[189] Die Brigg schwamm letzt in fast vollständig freier See, nur zeigte sich am Horizont ein weißlicher Glanz und verkündete dort unbewegliche Eisflächen.
Johann Cornbutte steuerte fortwährend auf Cap Brewster zu und kam schon in Gegenden, die außerordentlich kalt sind, da die Sonnenstrahlen durch ihren sehr schrägen Fall nur äußerst schwach wirken.
Am 3. August befand sich die Brigg unbeweglichen Eisschollen gegenüber, die unter einander zusammenhingen. Das Fahrwasser war oft nur eine Kabellänge breit, und die Jeune-Hardie mußte tausend Umwege machen, durch die sie zuweilen dem Winde gerade entgegen gebracht wurde.
Penellan nahm sich mit väterlicher Sorge Mariens an; er veranlaßte sie, trotz der Kälte täglich zwei bis drei Stunden auf dem Verdeck zuzubringen, denn körperliche Bewegung war eine für ihre Gesundheit unumgängliche Bedingung.[189]
Mariens Muth wurde übrigens nicht schwächer; sie ermunterte sogar die Matrosen der Brigg durch ihre Worte, und die Verehrung der Mannschaft für sie steigerte sich mehr und mehr. André Vasling bemühte sich mehr um sie als je zuvor und nahm jede Gelegen heit wahr, um mit ihr eine Unterhaltung anzuknüpfen; das junge Mädchen nahm jedoch seine Zuvorkommenheit mit einer gewissen unwillkürlichen Kälte auf, die vielleicht in einem ahnenden Gefühl ihren Grund hatte. Man kann sich leicht denken, daß die Zukunft weit mehr als die Gegenwart das Thema von André Vasling's Unterhaltungen war, und daß er kein Hehl daraus machte, wie wenig Hoffnung er für die Rettung der Schiffbrüchigen hege. Seiner Ansicht nach war ihr Untergang eine feststehende Thatsache, und er ließ oftmals durchblicken, daß Marie jetzt die Sorge für ihre Existenz in die Hände eines Andern legen dürfe.
Zum großen Verdruß André Vasling's hatte jedoch Marie seine Andeutungen noch nicht verstanden, wahrscheinlich, weil diese Unterhaltungen immer nur sehr kurze Zeit währten. Penellan fand immer irgend einen Vorwand, um sie zu unterbrechen und die Wirkung der Reden André's durch Worte der Hoffnung null und nichtig zu machen.
Marie blieb übrigens nicht unbeschäftigt. Nach den Rathschlägen des Untersteuermanns sorgte sie für ihre Winterkleider und mußte, um der Temperatur in diesen kalten Breiten entgegen gehen zu können, ihre Toilette einer totalen Umgestaltung unterwerfen. Sie machte sich eine Art Pelz-Beinkleid, dessen untere Ränder mit Robbenfell versehen waren; ihre enge Unterkleidung reichte nur bis an die Unterschenkel, um nicht mit den Schneeschichten in Berührung zu kommen, mit denen der Winter die Eisflächen bedeckte, und ein eng anschließender, mit Capuchon versehener Pelzmantel schützte ihren Oberkörper.
Auch die Männer fertigten sich in ihrer arbeitsfreien Zeit warme Kleidungsstücke, wie z.B. hohe Stiefel aus Robbenfell, die ihnen gestatten sollten, ungestraft auf ihren Forschungsreisen durch tiefen Schnee zu waten. So arbeiteten sie die ganze Zeit während ihrer Fahrt durch die enge Straße.
André Basling war ein sehr geschickter Schütze und erlegte häufig Wasservögel, die in großen Massen um das Schiff schwärmten. Eine Art Eidergänse und Schneehühner lieferten der Mannschaft vorzügliches Fleisch, das als Abwechselung von dem Salzfleisch sehr willkommen war.[190]
Endlich, nach tausend Umwegen, bekam die Brigg das Cap Brewster in Sicht. Eine Schaluppe wurde in's Meer gelassen, und Johann Cornbutte und Penellan fuhren nach der Küste, die gänzlich verödet war.
Alsbald steuerte die Brigg auf die im Jahre 1821 von dem Kapitän Scoresby entdeckte Insel Liverpool zu, und die Mannschaft konnte ein lautes Freudengeschrei nicht zurück halten, als sie die Eingeborenen auf der Küste daher eilen sah. Es wurde sofort ein Verkehr angebahnt, und da Penellan einige Worte ihrer Sprache kannte, und die Eingeborenen wiederum einige landläufige Redensarten der Schiffsmannschaft verstanden, die sie wahrscheinlich von Wallfischfängern gelernt hatten, war dies nicht mit gar zu großen Schwierigkeiten verknüpft.
Die Grönländer waren klein und untersetzt; ihr Wuchs überschritt nicht die Größe von vier Fuß zehn Zoll. Sie hatten röthlichen Teint, ein rundes Gesicht, niedere Stirn, glatte schwarze Haare, die auf ihren Rücken herabfielen, und ihre Zähne waren verdorben und wie von einem Aussatz behaftet, was den ichthyophagischen Völkern eigenthümlich ist.
Um sich von der Schiffsmannschaft Kupfer- und Eisenstücke einzutauschen, worauf die armen Leute sehr begierig sind, brachten sie Bärenpelze, Felle von Seekälbern, Seehunden, Seewölfen und all solchen Thieren herbei, die man unter dem Namen »Robben« begreift. Johann Cornbutte bekam diese Gegenstände, die von so großem Nutzen für ihn werden sollten, zu außerordentlich niedrigem Preise.
Dann machte der Kapitän den Eingeborenen verständlich, daß er nach einem gestrandeten Schiff suche, und fragte, ob sie ihm keine Auskunft darüber geben könnten, worauf einer von ihnen sogleich eine Art Schiff auf den Schnee zeichnete und angab, daß ein Fahrzeug dieser Art bereits seit drei Monaten in nördlicher Richtung verschlagen sei; er fügte noch hinzu, daß das Aufthauen und der Bruch der Eisfelder sie verhindert hätten, demselben nachzuforschen, und es lag für Jeden auf der Hand, daß sie mit ihren leichten Piroguen, die sie mit der Pagaje lenkten, auf eine solche Unternehmung nicht ausgehen konnten.
Diese Nachricht, so unvollständig sie war, brachte doch die Hoffnung in die Herzen der Matrosen zu rück, und Johann Cornbutte scheute nun keine Mühe mehr, die Leute zu weiterem Vorschreiten nach dem Polarmeere hin zu bewegen.[191]
Bevor der Kapitän die Insel Liverpool verließ, kaufte er ein Gespann von sechs Eskimohunden, die sich bald an Bord acclimatisirten. Das Schiff lichtete am Morgen des 10. August die Anker und segelte, von einer starken Brise getrieben, in das Fahrwasser des Nordens.
Man war jetzt an den längsten Tagen des Jahres angelangt, d.h. unter diesen hohen Breiten erreichte die niemals untergehende Sonne den höchsten Punkt der Spiralen, die sie über dem Horizont beschrieb. Diese gänzliche[192] Abwesenheit der Nacht war jedoch nicht so merklich, denn schon hüllten Nebel, Regen und Schnee das Schiff zuweilen in Finsterniß.
Johann Cornbutte war entschlossen, so weit als möglich vorzurücken, und begann seine sanitätlichen Maßregeln danach zu treffen. Das Zwischendeck wurde vollkommen verschlossen und nur jeden Morgen dafür gesorgt, die Luft durch Ventilation zu erneuern. Die Oefen wurden eingerichtet, und die[193] Rohre so angebracht, daß sie möglichst viel Wärme ausstrahlten. Man empfahl den Leuten von der Mannschaft, nur ein wollenes Hemd über ihrem Baumwollhemd zu tragen und die Röcke von Fellen möglichst hermetisch zu verschließen. Uebrigens durften jetzt die Feuer noch nicht angezündet werden, denn es kam darauf an, die Holz- und Kohlenvorräthe für die zu erwartende große Kälte aufzubewahren.
Unter die Matrosen wurde regelmäßig Morgens und Abends Kaffee und Thee vertheilt, und da es räthlich war, sich von Fleisch zu nähren, machte man häufig auf die in diesen Gegenden massenhaft vorhandenen Enten und Krickenten Jagd.
Oben auf dem großen Mast richtete Johann Cornbutte ein sogenanntes »Krähennest« ein, nämlich eine Tonne, deren einer Boden ausgeschlagen ist, und in der sich beständig eine Wache aufhält, um die Eisflächen zu beobachten.
Zwei Tage nachdem unsere Nordpolfahrer die Insel Liverpool aus dem Gesicht verloren hatten, wurde die Temperatur unter dem Einfluß des trockenen Windes plötzlich kälter, und auch andere Anzeichen des Winters machten sich bemerklich. Die Jeune-Hardie hatte jetzt nicht einen Augenblick Zeit zu verlieren, denn bald mußte die Straße sich vollständig verschließen. So rückte sie in einem Fahrwasser vor, das von beiden Seiten von dreißig Fuß dicken Eisfeldern begrenzt wurde.
Am 3. September Morgens langte die Jeune-Hardie endlich an der Bai von Gaël-Hamkes an. Das Land befand sich dreißig Meilen weit unter dem Winde. Das erste Mal hielt die Brigg vor einer Eisbank, die ihr keine Durchfahrt bot und mindestens eine Meile breit war; so mußten also die Sägen angewandt werden, um das Eis zu durchschneiden. Penellan, Aupic, Gradlin und Turquiette wurden mit der Leitung dieser Arbeit betraut, und die Richtung der Einschnitte so gewählt, daß der Strom die von der Bank abgesonderten Schollen forttragen konnte. Die ganze Mannschaft hatte beinahe zwanzig Stunden mit dieser Arbeit zu thun, die mit furchtbaren Schwierigkeiten verknüpft war.
Bald waren die Männer gezwungen, bis an den Leib im Wasser zu stehen, und ihre Kleider von Robbenfell schützten sie nur unvollständig vor der Feuchtigkeit, bald glitten sie auf der glatten Eisfläche aus oder konnten sich nur mit Mühe halten.[194]
Uebrigens folgt in diesen kalten Breiten bald absolute Mattigkeit auf jede größere Anstrengung; der Athem geht den Arbeitern leicht aus, und auch der Kräftigste muß oft innehalten.
Endlich wurde die Schifffahrt wieder frei, und die Brigg über die Bank, von der sie so lange zurückgehalten war, hinausbugsirt.
Buchempfehlung
Als Blaise Pascal stirbt hinterlässt er rund 1000 ungeordnete Zettel, die er in den letzten Jahren vor seinem frühen Tode als Skizze für ein großes Werk zur Verteidigung des christlichen Glaubens angelegt hatte. In akribischer Feinarbeit wurde aus den nachgelassenen Fragmenten 1670 die sogenannte Port-Royal-Ausgabe, die 1710 erstmalig ins Deutsche übersetzt wurde. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Karl Adolf Blech von 1840.
246 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro