|
[74] Alaska ist der im Nordwesten Nordamerikas zwischen dem zweiundfünfzigsten und zweiundsiebzigsten Breitegrad gelegene Teil des Festlandes und wird somit auf der Höhe der Beringstraße von der Linie des nördlichen Polarkreises durchschnitten.
Wenn man die Karte ein wenig aufmerksam betrachtet, so erkennt man deutlich, daß die Küste ein Profil von orientalischem Typus bildet. Die Stirne entwickelt sich zwischen der Barrow-Spitze und Cap Lisburn; die Augenhöhle wird vom Kotzebue-Sund, die Nase vom Prince-of-Wales-Cap, der Mund vom Norton-Sund und der traditionelle Spitzbart von der Halbinsel Alaska dargestellt, an welch letztere sich die in den Stillen Ocean hinausgestreuten Alëuten-Inseln reihen; der Umriß des Kopfes aber erscheint durch die verlängerten Höhenzüge des Ranges markiert, deren letzte Abhänge sich ins Eismeer herabsenken.
Dieses Land sollte die Belle-Roulotte in einer schrägen Ausdehnung von sechshundert Meilen durchreisen.
Selbstverständlich hatte Jean seine Berge, seine Flüsse, die Anlage des Küstengebietes, den ganzen Weg, den man einschlagen sollte, sorgfältig auf der Karte studiert. Er hatte sogar eine kleine Vorlesung darüber gehalten, welcher die Familie mit gespanntem Interesse gefolgt war.
Dank seinen Bemühungen wußten alle – sogar Clou –, daß diese im äußersten Nordwesten des amerikanischen Festlandes gelegene Gegend zuerst von den Russen, dann von dem Franzosen Layerouse und dem Engländer Vancouver, endlich von dem Amerikaner Mac Clure gelegentlich seiner Expedition zur Aufsuchung des Sir John Franklin besucht worden war.[74]
In der That war dieselbe, dank den Reisen Frederic Whimpers und Oberst Bulxleys, teilweise schon im Jahre 1865 bekannt, als man davon sprach, ein unterseeisches Kabel zwischen der alten und der neuen Welt durch die Beringstraße zu ziehen. Vor jener Epoche war die alaskische Provinz meist nur von den Agenten der mit Pelz- und Kürschnerwaren handelnden Geschäftshäuser bereist worden.[75]
Da tauchte die berühmte Doktrin Monroes wieder in der internationalen Politik auf, nach welcher ganz Amerika ausschließlich den Amerikanern gehören sollte. Wenn die großbritannischen Kolonien, Kolumbia und die Dominion, erst in einer mehr oder minder fernen Zukunft in den Besitz der Union gelangen konnten, so würde Rußland sich doch vielleicht dazu verstehen, Alaska, nämlich ein Gebiet von fünfundvierzigtausend Quadratmeilen, an sie abzutreten. So wurden denn der moskowitischen Regierung sehr ernstgemeinte Anträge in diesem Sinne gestellt.
In den Vereinigen Staaten hatte man anfangs ein wenig über den Staatssekretär Herrn Steward gespöttelt, als er sich anmaßte, Walrus-Sia, das »Robbenland«, erwerben zu wollen, von dem man nicht recht wußte, was die Republik damit anfangen solle. Aber Herr Steward beharrte mit echtem Yankee-Starrsinn, und im Jahre 1867 war die Sache bereits sehr weit gediehen. Wenn der Vertrag zwischen Amerika und Rußland noch nicht unterzeichnet war, so mußte er es in kürzester Frist werden.
Es war am Abend des einunddreißigsten Mai, als die Familie Cascabel jenseits der Grenze bei einer Gruppe großer Bäume Halt gemacht hatte. Hier befand die Belle-Roulotte sich in Alaska, auf durchaus russischem Gebiete und nicht mehr auf dem Boden von Britisch-Kolumbia. Herr Cascabel konnte in dieser Hinsicht beruhigt sein.
Er hatte denn auch seine gute Laune wiedererlangt, und das in so hohem Grade, daß alle die Seinigen davon angesteckt wurden. Jetzt würde ihr Weg bis ins europäische Rußland hinein nur mehr durch moskowitisches Gebiet führen. Alaska oder Sibirien, standen diese weiten Länderstrecken doch unter der Herrschaft des Zars!
Das war ein fröhliches Nachtmahl! Jean hatte einen großen und fetten Hasen geschossen, den Wagram im Gehölze aufgestöbert hatte. Einen echt russischen Hafen, wenn's gefällig ist!
»Und wir wollen eine gute Flasche trinken!« sagte Herr Cascabel. »Beim Himmel! diesseits der Grenze atmet sich's freier. Das ist amerikanische Luft, mit einer Beimischung von russischer Luft. Zieht sie in vollen Zügen ein, Kinder!... Geniert euch nicht!... Es ist genug da für alle – sogar für Clou, trotz seiner ellenlangen Nase. Uf!... Während unserer fünfwöchentlichen Reise durch jenes verwünschte Kolumbien bin ich beinahe erstickt!«
Als das Nachtmahl beendet und der letzte Tropfen der guten Flasche getrunken war, zog ein jeder sich in seine Abteilung und auf sein Lager zurück. Die Nacht verging sehr ruhig. Sie wurde weder durch das Nahen schädlicher Tiere, noch durch das Erscheinen wandernder Indianer gestört. Am folgenden Morgen hatten Pferde und Hunde vollkommen von ihren Anstrengungen ausgeruht.[76]
Bei Tagesanbruch war alles in Bewegung und die Gäste des wirtlichen Rußland, »dieser Schwester Frankreichs«, wie Herr Cascabel sagte, rüsteten sich zur Weiterfahrt. Das dauerte nicht lange. Kurz vor sechs Uhr morgens bewegte die Belle-Roulotte sich in nordwestlicher Richtung vorwärts, um den Simpsonfluß zu erreichen, über den man leicht mittelst Fähre gelangen würde.
Die Spitze, welche Alaska nach Süden ausstreckt, ist ein schmaler, unter dem allgemeinen Namen Thlinkithen bekannter Küstenstreif, längs dessen sich eine Anzahl Inseln oder Inselgruppen hinzieht, wie die Prince-of-Wales-, die Crooper-, die Kuju-, die Baranow- oder Sitka-Insel u. a. mehr. Auf der letztgenannten Insel liegt die Hauptstadt von Russisch-Amerika, die auch den Namen Neu-Archangel führt. Einmal in Sitka angelangt, gedachte Herr Cascabel einen mehrtägigen Halt zu machen, erstens um sich auszuruhen, und zweitens um sich auf die Beendung jenes ersten Teiles seiner Reise vorzubereiten, welcher die Beringstraße zum Ziel hatte.
Der Weg nach Sitka führte längs des Küstengebirges über einen kapriciös zerklüfteten Landstreifen.
Herr Cascabel brach denn auch auf, aber bei seinen ersten Schritten auf alaskischem Boden stellte sich ihm ein Hindernis entgegen, und dieses Hindernis schien unüberwindlich zu sein.
Das wirtliche Rußland, die Schwester Frankreichs, schien nicht geneigt, jene französischen Brüder, aus denen die Familie Cascabel bestand, gastfreundlich aufzunehmen.
Rußland trat ihnen nämlich in der Person dreier Grenzwächter entgegen, kräftiger Typen mit großen Bärten, starken Köpfen und aufgestülpten Nasen, von kalmückenhastem Aussehen, in die dunkle moskowitische Uniform gekleidet und mit jenen flachen Kappen versehen, welche so vielen Millionen Menschen heilsamen Respekt einflößen.
Auf ein Zeichen des Anführers stand die Belle-Roulotte still und Clou, der das Gespann führte, rief seinen Gönner herbei.
Herr Cascabel erschien an der Thür der ersten Abteilung, gefolgt von seinen Söhnen und seiner Frau. Sie stiegen alle aus, ein wenig beunruhigt durch die Uniformen.
»Ihre Pässe?« fragte der Beamte auf russisch – eine Sprache, welche Herr Cascabel unter diesen Umständen nur zu gut verstand.
»Pässe?« wiederholte er.
»Ja! Es ist nicht gestattet, die Besitzungen des Zars ohne Pässe zu betreten.«
»Aber wir haben keine, mein lieber Herr,« erwiderte Herr Cascabel höflich.[77]
»Dann werden Sie nicht weiterfahren!«
Das war so kurz und deutlich, wie wenn man einem lästigen Besucher die Thür vor der Nase zumacht.
Herr Cascabel verzog das Gesicht. Er begriff, wie streng die Vorschriften der moskowitischen Regierung sind und er sah ein, daß es hier schwerlich zu einem Vergleiche kommen werde. Es war wirklich ein unglaubliches Mißgeschick, diesen Beamten so dicht an der Grenze begegnet zu sein.
Cornelia und Jean warteten sehr besorgt auf das Ergebnis des Zwiegespräches, von dem die Beendigung ihrer Reise abhing.
»Wackere Moskowiten,« sagte Herr Cascabel, seine Stimmmittel und Gesten entfaltend, um seiner Suada größeren Nachdruck zu verleihen; »wir sind Franzosen und reisen zu unserem Vergnügen, ja ich kann sagen, auch zum Vergnügen anderer Leute, insbesondere der edlen Bojaren, wenn sie uns mit ihrer Gegenwart beehren wollen!... Wir glaubten, man bedürfe keiner Papiere, um den Grund und Boden Sr. Majestät des Zars, des Kaisers aller Reußen, zu betreten...«
»Ohne besondere Erlaubnis,« antwortete man ihm, »ist noch kein Mensch über die russische Grenze gekommen!«
»Könnte es nicht doch einmal geschehen... ein einziges kleines Mal?« versetzte Herr Cascabel mit möglichst einschmeichelnder Stimme.
»Nein,« antwortete der Beamte steif und trocken. »Und darum.... zurück!... ohne weiteres!«
»Aber wo kann man sich denn schließlich Pässe verschaffen?« fragte Herr Cascabel.
»Das ist Ihre Sache.«
»Lassen Sie uns nach Sitka gehen! Dort werden wir durch Vermittlung des französischen Konsuls...«
»In Sitka giebt's keinen französischen Konsul. Und übrigens, wo kommen Sie her?«
»Von Sakramento.«
»Nun, dann hätten Sie sich in Sakramento mit Pässen versehen sollen... Hier reden Sie umsonst.«
»Nicht doch!« versetzte Herr Cascabel. »Wir befinden uns auf der Rückreise nach Europa...«
»Nach Europa?... auf diesem Wege?...«
Herr Cascabel begriff, daß das ihn besonders verdächtig machen mußte; denn es war doch etwas ungewöhnlich, auf diesem Wege nach Europa zurückzukehren.
»Ja...« fügte er hinzu, »gewisse Umstände haben uns gezwungen, diesen Umweg zu machen...«[78]
»Gleichviel!« sagte der Beamte. »Ohne Paß reist man nicht durch russisches Gebiet.«
»Wenn es sich nur um die Zahlung von Gebühren handelt,« bemerkte Herr Cascabel mit bedeutsamem Augenzwinkern, »so können wir uns doch vielleicht einigen...«[79]
Aber die Einigung schien selbst unter diesen Bedingungen nicht zustande kommen zu sollen.
»Wackere Moskowiten!« rief Herr Cascabel in heller Verzweiflung, »ist es denn möglich, daß ihr niemals von der Familie Cascabel gehört habt?«
Er betonte diese Worte, als ob die Familie Cascabel auf einer Stufe mit der Familie Romanow stände!
Aber auch das blieb wirkungslos. Man mußte kehrt machen und zurückfahren. Die Beamten trieben ihre strenge und unerbittliche Pflichterfüllung sogar soweit, daß sie die Belle-Roulotte über die Grenze geleiteten und ihren Bewohnern die formelle Weisung erteilten, dieselbe nicht mehr zu überschreiten. Demzufolge sah Herr Cascabel sich in sehr übler Laune wieder auf britisch-kolumbischem Gebiete. Man wird zugeben, daß das eine unangenehme und dazu äußerst beunruhigende Lage war. Sämtliche Pläne waren über den Haufen geworfen. Der mit so vieler Begeisterung eingeschlagene Weg mußte aufgegeben werden. Die Reise durch den Westen, die Rückkehr nach Europa über Sibirien wurde durch das Fehlen von Pässen unausführbar. Allerdings konnte man auf die bisherige Art durch den Far West nach Newyork reisen. Aber wie sollte man ohne Paketboot über den Atlantischen Ocean gelangen, und wie sollte man sich ohne Geld auf einem Paketboote einschiffen?
Andererseits konnte man nicht recht hoffen, die zu einer solchen Ausgabe nötige Summe unterwegs zu verdienen. Und wieviel Zeit man dazu gebrauchen würde! Die Familie Cascabel – warum sollte man's leugnen?– war nichts neues mehr in den Vereinigten Staaten.
Seit zwanzig Jahren gab es kaum eine Stadt oder einen Marktflecken längs der Geleise des Great Trunk, welche sie nicht schon ausgebeutet hätte. Jetzt würde sie nicht einmal so viele Cents einheimsen, wie sie früher Dollars geerntet. Nein! in östlicher Richtung harrten ihrer endlose, vielleicht jahrelange Verzögerungen, bevor sie es ermöglichen würde, sich nach Europa einzuschiffen. Man mußte um jeden Preis eine Kombination ersinnen, welche der Belle-Roulotte gestattete, Sitka zu erreichen. Das dachten, das sagten die Mitglieder dieser interessanten Familie, als die drei Beamten sie ihren trüben Erwägungen überlassen hatten.
»Schöne Aussichten!« seufzte Cornelia kopfschüttelnd.
»Oder eigentlich keine Aussichten,« versetzte Herr Cascabel. »Es ist rein, als ob die Welt mit Brettern vernagelt wäre!«
Geh, alter Kämpfer, Held der Arenen! Wird es dir wirklich an Mitteln fehlen, das Geschick zu besiegen? Wirst du dich vom Unglück beugen lassen? Wirst du, ein in allen Pfiffen und Kniffen bewanderter Gaukler, dich nicht jederzeit aus der Klemme zu ziehen wissen? Bist du mit deiner Weisheit zu Ende? Wird deine so fruchtbare Phantasie keinen Ausweg finden?[80]
»Cäsar,« sagte Cornelia, »da diese verwünschten Grenzwächter gerade an Ort und Stelle sein mußten, um uns den Weg abzuschneiden, so laß uns versuchen, uns an ihren Vorgesetzten zu wenden...«
»An ihren Vorgesetzten!« rief Herr Cascabel. »Ihr Vorgesetzter ist der Gouverneur von Alaska, irgend ein russischer Oberst, ebenso störrig wie diese Menschen, der uns einfach zum Teufel schicken wird!«
»Überdies residiert er vermutlich in Sitka,« bemerkte Jean, »und eben dahin läßt man uns nicht gehen.«
»Vielleicht,« meinte Clou-de-Girofle ganz vernünftig, würden die Polizisten sich nicht weigern, einen von uns zu dem Gouverneur zu geleiten...«
»Ei! Clou hat recht,« antwortete Herr Cascabel. »Das ist ein vortrefflicher Einfall...«
»Wenn es nicht etwa ein sehr schlechter ist,« fügte Clou mit seiner gewohnten Verwahrungsformel hinzu.
»Wir sollten es versuchen, bevor wir den Rückweg antreten,« sagte Jean; »und wenn es dir recht ist, Vater, so will ich...«
»Nein, es wird besser sein, wenn ich selber gehe,« erwiderte Herr Cascabel. »Ist es weit von der Grenze bis nach Sitka?«
»Etwa hundert Meilen,« sagte Jean.
»Nun, binnen zehn Tagen kann ich in unser Lager zurückgekehrt sein. Wir wollen bis morgen warten und dann unser Glück versuchen.«
Am folgenden Tage machte Herr Cascabel sich auf, um die Grenzwächter zu suchen. Es kostete ihm nicht viel Zeit oder Mühe, mit ihnen zusammenzutreffen, da sie in der Nähe der Belle-Roulotte auf der Lauer geblieben waren.
»Sie sind es?« rief man ihm drohend entgegen.
»Ja, ich!« antwortete Herr Cascabel mit seinem angenehmsten Lächeln.
Und mit allen möglichen, an die Adresse der moskowitischen Verwaltung gerichteten Artigkeiten gab er sein Verlangen kund, zu Sr. Excellenz dem Gouverneur von Alaska geführt zu werden. Er erbot sich, die Reiseunkosten des »verehrlichen Beamten«, der ihm gütigst das Geleite geben wolle, zu bezahlen, und verstieg sich sogar zu Andeutungen betreffs einer hübschen Gratifikation in klingender Münze für den großmütigen und opferwilligen Mann, der... u. s. w.
Der Versuch schlug fehl. Die Aussicht auf eine hübsche Gratifikation machte keinen Eindruck. Es ist wahrscheinlich, daß die Beamten, eigensinnig wie Zollbeamte und Grenzwächter es zu sein pflegen, dies beharrliche Verlangen, die alaskische Grenze zu überschreiten, äußerst verdächtig zu finden begannen. Einer von ihnen bedeutete ihm, daß er augenblicklich zurückgehen müsse, und fügte hinzu:
»Wenn wir Sie nochmals auf russischem Gebiete antreffen, so wird man[81] Sie nicht nach Sitka, sondern ins nächste Fort bringen. Und wer einmal dort ist, der weiß nie, wie oder wann er wieder herauskommt!«
Herr Cascabel wurde, nicht ohne einige Rippenstöße, unverzüglich zur Belle-Roulotte zurückgebracht, wo seine niedergeschlagene Miene das Mißlingen seines Versuches verkündete.
So sollte die rollende Wohnung der Cascabels sich denn jetzt in eine feststehende verwandeln? Die Barke, welche den Gaukler und sein Vermögen trug, sollte an der kolumbo-alaskischen Grenze stecken bleiben, wie ein Schiff, welches die ebbende Meerflut inmitten von Felsen auf dem Trockenen zurückläßt? In der That, das stand nur zu sehr zu befürchten.
Wie traurig die folgenden Tage waren, während deren die Familie zu keinem Entschlusse gelangen konnte!
Glücklicherweise fehlte es nicht an Lebensmitteln; man besaß noch einen reichlichen Vorrat von Konserven, den man übrigens in Sitka zu erneuern gedachte. Dann gab es auch erstaunlich viel Wild in der Umgegend. Nur trugen Jean und Wagram die größte Sorge, sich nicht über die kolumbische Grenze hinauszuwagen. Der junge Bursche wäre schwerlich mit der Konfiskation seiner Flinte und einer Geldstrafe zu gunsten des moskowitischen Fiskus davongekommen.
Indessen hatte sich des Herrn Cascabel und der Seinigen eine tiefe Niedergeschlagenheit bemächtigt. Sogar die Tiere schienen davon angesteckt zu sein. Jako plapperte weniger als sonst. Die Hunde zogen den Schweif ein und stießen langgezogenes, ängstliches Gebell aus. John Bull erging sich nicht mehr in Verrenkungen und Grimassen. Nur Vermout und Gladiator fanden sich bereitwillig in die Situation, da sie nichts anderes zu thun hatten, als das fette, frische Gras der umliegenden Ebene abzuweiden.
»Man muß aber doch einen Entschluß fassen!« sagte Herr Cascabel mehrmals, indem er die Arme kreuzte.
Allerdings; aber welchen'?... Welchen?... Das hätte Herrn Cascabel nicht in Verlegenheit setzen sollen; denn, um die Wahrheit zu sagen, er hatte keine Wahl: er mußte zurückgehen, da er nicht vorwärts gehen durfte. Die Reise nach Westen, die man so resolut unternommen hatte, aufgeben! Da mußte man den verwünschten Boden von Britisch-Kolumbia nochmals passieren und dann die Prairien des Far West durchziehen, um die Küste des Atlantischen Oceans zu erreichen. Und was würde man machen, wenn man sich nun in New-York befand? Vielleicht würden ein paar mildthätige Seelen eine Subskription eröffnen, um die Repatriirung der Familie zu ermöglichen? Welche Demütigung für diese braven Leute, die stets von ihrer Arbeit gelebt hatten, sich zum Empfangen eines Almosens zu erniedrigen! Ah! die elenden Schufte die ihnen in den Pässen der Sierra Nevada ihr kleines Vermögen gestohlen![82]
»Wenn die nicht in Amerika gehenkt oder in Spanien garrottiert oder in Frankreich guillotiniert oder in der Türkei gepfählt werden,« sagte Herr Cascabel öfters, »so giebt es keine Gerechtigkeit mehr auf Erden!« Endlich faßte er einen Entschluß.
»Morgen brechen wir auf!« sagte er am Abend des vierten Juni. »Wir kehren nach Sakramento zurück, und dann...«
Er beendete seinen Satz nicht. In Sakramento würde man weitersehen. Im übrigen war alles zur Abreise bereit. Man brauchte bloß die Pferde anzuspannen und südwärts zu lenken.
Jener letzte Abend an der Grenze von Alaska war noch trauriger. Jedermann hielt sich stumm in seinem Winkel. Die Nacht war stockfinster. Schwere formlose Wolken furchten den Himmel, treibenden Eisschollen gleich, die eine starke Brise gen Osten jagte. Der Blick vermochte an keinem Sterne zu haften und die Mondsichel war kurz zuvor hinter den hohen Bergen am Horizont erloschen.
Es war gegen neun Uhr, als Herr Cascabel seinem Personal den Befehl zum Schlafengehen erteilte. Am folgenden Tage würde man beim ersten Morgengrauen aufbrechen. Die Belle-Roulotte würde auf dem Wege zurückkehren, auf dem sie von Sakramento gekommen und der auch ohne Führer leicht zu finden war. Sobald man die Quellen des Fraser erreichte, brauchte man nur das Thal desselben bis an die Grenze des Territoriums von Washington zu verfolgen.
Nachdem er den beiden Hunden gute Nacht gewünscht, schickte Clou sich eben an, die Thür des äußersten Raumes zu schließen, als ein Knall aus geringer Entfernung herüberdröhnte.
»Das tönt wie ein Schuß!« rief Herr Cascabel.
»Ja... man hat geschossen...« antwortete Jean.
»Vermutlich irgend ein Jäger...« meinte Cornelia.
»Ein Jäger... in dieser finstern Nacht?...« warf Jean ein. »Das ist nicht recht wahrscheinlich.«
Da krachte ein zweiter Schuß und Rufe schollen aus dem Dunkel.
Buchempfehlung
In Paris ergötzt sich am 14. Juli 1789 ein adeliges Publikum an einer primitiven Schaupielinszenierung, die ihm suggeriert, »unter dem gefährlichsten Gesindel von Paris zu sitzen«. Als der reale Aufruhr der Revolution die Straßen von Paris erfasst, verschwimmen die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit. Für Schnitzler ungewöhnlich montiert der Autor im »grünen Kakadu« die Ebenen von Illusion und Wiklichkeit vor einer historischen Kulisse.
38 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro