daß die Geschichte übel ablief, sich hineinmischten. Dennoch nahm Ludwig Cornbutte den Obersteuermann bei Seite und sagte:
»André Vasling, Sie sind ein Schuft! Ich kenne Ihr ganzes Verhalten und weiß sehr wohl, was ich von Ihnen zu erwarten habe; da auf mir jedoch die ganze Verantwortung für das Wohl der Mannschaft liegt, so erkläre ich Ihnen hiermit, daß ich Jeden mit eigener Hand erdolchen werde, der es wagt, gegen mich und meine Anordnungen zu conspiriren!«
Marie hatte sich bis jetzt noch nie vor den Gefahren des Eismeeres gefürchtet, aber dieser Haß, von dem sie sich sagen mußte, daß er ihretwegen entbrannt war, machte sie erbeben; Ludwig Cornbutte konnte sie kaum wieder beruhigen.
Trotz der Kriegserklärung wurden die Mahlzeiten zur bestimmten Stunde und wie ehemals gemeinsam eingenommen. Durch die Jagd hatte man in der ersten Zeit noch einige Schneehühner und weiße Hafen erhalten, aber bald sollte auch diese Hilfsquelle noch versiegen, denn die Kälte wurde unerträglich. Sie setzte am 22. December mit der Sonnenwende ein, und das Thermometer zeigte an diesem Tage fünfunddreißig Grad unter Null. Die Seeleute bekamen Schmerzen in den Ohren, der Nase und allen Extremitäten und wurden von so tödtlicher Starrheit und so heftigen Kopfschmerzen ergriffen, daß das Athmen ihnen immer schwerer wurde.
In diesem Zustande hatten die Leute nicht mehr den Muth, auf Jagd auszugehen oder sich andere Bewegung im Freien zu machen; sie kauerten sich um den Ofen, der nur sehr ungenügende Wärme ausstrahlte, und fühlten, sowie sie sich von ihm entfernten, ihr Blut auf's Neue erstarren.
Johann Cornbutte fühlte sich am Meisten angegriffen; er konnte seine Wohnung nicht verlassen, und alle Symptome des Scorbuts traten bei ihm auf; seine Beine bedeckten sich mit weißlichen Flecken. Marie war wohlauf und sehr thätig; sie pflegte die Kranken so geschickt und liebevoll, wie eine barmherzige Schwester, und erntete dafür Dank und Verehrung von allen Seiten.
Der 1. Januar wurde den Nordpolfahrern zu einem der trübsten Tage; das Wetter war unerträglich kalt und sehr stürmisch; man konnte nicht[230] ausgehen, ohne sich dem Erfrieren auszusetzen, und nur die Muthigsten wagten, auf dem Verdeck, das von dem Zelt geschützt wurde, spazieren zu gehen. Johann Cornbutte, Gervique und Gradlin durften nicht daran denken, ihr Bett zu verlassen. Die beiden Norweger, Aupic und André Basling befanden sich frisch und gesund; sie blickten zuweilen wild und schadenfroh auf ihre Gefährten, die so elend dahinsiechten.
Ludwig Cornbutte führte Penellan auf das Verdeck und fragte ihn, wie es mit dem Feuerungsmaterial stände.
»Die Kohlen sind schon lange aufgebraucht, antwortete dieser; wir verbrennen jetzt unsere letzten Holzstücke.
– Wenn es uns nicht gelingt, diese Kälte zu bekämpfen, sind wir verloren, äußerte Cornbutte.
– Es bleibt uns nur noch ein Mittel übrig, bemerkte Penellan; wir müssen alles nur entbehrliche Holzwerk von den Verschanzungen bis zur Wassertracht herab auf unserer Brigg verbrennen; im Fall der größten Noth können wir sie sogar gänzlich zerstören und ein kleineres Fahrzeug construiren.
– Dies wäre ein nur im äußersten Falle anwendbares Mittel, entgegnete Ludwig Cornbutte, zu dem man nur schreiten könnte, wenn unsere Leute wieder gesund werden; leider aber nehmen unsere Streitkräfte sichtlich ab, während die Partei unserer Feinde sich zu stärken scheint. Es ist das ziemlich auffallend!
– Ich habe ganz dieselbe Bemerkung gemacht, gab Penellan zu; ich glaube, wenn wir nicht so vorsichtig Tag und Nacht wachten, könnten wir in große Gefahr kommen.
– Nehmen wir jetzt Beile zur Hand, um Holzernte zu halten«, sagte Ludwig Cornbutte. Und trotz der Kälte erstiegen beide Männer die Verschanzungen des Vorderdecks und hieben alles Holz herunter, das nicht von unentbehrlichem Nutzen für das Schiff war.
Dann kamen sie mit Brennmaterial beladen wieder zurück, der Ofen erhielt neue Nahrung, und ein Mann mußte als Wache bei ihm zurückbleiben, damit das Feuer nicht ausginge.
Ludwig Cornbutte und seine Freunde waren halbtodt vor Erschöpfung; denn da sie ihren Feinden nicht die geringste Arbeit anvertrauen konnten, lag[231] die ganze Last der häuslichen Sorgen allein auf ihnen. Binnen Kurzem kam auch die Scorbutkrankheit bei dem alten Kapitän Cornbutte zum Vorschein, und er litt unbeschreiblich davon. Gervique und Gradlin spürten gleichfalls Anzeichen des schrecklichen Uebels, und ohne den reichlichen Vorrath an Citronensaft wären die Armen jedenfalls schnell ihren Leiden erlegen; so aber brauchte man mit diesem wirksamen Mittel nicht zu sparen.[232]
Eines Tages jedoch – es war am 15. Januar – als Ludwig Cornbutte in die Kombüse hinabstieg, um neue Citronen zu holen, erstarrte er fast vor Schrecken – die Citronenfässer waren verschwunden. Er ging wieder hinauf, um Penellan das Unglück mitzutheilen, und Beide wußten für dies Räthsel nur eine Lösung: Es war ein Diebstahl begangen worden; über die Thäter befanden sie sich keinen Augenblick in Zweifel. Jetzt begriff Ludwig,[233] wie es kam, daß die Feinde so gesund geblieben waren, aber es stand nicht mehr in seiner Macht, ihnen die Citronen zu entreißen, obgleich sein und seiner Gefährten Leben von ihrem Besitz abhing; zum ersten Mal verfiel er in düstere Verzweiflung.
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