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[83] Bei diesen Rufen stürzten Herr Cascabel, Jean, Xander und Clou aus dem Wagen.
»Dort muß es sein!« sagte Jean, nach dem Waldrande deutend, der sich längs der Grenze hinzog.[83]
»Horchen wir noch!« entgegnete Herr Cascabel.
Das war vergeblich. Kein weiterer Schrei scholl durch den Raum, kein weiterer Schuß erfolgte.
»Sollte es ein Unfall gewesen sein?...« fragte Xander.
»So viel ist jedenfalls sicher,« antwortete Jean, »daß die Rufe Hilferufe waren, und daß jemand da drüben in Gefahr schwebt...«
»Man muß ihm zu Hilfe eilen!« sagte Cornelia.
»Ja, Kinder, gehen wir,« antwortete Herr Cascabel; »und nehmen wir Waffen mit!...«
Schließlich war es ja möglich, daß es sich hier nicht um einen bloßen Unfall handelte. Vielleicht war irgend ein Reisender einem Verbrechen an der alaskischen Grenze zum Opfer gefallen. So mußte man denn vorsichtshalber bereit sein, sich selber sowohl als andere zu verteidigen.
Binnen wenigen Sekunden hatten Herr Cascabel und Jean, Xander und Clou, die ersteren mit Flinten, die beiden letzteren mit Revolvern bewaffnet, die Belle-Roulotte verlassen, welche Cornelia und die beiden Hunde bis zu ihrer Rückkehr hüten sollten.
Fünf bis sechs Minuten lang schritten sie am Waldrande dahin. Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen, um zu lauschen: kein Geräusch unterbrach die Stille des Waldes. Trotzdem wußten sie bestimmt, daß die Rufe aus dieser Richtung und aus ziemlich geringer Entfernung gekommen waren.
»Wenn wir nicht etwa von der Sinnentäuschung genarrt worden sind?...« bemerkte Herr Cascabel.
»Nein, Vater,« antwortete Jean, »das ist nicht möglich! Ah!... hörst Du...«
Diesmal vernahm man deutlich einen Hilferuf, – nicht mehr von einer Männerstimme, wie der erste, sondern von der Stimme einer Frau oder eines Kindes.
Die Nacht war sehr dunkel und im Schatten der Bäume sah man kaum einige Meter weit. Clou hatte zwar vorgeschlagen, eine der Wagenlaternen mitzunehmen; aber dem hatte Herr Cascabel sich aus Vorsicht widersetzt, da es jedenfalls besser war, nicht von weitem gesehen zu werden.
Übrigens erschollen die Rufe von neuem und wurden so deutlich, daß man sich leicht danach zurechtfinden konnte. Es schien nicht einmal nötig zu sein, in den Wald einzudringen.
In der That erreichten Herr Cascabel, Jean, Xander und Clou in fünf Minuten den Rand einer kleinen Lichtung, wo sie zwei Männer auf der Erde liegen sahen. Neben dem einen kniete eine Frau und stützte dessen Kopf in ihren Armen.
Es waren die Rufe dieser Frau, die man zuletzt vernommen hatte. Jetzt rief sie in der Chinouksprache, welche Herr Cascabel ein wenig verstand:
»Kommt!... Kommt!... Sie sind ermordet!...«
Jean eilte zu der Frau, die von dem Blute des Unglücklichen, den sie ins Leben zurückzurufen suchte, überströmt war.
»Dieser atmet noch!« sagte Jean.
»Und der andere?« fragte Herr Cascabel.
»Der andere... ich weiß nicht!...« antwortete Xander.
Herr Cascabel kam herbei, um zu horchen, ob kein Herzschlag, kein Hauch des Mundes noch einen Rest von Leben verrate.
»Er ist wirklich tot!« sagte er.
Das war er in der That; eine Kugel hatte seine Schläfe durchbohrt und ihn auf der Stelle getötet.
Aber wer war jene Frau, deren Sprache auf indianischen Ursprung deutete? War sie jung oder alt? In der Dunkelheit, unter der über ihren Kopf gezogenen Kapuze, konnte man ihre Züge nicht unterscheiden. Aber diese Fragen drängten nicht; sie würde später schon sagen, woher sie komme und unter welchen Umständen dieser Doppelmord verübt worden sei. Jetzt mußte man vor allem den Mann, der noch atmete, in das Lager transportieren und ihm die schnelle Pflege angedeihen lassen, von der vielleicht seine Rettung abhing. Was die Leiche seines Gefährten betraf, so würde man am folgenden Tage wiederkommen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.
Von Jean unterstützt, hob Herr Cascabel den Verwundeten bei den Schultern auf, während Xander und Clou ihn bei den Füßen hoben. Dann sagte er, zu der Frau gewendet:
»Folgen Sie uns.«
Und diese schritt ohne Zaudern neben dem Körper her, indem sie das noch immer aus seiner Brust fließende Blut mit einem Tuche zu stillen suchte.
Man konnte nicht schnell vorwärts kommen. Der Mann war schwer und man mußte ihm jede Erschütterung ersparen. Herr Cascabel wollte einen Lebenden ins Lager bringen, keinen Toten.
Endlich, nach Verlauf von zwanzig Minuten, trafen alle dort ein, ohne durch irgend eine unliebsame Begegnung aufgehalten worden zu sein.
Cornelia und die kleine Napoleone, welche befürchteten, daß die Ihrigen einem feindlichen Angriffe zum Opfer gefallen sein könnten, erwarteten sie in tödlicher Unruhe.
»Schnell, Cornelia,« rief Herr Cascabel, »Wasser, Leinen, alles Nötige, um eine Blutung zu hemmen; sonst geht der Unglückliche am Blutverlust zu Grunde!«[86]
»Gut, gut!« antwortete Cornelia. »Du weißt, daß ich mich darauf verstehe, Cäsar. Nicht so viele Worte und laß mich gewähren!«
In der That verstand Cornelia sich darauf, da sie während der Ausübung ihres Berufes mehr als eine Wunde zu pflegen gehabt hatte.
Clou brachte eine Matratze in die erste Abteilung, auf welche der Verwundete gelegt wurde, den Kopf von einem flachen Polster gestützt. Beim Schein der Hängelampe erblickte man sein, bereits von den Schatten des nahen Todes entfärbtes Gesicht und zugleich auch die Züge der Indianerin, die neben ihm auf die Kniee gesunken war.
Es war ein junges Mädchen, das höchstens fünfzehn bis sechzehn Jahre zu zählen schien.
»Wer ist dieses Kind?« fragte Cornelia.
»Sie war es, deren Rufe wir hörten,« antwortete Jean; »sie befand sich bei dem Verwundeten.«
Letzterer war ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, mit bereits ergrauendem Haar und Barte, von hoher, kräftig gebauter Gestalt und sympathischen Zügen, die, obgleich sein Gesicht bleich war und die geschlossenen Lider seinen Blick verhüllten, einen energischen Charakter bekundeten. Von Zeit zu Zeit entrang sich seinen Lippen ein Seufzer; aber er sprach kein Wort, aus dem man auf seine Nationalität hätte schließen können.
Als seine Brust entblößt worden, konnte Cornelia konstatieren, daß sie von einem Dolchstoße zwischen der dritten und vierten Rippe durchbohrt worden sei. War diese Verwundung tödlich? Nur ein Arzt hätte das beurteilen können. Jedenfalls schien es unzweifelhaft, daß sie sehr ernster Natur sei.
Da die Intervention eines Arztes indessen unter den gegenwärtigen Umständen unmöglich war, so mußte man sich mit der Pflege, welche Cornelia dem Verwundeten angedeihen lassen konnte, und mit den in der kleinen Reise-Apotheke enthaltenen Heilmitteln begnügen.
Das geschah denn auch und es gelang, die Blutung, welche einen schnellen Tod herbeizuführen drohte, zu hemmen. Man würde später sehen, ob es möglich sei, den Mann in diesem Zustande absoluter Entkräftung in den nächsten Marktflecken zu transportieren. Diesmal würde Herr Cascabel nicht lange fragen, ob es ein britisch-kolumbischer sei, oder nicht.
Nachdem sie die Wunde sorgfältig mit frischem Wasser ausgewaschen, legte Cornelia mit Arnika getränkte Kompressen darauf. Dieser Verband genügte, um das Blut zu stillen, von dem der Verwundete seit dem Augenblick des Mordes bis zu seiner Ankunft im Lager sehr viel verloren hatte.
»Und was können wir jetzt thun, Cornelia?...« fragte Herr Cascabel.
»Wir werden den Unglücklichen auf unser Bett legen,« antwortete Cornelia, »und ich werde bei ihm wachen, um die Kompressen nach Bedarf zu erneuern.«[87]
»Wir werden alle bei ihm wachen!« sagte Jean. »Wir können ja sowieso nicht schlafen. Und dann müssen wir auch auf unserer Hut sein, da sich Mörder in der Umgegend befinden.«
Herr Cascabel, Jean und Clou trugen den Mann auf das Bett in der innersten Abteilung.
Während Cornelia an seinem Lager blieb und vergeblich auf ein Wort von ihm harrte, erzählte die junge Indianerin, deren Chinouk-Dialekt Herr Cascabel mit einiger Mühe verstand, ihre Geschichte.
Sie war wirklich eine Eingeborene, von einer der autochthonen Rassen Alaskas. In dieser Provinz, nördlich und südlich von dem großen Flusse Youkon, stößt man auf zahlreiche wandernde sowohl, als auf ansässige Indianerstämme, unter anderen auf die Co-Youkons, welche vielleicht die bedeutendsten und wildesten von allen Stämmen bilden, dann die Newicargouts, die Tananas, die Kotcho-a-Koutchins und auch, insbesondere gegen die Mündung des Flusses zu, die Pastoliks, die Haveacks, die Primsker, die Melomuten und die Indgeleten.
Diesem letzteren Stamme gehörte die junge Indianerin an, welche sich Kayette nannte.
Kayette hatte weder Eltern noch Verwandte mehr; es sind nicht nur Familien, welche auf diese Weise aussterben, sondern ganze Stämme, von denen man keine Spur mehr auf alaskischem Gebiete findet.
So z. B. die »Leute der Mitte«, die früher nördlich vom Youkon wohnten.
Allein, ohne Eltern zurückgeblieben, hatte Kayette sich nach Süden auf den Weg gemacht, durch Gegenden, welche ihr von früheren Wanderungen mit ihrem Stamme her bekannt waren. Ihr Plan war, nach der Hauptstadt Sitka zu gehen, wo sie in den Dienst irgend eines russischen Beamten zu treten gedachte. Und wahrlich, man würde sie schon auf ihre ehrliche, sanfte und gewinnende Miene hin engagiert haben. Sie war sehr hübsch, von nur leicht ins Braune spielender Hautfarbe, mit schwarzen, lang bewimperten Augen und reichem braunen Haar, das von einer Pelzkapuze zurückgehalten wurde.
Von mittelgroßer Gestalt, schien sie trotz ihres schweren Überrockes anmutig und geschmeidig zu sein.
Bekanntlich entwickeln diese nordamerikanischen Indianer-Rassen, Burschen und Mädchen, von lebhaftem und fröhlichem Charakter, sich sehr schnell. Mit zehn Jahren handhaben die Knaben bereits geschickt die Flinte und das Beil. Mit fünfzehn Jahren verheiraten die Mädchen sich und sind trotz ihrer Jugend vortreffliche Familienmütter. Kayette war denn auch ernster und entschlossener als man es bei ihrem Alter erwartet hätte, und die lange Reise, die sie angetreten, bewies zur Genüge die Energie ihres Charakters. Sie war bereits
einen Monat unterwegs, dem Südwesten Alaskas zustrebend, und hatte jenen engen, an die Inseln grenzenden Küstenstreifen erreicht, durch den man nach der Hauptstadt gelangt, als sie, längs des Waldrandes dahinschreitend, einige hundert Schritte vor sich zwei Schüsse und verzweifelte Hilferufe gehört hatte.[88]
Es waren dieselben Rufe, welche bis in das Lager der Belle-Roulotte gedrungen.
Kayette war sogleich beherzt auf die Waldlichtung zugeeilt.[89]
Ohne Zweifel hatte ihr Nahen die Mörder aufgescheucht, denn sie erblickte eben nur noch zwei Männer, welche durch das Dickicht davonflohen. Aber offenbar würden jene Elenden bald erfahren haben, daß sie sich vor einem Kinde gefürchtet; sie kehrten in der That bereits in die Lichtung zurück, um ihre Opfer zu plündern, als das Erscheinen des Herrn Cascabel und der Seinigen sie – diesmal endgültig – verscheuchte.
Angesichts der beiden auf dem Boden liegenden Männer, von denen der eine eine Leiche war, während das Herz des anderen noch schlug, hatte Kayette um Hilfe gerufen, und wie man weiß, nicht umsonst. Herr Cascabel hatte sowohl die Rufe der angefallenen Reisenden, als auch die der jungen Indianerin vernommen.
Die Nacht verfloß. Die Belle-Roulotte hatte keinen Angriff von den Mördern zurückzuschlagen, die sich ohne Zweifel schleunigst von dem Schauplatze des Verbrechens geflüchtet.
Am folgenden Morgen konstatierte Cornelia keine Veränderung in dem Befinden des Verwundeten, das noch immer gleich beunruhigend erschien.
Unter diesen Umständen erwies Kayette sich als sehr nützlich, indem sie gewisse Kräuter sammeln ging, deren antiseptische Eigenschaften ihr bekannt waren. Sie bereitete einen Aufguß daraus, in welche neue Kompressen getaucht und dann auf die Wunde gelegt wurden, aus der kein Blutstropfen mehr floß.
Im Laufe des Morgens bemerkte man, daß der Verwundete zu atmen begann; aber es kamen nur Seufzer, nicht einmal undeutliche, abgerissene Worte, über seine Lippen.
Es war daher unmöglich zu ergründen, wer er war, woher er kam, wohin er ging, was er an der alaskischen Grenze zu thun hatte, unter welchen Umständen er und sein Gefährte angegriffen worden und wer die Angreifer gewesen.
Jedenfalls waren jene Elenden, wenn ihr Attentat einen Raub zum Zwecke gehabt, durch ihre allzu eilige Flucht vor der jungen Indianerin um eine prächtige Beute gekommen, derengleichen sie in diesen wenig besuchten Gegenden nicht sobald wieder antreffen würden.
Dies unterlag keinem Zweifel, denn als Herr Cascabel den Verwundeten entkleidete, hatte er in einem um seinen Leib geschnallten Ledergürtel eine Menge Goldstücke von amerikanischem und russischem Ursprunge gefunden, welche eine Gesamtsumme von cirka fünfzehntausend Francs bildeten. Dies Geld wurde in Sicherheit gebracht, um sobald als möglich zurückerstattet zu werden. Papiere aber fanden sich keine vor, mit Ausnahme eines Notizbuches mit einigen teils russischen, teils französischen Aufzeichnungen. Nichts, nichts, woraus man die Identität des Unbekannten feststellen gekonnt hätte.
An jenem Morgen, um die neunte Stunde, sagte Jean:[90]
»Vater, wir haben eine Pflicht gegen jene verlassene Leiche zu erfüllen.«
»Du hast recht, Jean, gehen wir. Vielleicht finden wir irgend eine Schrift bei dem Toten, die uns aufklärt. – Du wirst uns begleiten,« fügte Herr Cascabel, zu Clou gewendet, hinzu. »Nimm eine Haue und eine Schaufel mit.«[91]
Mit diesen Werkzeugen versehen und wohl bewaffnet, verließen alle drei die Belle-Roulotte und wandten sich dem Waldrande zu, an dem sie gestern entlang gegangen waren.
Sie fanden bald die Stelle wieder, wo der Mord verübt worden war.
Offenbar hatten die beiden Reisenden an diesem Orte übernachten wollen. Man sah die Spuren eines Lagers, die noch rauchende Asche eines Feuers. Am Fuße einer großen Fichte waren Kräuter aufgeschichtet, welche den Reisenden als Bett gedient haben mochten. Vielleicht waren sie sogar im Schlafe überfallen worden.
Bei dem Ermordeten war die Totenstarre bereits eingetreten.
Seine Kleidung, seine Physiognomie, seine rauhen Hände wiesen darauf hin, daß dieser höchstens dreißig Jahre zählende Mann der Diener des andern gewesen sein müsse.
Jean durchsuchte seine Taschen. Er fand kein Papier darin. Auch kein Geld. An seinem Gürtel hing ein Revolver von amerikanischem Fabrikat, mit sechs Kugeln geladen, dessen der Unglückliche nicht Zeit gehabt, sich zu bedienen.
Augenscheinlich war der Angriff plötzlich und unerwartet gekommen und die beiden Opfer waren gleichzeitig gefallen.
Zu dieser Stunde war der Wald in der Umgebung der Lichtung verlassen. Nach einer kurzen Rekognoszierung kehrte Jean zurück, ohne irgend jemand gesehen zu haben. Die Mörder waren offenbar nicht mehr zurückgekommen; sonst würden sie die Leiche geplündert oder doch wenigstens den an deren Gürtel hängenden Revolver an sich genommen haben.
Unterdessen hatte Clou eine Grube gegraben, welche tief genug war, um eine Leiche vor der Ausgrabung durch wilde Tiere zu schützen. Der Tote wurde darein gebettet, und als die Erde das Grab bedeckte, sprach Jean ein Gebet.
Dann kehrten Herr Cascabel, Jean und Clou in das Lager zurück. Dort ließ man Kayette am Bette des Verwundeten, während Jean und seine Eltern sich mit einander berieten.
»Es ist gewiß,« sagte Herr Cascabel, »daß unser Gast, falls wir nach Kalifornien zurückkehren, nicht lebend dort ankommen wird. Es sind Hunderte von Meilen bis dahin. Am besten wäre es, nach Sitka zu gehen, wo wir binnen drei, vier Tagen sein könnten, wenn diese verwünschten Polizisten uns nicht den Übergang auf ihr Gebiet verwehrten!«
»Und dennoch müssen und werden wir nach Sitka gehen!« antwortete Cornelia resolut.
»Aber wie?... Ehe wir eine Meile weit gekommen sind, wird man uns aufhalten...«[92]
»Gleichviel, Cäsar! Wir müssen aufbrechen, und das sofort. Begegnen wir den Grenzwächtern, so werden wir ihnen das Vorgefallene erzählen; möglicherweise werden sie jenem Unglücklichen das bewilligen, was sie uns verweigert haben...«
Herr Cascabel schüttelte unwillig den Kopf.
»Die Mutter hat recht,« sagte Jean. »Versuchen wir Sitka zu erreichen, ohne bei den Beamten um eine Erlaubnis nachzusuchen, die sie nicht erteilen würden. Das wäre nur verlorene Zeit. Überdies ist es wahrscheinlich, daß sie uns auf dem Rückwege nach Sakramento glauben und sich entfernt haben. Seit vierundzwanzig Stunden haben wir keinen einzigen von ihnen mehr gesehen. Sie sind gestern abends nicht einmal durch die Schüsse herbeigeführt worden...«
»Das ist wahr,« antwortete Herr Cascabel, »und es sollte mich nicht wundern, wenn sie sich zurückgezogen hätten...«
»Wenn sie nicht etwa...« bemerkte Clou, der sich eingefunden hatte, um an der Besprechung teilzunehmen.
»Jawohl... wenn sie nicht etwa... das versteht sich von selber!« erwiderte Herr Cascabel.
Jeans Bemerkung war einleuchtend und vielleicht konnte man wirklich nichts besseres thun, als nach Sitka aufbrechen.
Binnen einer Viertelstunde waren Vermout und Gladiator angespannt. Während des langen Aufenthalts an der Grenze gehörig ausgeruht, konnten sie an diesem ersten Marschtage etwas tüchtiges leisten. Die Belle-Roulotte setzte sich in Bewegung und Herr Cascabel verließ mit kaum verhehlter Befriedigung das kolumbische Gebiet.
»Kinder!« sagte er, »halten wir die Augen offen! Und du, Jean, laß deine Flinte schweigen. Es ist durchaus überflüssig, die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken...«
»Und darum wird die Küche doch nicht feiern,« fügte Frau Cascabel hinzu.
Obgleich ziemlich unregelmäßig, war das nördlich von Kolumbien gelegene Land leicht zu passieren, selbst längs der zahlreichen Kanäle, welche die Inselgruppen vom Festlande trennen. Keine Berge in Sicht bis an die äußersten Grenzen des Horizonts. Manchmal, aber sehr selten, tauchte ein einsames Gehöft auf, das die Familie sich wohl hütete zu besuchen. Da er die Karte des Landes gründlich studiert hatte, fand Jean sich ziemlich gut zurecht und hoffte Sitka zu erreichen, ohne die Dienste eines Führers in Anspruch nehmen zu müssen.
Aber die Hauptsache war, keinem Beamten, weder einem Grenzwächter noch einem Diener der inneren Verwaltung, in den Weg zu laufen. Und es[93] schien, als ob die Belle-Roulotte auf dieser Fahrt die vollste Freiheit der Bewegung genießen solle. Das war sogar erstaunlich. Herr Cascabel war denn auch nicht minder überrascht als befriedigt.
Cornelia schrieb die Thatsache der Vorsehung zu, und ihr Mann war nicht abgeneigt, ihre Meinung zu teilen. Jean meinte seinerseits, daß irgend ein Umstand das Vorgehen der moskowitischen Verwaltung beeinflußt haben müsse.
So gingen die Dinge während des sechsten und siebenten Juni. Man näherte sich Sitka. Vielleicht hätte die Belle-Roulotte noch schneller vorwärts kommen können, wenn Cornelia nicht gefürchtet hätte, daß das Rütteln ihrem Verwundeten schaden könnte, welchen Kayette und sie unermüdlich pflegten, die eine wie eine Mutter, die andere wie eine Tochter. Es war noch immer zweifelhaft, ob der Kranke das Ziel der Reise lebend erreichen werde. Wenn sein Zustand sich nicht verschlimmert hatte, so konnte man leider auch nicht sagen, daß er sich gebessert habe. Wie hätten die geringen Hilfsmittel, welche die kleine Apotheke bot, das wenige, was die beiden Frauen angesichts einer so schweren, ärztlichen Eingreifens bedürftigen Verwundung thun konnten, genügen sollen? Die Hingebung kann niemals die Wissenschaft ersetzen – leider! – denn niemals hatten barmherzige Schwestern sich hingebender gezeigt. Übrigens hatte jedermann den Eifer und die Intelligenz der jungen Indianerin schätzen gelernt. Sie schien bereits zur Familie zu gehören. Sie war gewissermaßen eine zweite Tochter, welche der Himmel der Frau Cascabel geschenkt.
Am Nachmittage des siebenten passierte die Belle-Roulotte eine Furt des Stekin-River, eines kleinen Flusses, der sich in einen engen Meeresarm zwischen dem Festlande und der Baranow-Insel, nur mehr wenige Meilen weit von Sitka ergießt.
Abends vermochte der Verwundete einige Worte hervorzubringen.
»Mein Vater... da unten... wiedersehen!« murmelte er.
Da diese Worte auf russisch gesagt worden, verstand Herr Cascabel sie vollkommen.
Auch wurde ein Name mehrmals wiederholt: »Ivan... Ivan...«
Ohne Zweifel war das der Name des unglücklichen Dieners, der an der Seite seines Herrn ermordet worden.
Sehr wahrscheinlich waren beide von moskowitischer Herkunft.
Wie dem auch sein mochte, da der Verwundete Sprache und Erinnerung wiederzugewinnen begann, so würde die Familie Cascabel bald seine Geschichte erfahren.
An jenem Tage war die Belle-Roulotte an den Rand des engen Kanals gelangt, über welchen man setzen muß, um die Baranow-Insel zu erreichen.[94]
Folglich mußte man sich an die Schiffer wenden, die den Dienst auf jenen zahlreichen Meerengen versehen.
Nur konnte Herr Cascabel nicht hoffen, mit den Bewohnern des Landes in Berührung zu treten, ohne seine Nationalität zu verraten. Es stand zu befürchten, daß die ärgerliche Paßfrage von neuem auftauchen werde.
»Nun,« sagte er, »unser Russe wird darum doch nach Sitka gelangen![95]
Wenn die Polizisten uns zwingen, an die Grenze zurückzugehen, so werden sie doch wenigstens ihn als einen ihrer Landsleute dabehalten; und da wir den Anfang damit gemacht haben, ihn zu retten, so müßte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn sie ihn nicht zum Schlusse heilten!«
Eine Anschauungsweise, die ihr Gutes hatte, die aber doch nicht verfehlte, die Familie betreffs des ihrer harrenden Empfanges zu beunruhigen. Es wäre eben grausam gewesen, Sitka zu erreichen und dann doch den Weg nach New-York einschlagen zu müssen.
Während der Wagen am Ufer des Kanals harrte, war Jean gegangen, sich nach der Fähre und den Schiffern zu erkundigen, mit deren Hilfe der Übergang bewerkstelligt werden sollte.
In diesem Augenblicke kam Kayette, Herrn Cascabel zu melden, daß seine Frau seiner bedürfe.
Er begab sich sofort zu ihr.
»Unser Verwundeter ist bei voller Besinnung,« sagte Cornelia. »Er spricht, Cäsar, und du mußt zu verstehen suchen, was er will...«
In der That hatte der Russe die Augen geöffnet, blickte um sich und musterte fragend die Personen, die er zum erstenmale in seinem Leben sah. Hin und wieder fielen unzusammenhängende Worte von seinen Lippen.
Endlich rief er mit schwacher, kaum vernehmlicher Stimme nach seinem Diener Ivan.
»Mein Herr,« sagte Herr Cascabel, »Ihr Diener ist nicht hier, aber wir sind da...«
Auf diese französisch gesprochenen Worte antwortete der Verwundete in derselben Sprache:
»Wo bin ich?«
»Bei Leuten, welche Sie gepflegt haben, mein Herr...«
»Aber das Land?...«
»Es ist ein Land, in dem Sie nichts zu befürchten haben, falls Sie Russe sind...«
»Russe... ja... Russe...«
»Nun denn, Sie sind in der Provinz Alaska, wenige Meilen von der Hauptstadt...«
»Alaska!« murmelte der Verwundete.
Und es zuckte etwas wie Schrecken durch seinen Blick.
»Auf russischem Boden!...« flüsterte er.
»Nein!... Auf amerikanischem Boden!«
Jean trat eben ein; er war es, der es sagte.
Und dabei wies er durch das offene Fensterchen der Belle-Roulotte auf das Sternenbanner, das von einem Wachthause an der Küste wehte.[96]
In der That war die Provinz Alaska seit drei Tagen nicht mehr russisch. Vor drei Tagen war der Annexionsvertrag unterzeichnet worden, der sie den Vereinigten Staaten einverleibte. Künftighin hatte die Familie Cascabel nichts mehr von russischen Beamten zu fürchten. Sie befand sich in einem amerikanischen Lande.[97]
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