Vierzehntes Capitel.
Noth und Elend.

[234] Am 20. Januar fühlten sich die meisten der Unglücklichen so schwach, daß sie ihr Bett nicht mehr verlassen konnten. Jeder hatte außer seiner wollenen Decke noch ein Büffelfell, um sich vor der Kälte zu schützen; sobald aber einer von ihnen den Versuch machte, seinen Arm unter der Decke hervorzubringen, empfand er so furchtbare Schmerzen, daß er ihn sofort wieder zurückziehen mußte.

Nachdem jedoch Ludwig Cornbutte den Ofen geheizt hatte, kamen Penellan, Misonne und André Vasling aus ihren Betten und kauerten sich um das Feuer. Penellan kochte Kaffee, und dieser gab den Matrosen wie auch dem jungen Mädchen, das dazu kam, wieder neue Kraft.

Ludwig Cornbutte ging nun an das Bett seines Vaters, der regungslos dalag, und dessen Gebeine durch die Krankheit total kraftlos geworden waren. Der arme alte Mann murmelte einige abgebrochene Worte vor sich hin, die das Herz seines Sohnes vor Weh erbeben ließen.

»Ludwig, ich werde sterben!... o, was muß ich leiden!... Rette mich!« rang es sich mühsam von seinen Lippen.

Ludwig Cornbutte faßte einen schnellen Entschluß; er ging festen Schrittes auf den Obersteuermann zu und sagte, indem er sich, so sehr es ihm möglich war, beherrschte:

»Wissen Sie, wo die Citronen sind, Vasling?

– Wahrscheinlich in der Kombüse, antwortete der Obersteuermann, ohne im Geringsten aus seiner Ruhe zu kommen.[234]

– Sie wissen sehr gut, daß die Citronen nicht mehr dort sind, rief jetzt Ludwig Cornbutte, denn Ihr Schurken habt sie gestohlen!

– Sie sind hier Herr, Ludwig Cornbutte, und können sagen und thun, was Ihnen beliebt, antwortete Vasling ironisch.

– Haben Sie Erbarmen, André; Sie sehen, daß mein Vater im Sterben liegt; Sie allein können ihn retten! Antworten Sie!

– Ich habe hier nichts zu sagen, entgegnete der Obersteuermann.

– Elender Schuft! schrie Penellan und stürzte mit dem Messer in der Hand auf Vasling zu.

– Hilfe, Hilfe, meine Leute!« rief André Vasling, indem er vor der Waffe zurückwich.

Sogleich sprangen Aupic und die beiden Norweger aus ihren Betten und stellten sich hinter ihm auf. Misonne, Turquiette, Penellan und Ludwig hatten sich ihrerseits zur Vertheidigung gerüstet. Auch Pierre Nouquet und Gradlin gesellten sich zu ihnen, obgleich sie unbeschreiblich matt und hinfällig waren.

»Noch sind sie zu stark für uns, sagte André Vasling; wir wollen warten, bis der Sieg von vorn herein unser ist!«

Die Seeleute fühlten sich so krank und muthlos, daß sie nicht wagten, die vier Elenden anzugreifen; im Fall des Unterliegens waren sie ja verloren.

»André Vasling, sagte Ludwig Cornbutte mit matter Stimme, stirbt mein Vater, so hast Du ihn gemordet, und ich bringe Dich um wie einen Hund!«

Er erhielt keine Antwort hierauf; seine Feinde hatten sich nach dem andern Ende des Logis zurückgezogen und verharrten in Schweigen.

Der Holzvorrath mußte abermals erneuert werden; Ludwig Cornbutte stieg trotz der großen Kälte auf das Verdeck und begann einen Theil der Verschanzungen abzuschneiden; nach Verlauf einer Viertelstunde mußte er jedoch davon abstehen, denn er lief Gefahr, von der Kälte übermannt zu werden. Im Vorübergehen warf er einen Blick auf das Thermometer und sah, daß es zweiundvierzig Grad unter Null zeigte. Der Wind wehte aus Norden, und das Wetter war trocken und hell.[235]

Am 26. setzte der Wind um; er kam aus Nordosten, und die Kälte sank auf fünfunddreißig Grad. Johann Cornbutte rang mit dem Tode, und sein Sohn hatte vergebens ein Heilmittel für seine Schmerzen gesucht; endlich aber gelang es ihm, André Vasling eine Citrone aus den Händen zu reißen, die dieser soeben aussaugen wollte, und der Obersteuermann gab sich nicht die geringste Mühe, um sie wieder zu erlangen; fast schien es, als warte er auf eine passende Gelegenheit, seine Pläne auszuführen.

Der Citronensaft verlieh dem alten Seemann wieder einige Kraft, aber das Mittel hätte in mehrfach wiederholten Dosen angewandt werden müssen; Marie flehte André Vasling auf den Knieen an, ihr die heilkräftigen Früchte zu geben, aber umsonst; er antwortete mit keiner Silbe auf ihre Bitten, und Penellan hörte, wie er kurze Zeit darauf zu seinen Kumpanen sagte:

»Der Alte liegt in den letzten Zügen! Gervique, Gradlin und Pierre Nouquet sind nicht viel besser daran! Die Kraft der Anderen schwindet von Tag zu Tag mehr; jetzt kommt der Augenblick heran, wo ihr Leben in unserer Hand liegt!«

Es wäre thöricht gewesen, jetzt noch länger zu zögern, und so beschlossen Ludwig Cornbutte und seine Gefährten, ihre geringe Kraft zusammenzunehmen und in der folgenden Nacht die Schurken zu tödten, um nicht von ihnen den Tod zu empfangen.

Die Temperatur war heute etwas weniger kalt, und Ludwig Cornbutte benutzte diesen Umstand zu einem Gang auf die Jagd.

Durch verschiedene Spiegelungs- und Brechungseffecte getäuscht, entfernte er sich unvorsichtigerweise weiter von dem Schiffe, als es von vorn herein seine Absicht gewesen war, und setzte, obgleich Spuren wilder Thiere auf dem Schnee ihn hätten warnen sollen, und er schon etwa drei Meilen zurückgelegt hatte, seinen Weg noch immer fort, weil er durchaus frisches Fleisch mit nach Hause bringen wollte. Da überkam ihn ein eigenthümliches Gefühl, das ihm den Kopf verwirrte und ihm unerträgliche Uebelkeit verursachte; es war dies der »Schwindel der Weiße«.

Die Rückstrahlung der Eisberge und Eisflächen erfaßte ihn nämlich mit solcher Gewalt, daß es ihm schien, als durchdringe ihn die intensiv weiße Farbe vom Kopf bis zu den Füßen; es war ihm zu Muth, als müßte er vor Weiße irrsinnig werden, so war sein Auge davon gesättigt, so schweifte sein Blick von weiß auf weiß. Aber ohne sich von dieser furchtbaren Wirkung[236] Rechenschaft zu geben, ging er weiter und störte bald ein Schneehuhn auf, das er eifrig verfolgte und auch alsbald erlegte. Der Vogel fiel herab, und Ludwig Cornbutte sprang, um ihn zu holen, von einer Eisscholle auf die Fläche nieder. Aber anstatt einen Sprung von zwei Fuß zu thun, wie die Strahlenbrechung ihm vorgespiegelt hatte, war er zehn Fuß hoch hinabgestürzt und fiel, vom Schwindel ergriffen, schwer zur Erde. Obgleich Ludwig sich hierbei nicht verletzte, begann er doch – ohne eigentlich zu wissen, weshalb – um Hilfe zu rufen, und stand erst nach einigen Minuten, als er merkte, daß die Kälte ihn übermannte und der Trieb der Selbsterhaltung die Oberhand gewann, mühsam wieder auf.

Plötzlich drang ein Duft wie von angebranntem Fett zu ihm herüber, ohne daß er sich die Entstehung desselben erklären konnte. Da der Wind von der Richtung des Schiffes her wehte, mußte er vermuthen, daß der Geruch von dort käme, fragte sich aber vergebens, zu welchem Zweck man auf der Brigg Fett verbrenne, da solche Ausdünstung durch die Anziehungskraft, die sie auf die Eisbären ausübt, sehr gefährlich werden kann.

Von dieser Sorge getrieben, schlug Ludwig Cornbutte den Rückweg nach der Jeune-Hardie ein; es war ihm eine Ahnung gekommen, und bei der hohen geistigen Erregtheit, in der er sich augenblicklich befand, verwandelte sich diese in ein Gefühl furchtbaren Schreckens. Er glaubte zu sehen, wie sich kolossale Massen am Horizonte hin und her bewegten, und fragte sich, ob abermals ein Erdbeben der Eismassen zu befürchten sei. Mehrere weiße Wolken legten sich zwischen ihn und das Schiff, ja, er nahm wahr, wie sie an der Brigg hinaufkletterten. Er blieb stehen, um das wirre Bild klarer in's Auge zu fassen, und erkannte jetzt deutlich in der vermeintlichen weißen Wolke eine Horde Eisbären.

Die Thiere waren ohne allen Zweifel von dem Fettgeruch, der auch ihm aufgefallen war, angezogen worden. Ludwig Cornbutte verbarg sich hinter einem Eisberge und beobachtete von hier aus, wie drei der stärksten Thiere die Eisblöcke, auf denen die Jeune-Hardie ruhte, erklommen.

Bis jetzt schien die nahe Gefahr auf dem Schiffe nicht bemerkt worden zu sein und Ludwig fragte sich zitternd, wie die Schiffsmannschaft sich diesem verhängnißvollen Besuch entgegenstellen, und ob André Vasling und seine Kumpane sich mit den übrigen Leuten vereinigen würden, um die gemeinsame Gefahr abzuwenden.[237]

Konnten Penellan und seine von Hunger und Kälte halb gelähmten Kameraden diesen furchtbaren Thieren Widerstand leisten? und wurden die Leute nicht von dem unvorhergesehenen Angriff überrascht?

All diese Betrachtungen zogen in einem Augenblick vor dem Geist des jungen Kapitäns vorüber. Die Bären hatten indessen die Eisschollen erklommen und machten sich daran, an dem Schiff hinaufzuklettern. Ludwig Cornbutte verließ sein Versteck hinter dem Eisblock, kroch auf dem Eise näher und sah, wie die Thiere mit ihren ungeheuren Tatzen das Zelt zerrissen und dann auf's Verdeck sprangen. Cornbutte dachte daran, einen Flintenschuß abzufeuern, um seine Gefährten auf die nahe Gefahr aufmerksam zu machen; aber er sagte sich, daß sie von den Bestien unfehlbar in Stücke zerrissen würden, wenn sie ohne jede Ahnung von dem Ueberfall unbewaffnet auf das Verdeck kämen.

Quelle:
Jules Verne: Eine Ueberwinterung im Eise. In: Eine Idee des Doktor Ox. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XX, Wien, Pest, Leipzig 1877, S. 167–250, S. 234-238.
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